Der Triumph von Minsk
Das zweite Minsker Abkommen markiert eine neue Stufe in den diplomatischen Bemühungen Deutschlands, Frankreichs und der EU zu einem Waffenstillstand in der Ostukraine. Die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident haben ihr ganzes politisches Gewicht in die Waagschale gelegt, um die russische Führung und die Separatisten im Osten der Ukraine zu einem Waffenstillstand zu bewegen und eine weitere Eskalation des Konfliktes zu verhindern. Dabei wird deutlich, wie wenige Einflussmöglichkeiten die EU auf Russland und die Situation in der Ostukraine hat, und wie stark sie vom guten Willen Moskaus bei der Stabilisierung der Region abhängt. Russland hat viel mehr Instrumente, um die Ukraine zu destabilisieren und ihre Entwicklung zu beeinflussen, und es benutzt diese Instrumente auch. Die EU-Mitgliedstaaten haben sich noch immer nicht entschieden, ob sie eine Integration und ernsthafte Stabilisierung der Ukraine wirklich wollen.
Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin war es ein Triumph, dass die derzeit mächtigste europäische Politikerin nach Moskau gereist ist, um mit ihm einen Waffenstillstand auszuhandeln. Dabei konnte sich der russische Präsident in einer Reihe von zentralen Punkten durchsetzen, ohne selbst echte Kompromisse machen zu müssen. Bei offenen Fragen konnte Putin jedoch nur verhindern, dass es zu klaren Vereinbarungen kam. So wurden die Separatistenführer durch ihre Anwesenheit in Minsk de facto Teil des Verhandlungsprozesses und damit indirekt anerkannt; es soll Wahlen zur Legitimierung der Führungen in den separatistischen Gebieten geben; und Kiew soll für Sozialleistungen und den Zahlungsverkehr in den beiden separatistischen Regionen verantwortlich sein und diese umfassenden Rechte im Rahmen einer Dezentralisierung des ukrainischen Staates erhalten. Gleichzeitig bleibt jedoch unklar, wo genau die zukünftige Grenze markiert werden wird; wie die Sicherung der ukrainisch-russischen Grenze aussehen wird; wie und mit welcher Besetzung die OSZE das Waffenstillstandsabkommen überwachen wird; und unter welchen Bedingungen die Wahlen in der Ostukraine durchgeführt werden.
Auf dem Weg zu Minsk 3?
Damit ist die russische Regierung ihrem Ziel in Bezug auf die Zukunft der Ukraine ein ganzes Stück näher gekommen, jedoch noch nicht da, wo sie hin will. Minsk 2 ist aus russischer Sicht nur eine Interimslösung auf dem Weg zu einer umfassenden Regulierung im Sinne Russlands. Der Krieg in der Ostukraine schwächt das Reformpotenzial der ukrainischen Führung und verschärft die wirtschaftliche und soziale Situation des Landes. Damit wird die Integration mit der EU und eine Angleichung an deren Standards vorerst verschoben, und das Frustrationspotenzial in der ukrainischen Bevölkerung wächst. Jedoch fehlt bisher eine klare Absage an eine EU- oder NATO-Integration der Ukraine. Gleiches gilt für die Anerkennung der Separatisten als legitime Partner sowie eine unter russischer Einflussnahme durchgeführte Dezentralisierung des Landes. In Putins Brief an den ukrainischen Präsidenten Poroschenko, dem sogenannten Putin-Plan, von Mitte Januar 2015 sind die Bedingungen für eine Befriedung der Ostukraine klar ausgeführt: Vollständige Anerkennung der neuen Demarkationslinie, einseitiger Waffenstillstand und Abzug schwerer Waffen von ukrainischer Seite sowie eine Dezentralisierung des ukrainischen Staates mit weitgehender Autonomie der Separatistengebiete und über diese Einflussmöglichkeiten Russlands auf die zukünftige Kiewer Politik. Ohne eine vollständige Einigung in diesen Punkten wird es keinen Waffenstillstand geben.
Der russische Präsident zielt darauf ab, in weiteren Verhandlungen in Minsk 3 oder 4 am Ende das zu bekommen, was er sich vorstellt. Die EU hat wenig Möglichkeiten, ihm etwas entgegenzusetzen, da sie weder den ökonomischen noch militärischen Druck auf Russland erhöhen möchte und bisher auch nicht dazu bereit ist, eine klare Entscheidung für eine umfassende Stabilisierung der Ukraine zu treffen. Gleichzeitig hat Moskau erkannt, dass das Thema Waffenlieferung an die Ukraine ein enormes Spaltungspotenzial für die transatlantischen Beziehungen birgt, welches zu befördern sich aus russischer Sicht lohnen könnte. Hierin könnte auch einer der nächsten russischen Schachzüge liegen: Neben der weiteren Spaltung der EU über Kreditangebote an die griechische Regierung und günstige Gaslieferungen an Ungarn auch die Entfremdung zwischen Washington und Berlin hinsichtlich eines schwelenden Konfliktes unterhalb der offenen Auseinandersetzung. Putin hätte mit US-amerikanischen Waffenlieferungen genau das erreicht, was er stets propagiert: Eine offizielle Einmischung der USA und die Möglichkeit, bei einer weiteren Eskalation mit Obama auf Augenhöhe über die Zukunft der Ukraine zu verhandeln.
Was tun?
Die Ukraine und die EU werden den Verlust der beiden separatistischen Regionen ebenso akzeptieren müssen wie den der Krim. Dies wird nötig sein, um den Rest der Ukraine zu retten und eine weitere Destabilisierung des Staates zu verhindern. Kiew ist vollständig abhängig vom Verhandlungsgeschick der EU mit und ihrem Druck auf Russland sowie von der Zahlungsbereitschaft des Westens. Weder härtere Sanktionen noch US-amerikanische Waffenlieferungen werden die russische Führung aufhalten. Putin wird die Kosten von Wirtschaftssanktionen tragen und zu jeder Zeit dafür sorgen, dass ein militärisches Gleichgewicht oder eine Überlegenheit der Separatisten herrscht. Die fehlende Entscheidung der EU für eine grundsätzliche Integration der Ukraine und einen Marshallplan zu deren Wiederaufbau gibt Moskau die Möglichkeit, die Kiewer Regierung weiter zu schwächen und vielleicht doch noch in den eigenen Einflussbereich zurückzuholen. Europäische Politiker scheuen die Konsequenzen dieser Realitäten, was die russische Verhandlungsposition weiter stärkt. Nur eine klare Entscheidung für eine EU-Integration der Ukraine mit allen finanziellen und politischen Konsequenzen könnte die Verhandlungsposition der EU verbessern. Wird diese Entscheidung nicht getroffen, wird Moskau die nächsten Schritte und Kompromisse weitgehend diktieren. Damit entsteht in der Nachbarschaft der EU auf Dauer ein schwacher oder zerfallender Staat mit allen sozialen, ökonomischen und sicherheitspolitischen Konsequenzen.
Dieser Text erschien am 23.2.2015 als Gastbeitrag auf ZEIT Online.