Erste Reaktionen auf das britische EU-Referendum
Das britische Votum für einen Austritt aus der Europäischen Union wirft viele Fragen auf: Wie wird die britische Regierung in den nächsten Tagen und Monaten vorgehen? Welche Konsequenzen sind im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Zusammenarbeit in Außen- und Sicherheitsfragen zu erwarten? Wie reagiert die europäische Politik auf die britische Entscheidung? Was bedeutet der Brexit für den Zusammenhalt der EU und den Umgang mit euroskeptischen Bewegungen in ganz Europa? (Unter dem Text finden Sie auch eine Audio-Aufzeichnung der Diskussion.)
Elmar Brok, MEP, Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments:
„Ich denke, dass wir uns gestern Abend in Brüssel auf drei Worte geeinigt haben: ‚Gefasst und standfest‘. Standfest sein bedeutet: Out is Out. Wir nehmen das Votum der britischen Bürger ernst“, so Elmar Brok. Er erinnerte daran, dass nach dem Aktivieren von Artikel 50 das Vereinigte Königreich „als Drittstaat verhandeln muss, nicht als Mitglied der Europäischen Union“. Sollte das Vereinigte Königreich dem norwegischen oder eidgenössischen Modell folgen wollen, so müsste es in Zukunft „die gesamten Binnenmarktregeln akzeptieren, ohne irgendwie geartete Entscheidungsrechte. Sie werden alle Regeln befolgen müssen, ohne Opt-Out-Möglichkeit.“
„Wir befinden uns in einer Situation – in Europa wie in den Vereinigten Staaten –, in der die Glaubwürdigkeit der Eliten komplett zusammengebrochen ist, auf allen politischen Ebenen. Dies gilt als Warnung an alle Regierungen: Wenn Sie dem Volk erzählen, dass das, was man nicht selbst lösen kann, Brüssels Schuld ist, dann wird das Volk dies auch irgendwann glauben. Dieser taktische Opportunismus vieler nationaler Regierungen wird dazu führen, dass wir unseren Einfluss verlieren werden, und das auf bittere Art und Weise.“
Angesichts der Tatsache, dass gerade Ältere den Austritt wählten, während Jüngere sich für einen Verbleib in der Union aussprachen, sagte Brok, dass „wir die Tür aufhalten sollten“, falls eine zukünftige Generation die Beziehung zur EU grundlegend würde überdenken wollen.
Um der Wahrnehmung eines zu dominanten Deutschlands in der Europäischen Union entgegenzuwirken, brauche es nun das vereinte Engagement von vier Ländern, die gemeinsam Verantwortung übernehmen sollten: Frankreich, Deutschland, Italien und Polen. „Wir brauchen ein Europa, dass in der Lage ist zu liefern, was die Bürger wollen … Was wir von den Bürgern hören ist, dass Europa eben nicht liefert – ob in der Migration, der Terrorbekämpfung oder in seiner Verteidigungsfähigkeit.“ Jedoch seien diese Fragen im Rahmen der derzeitigen Verträge lösbar.
Sarah Raine, Consulting Senior Fellow for Geopolitics and Strategy, International Institute for Strategic Studies (IISS), London; Non-Resident Transatlantic Fellow, German Marshall Fund of the United States Berlin Office:
„Ich bin niedergeschlagen angesichts dieses Ergebnisses und bekümmert, was dieser Ausgang für mein Land bedeutet. Nicht nur das Vereinigte Königreich ist mit einem Mal sehr viel weniger vereint; dasselbe gilt natürlich auch für die Europäische Union. … Es handelt sich nicht nur um eine Entscheidung gegen Brüssel und Bürokratie, sondern auch gegen Eliten und das Establishment. Dieser Faktor findet auch außerhalb des Vereinigten Königreichs Resonanz, und dass nicht nur mit Blick auf die Wahlen, die nächstes Jahr in Frankreich stattfinden. … Zwar besagt ein etwas strapaziertes chinesisches Sprichwort, dass jede Krise auch Chancen bereithält. Doch ich glaube, dass es in dieser Krise sehr schwer sein wird, irgendeine Chance zu sehen.“
Raine skizzierte die außen- und sicherheitspolitischen Implikationen des Votums: „Auch wenn diese Situation innenpolitisch und auf EU-Ebene vieles aus den Angeln hebt, ist die Lage bezüglich der Außen- und Sicherheitspolitik wahrscheinlich weniger turbulent. Ich denke, dass sich [das Vereinigte Königreich] in der Außen- und Sicherheitspolitik bemühen wird, eine rückversichernde und somit beschwichtigende Haltung zu demonstrieren.“
„Frankreich wird sich nun stärker in seiner verteidigungspolitischen Zusammenarbeit mit Deutschland engagieren. Ich würde [vonseiten des Vereinigten Königreichs] eine Bekräftigung seiner NATO-Bindung erwarten, langfristig vielleicht sogar die Möglichkeit einer Art Status als Drittstaat, der zu ausgewählten Einsätzen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) beitragen könnte. … Kurzfristig wird dem kommenden NATO-Gipfel ein etwas anderer Rahmen gegeben werden, um zu unterstreichen, wie notwendig gerade jetzt die Einigkeit der Verbündeten ist, trotz Differenzen.“
Zudem sollte reflektiert werden, ob der Grundsatz „Out is Out“ absolut gültig sei. Besteht noch Raum für mögliche Kompromisse? Man müsse nicht nur bezüglich der gemeinsamen Wirtschaftsinteressen pragmatisch sein, sondern auch wegen der nach wie vor bestehenden gemeinsamen Werte. Wie könnten bestehende Beziehungen auf bilateralem Wege geschützt werden? „Wie wird die EU die verständliche Notwendigkeit, ein Exempel zu statuieren, mit der pragmatischeren Erfordernis ausbalancieren, produktive bilaterale Beziehungen aufzubauen?“
Nicolai von Ondarza, Stellvertretender Forschungsgruppenleiter EU/Europa, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP):
Für heute, so Nicolai von Ondarza, hätten die Briten „ihren Pragmatismus aufgegeben.“ Aus dem Referendum „ergeben sich eine Menge Fragen, gerade weil die Briten keinen vorbereiteten Plan haben, was im Falle eines Austritts zu tun ist.“ Dies stehe im Gegensatz zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum vor zwei Jahren, als die Scottish National Party bereits ein 200-seitiges Konzept vorgelegt hatte. „Wir haben nichts dergleichen von der Leave-Kampagne, außer das Gerede vom ‚Dirty Brexit‘ und dem Artikel 50. Es gibt keine klare Vorstellung, welche Maßnahmen das Vereinigte Königreich jetzt ergreifen möchte.“
Bevor eine Austrittsvereinbarung ausgehandelt ist, bleibe Großbritannien ein Mitglied der EU, mit allen Rechten und Pflichten. „Auch wenn [Nigel] Farage vom ‚Britischen Unabhängigkeitstag‘ spricht – es wird noch eine lange Zeit dauern bis das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen haben wird.“ Offen bleibe die Frage, wann die britische Regierung den Artikel 50 auslöse. „Das Referendum ist rechtlich nicht bindend … Es gibt keine Vorschrift im britischen EU-Referendumsgesetz, welche die Regierung oder das House of Commons bindet, den Artikel 50 zu aktivieren. Dies liegt komplett in der Hand der Regierung.“
Die Versprechen der Brexiter an die britische Wählerschaft nannte von Ondarza „blühende Landschaften“ – „was man auch nur versprechen kann, sie versprachen es“. Daraus folge nun, dass die extrem euroskeptischen britischen Medien wie The Sun und The Daily Mail, die sich für den Brexit einsetzten, die Regierung bedrängen werden, in den EU-Verhandlungen hart aufzutreten und versprochene Reformen so bald wie möglich umzusetzen. Dies sei jedoch nicht möglich, solange das Vereinigte Königreich noch EU-Mitglied sei.
Was letztendlich in der Austrittsvereinbarung stehen werde, hänge auch von einer grundlegenden strategischen Entscheidung Deutschlands ab, so Ondarza. Die Vereinbarung umfasse nicht automatisch die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen. Die vorherrschende juristische Meinung sei, dass es sich „eigentlich um zwei Vereinbarungen“ handele: Eine, die „lediglich die kurzfristigen Fragen umfasst“ (etwa, was mit EU-Bürgern im Vereinigten Königreich und mit Briten in anderen EU-Ländern geschieht); eine zweite, größere Vereinbarung werde sich mit den „komplizierten wirtschaftlichen Angelegenheiten“ und neuen bilateralen vertraglichen Grundlagen beschäftigen.
Welche Beziehung zum Gemeinsamen Markt strebt das Vereinigte Königreich an? Jede britische Regierung würde einen gewissen Zugang bewahren wollen; „doch aus Brüssel hören wir bereits klare Worte – mitunter von Herrn Brok: ‚Out is Out. Leave is Leave.‘ Der Gemeinsame Markt ist das Kronjuwel: Händigen wir es leichtfertig aus, dient das anderen Ländern als Einladung, ebenfalls auszutreten. Ich denke also, dass die Verhandlungen sehr, sehr hart werden.“
„Für Deutschland ist die Kernfrage: Wollen wir diese beiden Vereinbarungen im Tandem verhandeln, wie es die Briten wahrscheinlich möchten? Oder wollen wir sie komplett voneinander getrennt halten, weil die Verhandlung des ersten Pakets so viel leichter ist, und weil das Vereinigte Königreich so unter größerem wirtschaftlichen Druck stünde?“ Laut von Ondarza könnte die Verhandlung der zweiten, größeren Vereinbarung „vier, sechs, acht oder sogar noch mehr Jahre dauern“.
Die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten müssen sich einigen, „welche Strategie sie dem Vereinigten Königreich gegenüber anwenden wollen: Wie hart wollen sie ihm gegenüber sein?“ Von Ondarza sprach von unterschiedlichen Wahrnehmungen: Was die EU als „strenge Konditionen“ sehen mag, würde das Vereinigte Königreich als „bestrafend“ auffassen. „Hierin besteht die große Abwägung, die wir treffen müssen.“
Philip Oltermann, Leiter des Berliner Büros von The Guardian & The Observer:
“Nur sehr wenige Leute haben dieses Ergebnis wirklich erwartet“, so Oltermann. „Alles ist nun in der Schwebe.“ Oltermann skizzierte fünf Fragen, die sich nach der Abstimmung stellen. Besonders akut sei, wie das Vereinigte Königreich in der Lage sein werde, die Märkte zu beruhigen und ob gegebenenfalls die Bank of England intervenieren könnte. Zudem stelle sich die Frage, wie und wann Großbritannien Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union aktiviere.
Oltermanns dritte Frage bezog sich auf Schottland, das mehrheitlich für einen Verbleib in der EU votierte. Wie und wann könnten die Schotten ein neues Unabhängigkeitsreferendum anstreben und der EU beitreten? „Tatsächlich war England meist Teil einer Union: Es war Teil des Französisch-Britischen Königreichs, Teil des Empires, Teil der Europäischen Union und Teil Großbritanniens.“ Dies wirft die Frage auf, „ob sich England – und möglicherweise Wales – in den nächsten fünf Jahren plötzlich mit der Situation konfrontiert sieht, wahrhaftig isoliert zu sein, in einem Ausmaß, wie es dieses noch nicht erlebt hat.“
Oltermanns abschließende Frage bezog sich auf die in Großbritannien lebenden EU-Bürger. Michael Gove und Boris Johnson sowie andere Vertreter des Leave-Lagers müssten auf die Ängste zahlreicher EU-Bürger, die teilweise schon seit Jahrzehnten im Vereinigten Königreich lebten, eingehen. „Ich selbst war einer von ihnen. Ich bin Deutscher, habe jedoch 18 Jahre lang in Großbritannien gelebt.“
„Meine größte Sorge ist tatsächlich, dass wir möglicherweise in einem Jahr feststellen werden, dass die Einwanderung nicht nachlässt. In diesem Fall, so denke ich, werden sich UKIP und die Euroskeptiker darauf stürzen und ihre eigene ‚Dolchstoßlegende‘ haben – ihre Geschichte darüber, ‚wie der Wille des Volkes verraten wurde‘. Ich denke, dies wird sogar noch toxischer sein als die Situation, die wir jetzt haben.“
Mit Bezug auf die bevorstehenden Wahlen in den USA sei die Rede von der amerikanischen ‚Post-Wahrheits-Politik‘ gewesen. „Well, Britain has Trumped America“, so Oltermann. „Wir haben nun eine Wahl gesehen, die mithilfe einer Post-Wahrheits-Kampagne gewonnen wurde. Die Konsequenzen für zukünftige britische Wahlen sind beängstigend.“
Dr. Jana Puglierin, Programmleiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen, moderierte die Diskussion. Die Veranstaltung fand auf Englisch statt.
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