Kommentar

18. Juni 2012

Ausweg aus der Eurokrise

Die EU braucht einen Schuldentilgungsfonds

Die Parlamentswahl in Griechenland ist überstanden, die befürchteten Turbulenzen an den Märkten sind ausgeblieben. Aber das verschafft Europa nur eine kurze Atempause. Noch hat die EU keine überzeugende Antwort auf ihre Krise gefunden, ein halbherziges Programm zur Linderung der Symptome folgt auf das nächste. Stattdessen wäre es an der Zeit, auf eine umfassende und langfristige Lösung zu setzen. Ein Entwurf dafür liegt mit dem Schuldentilgungspakt längst vor.

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Mit dem Wahlsieg von François Hollande und dem damit verbundenen Schwenk in der französischen Politik ist die Debatte um das richtige Krisenmanagement nicht einfacher geworden. Gleichzeitig verschärft sich die Situation immer weiter.

Die unterschiedlichen Dimensionen der Krise

Unmittelbare Gefahr droht der Währungsunion wegen der Zuspitzung der Lage vor allem in Griechenland und Spanien. Ein möglicher Austritt Griechenlands ist auch ganz offiziell kein Tabuthema mehr. Im spanischen Bankensektor sind als Folge des Immobilienbooms hohe Verluste entstanden, die einige Banken nicht allein abfangen können. Realwirtschaftliche Stagnation oder Rezession in mehreren Euroländern tun ihr Übriges und führen dazu, dass der Euro immer stärker unter Druck gerät.

Auf lange Sicht sind die hohen Schuldenstände das zentrale Problem. Die Schuldenquote des Euroraums als Ganzes lag schon vor der Insolvenz der Lehman Brothers 2008 bei 70 Prozent, heute liegt sie bei fast 90 Prozent – Tendenz steigend. Zweifel daran, dass die Länder ihre Schulden auf Dauer tragen können, erschweren die Refinanzierung.

Die hohe Zinslast schränkt den staatlichen Handlungsspielraum langfristig ein, vor allem wenn es darum geht, künftigen konjunkturellen Verwerfungen oder Turbulenzen im Finanzsektor entgegenzusteuern. Die Schuldenproblematik ist aber keineswegs ein Thema der fernen Zukunft. Das Fehlen einer klaren Perspektive im Umgang mit der Staatsverschuldung verstärkt die aktuelle Unsicherheit im Finanzsektor und steigert so die Krisendynamik.

Ein Lösungsvorschlag für das Verschuldungsproblem sind gemeinsame Anleihen aller Eurostaaten. Die Unterstützung für solche Eurobonds steigt: François Hollande, Mario Monti, Barack Obama, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und namhafte Ökonomen fordern ihre Einführung. Die deutsche Bundesregierung dagegen lehnt sie zum jetzigen Zeitpunkt kategorisch ab.

Für die Ablehnung gibt es gute Gründe, allen voran die problematische Anreizstruktur, die mit Eurobonds verbunden ist. Wenn Deutschland seinen Widerstand gegen Eurobonds aufrecht erhalten will, braucht es aber einen überzeugenden Gegenentwurf. Bisher ist es der Bundesregierung nicht gelungen, einen solchen vorzuweisen – dabei liegt er längst auf dem Tisch.

Der Schuldentilgungspakt für Europa

In seinem Jahresgutachten 2011/12 beschreibt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung das Konzept eines „Schuldentilgungspakts“. Dieser sieht vor, dass die Staaten der Eurozone einen Teil ihrer Schulden in einen gemeinsamen Fonds auslagern. Hierzu würden sie ihren laufenden Finanzierungsbedarf so lange über den Fonds decken, bis die beim Land selbst verbliebenen Schulden auf 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) abgeschmolzen wären.

Diese Roll-In-Phase würde etwa fünf Jahre dauern. Anschließend dürften keine neuen Schulden mehr in den Fonds ausgelagert werden – die Gesamthöhe wäre also begrenzt. Für die ausgelagerten Schulden wäre vorrangig das auslagernde Land haftbar, bei nachrangiger Haftung aller beteiligten Länder.

Für jedes Land würde zugleich ein Konsolidierungspfad festgelegt, um die ausgelagerten Schulden eigenverantwortlich über einen Zeitraum von 20 bis 25 Jahren zu tilgen. Die Zahlungen für Tilgung und Zinsen würden als konstanter Anteil am BIP festgelegt. Sie würden abgesichert durch einen Aufschlag auf eine nationale Steuer – zum Beispiel die Mehrwert- oder Einkommensteuer –, dessen Aufkommen direkt an den Fonds fließen würde.

Schuldenbremse und Wachstumsstrategie inklusive

Begleitet würde der Fonds von nationalen Schuldenbremsen nach dem Vorbild des Fiskalpakts, deren Einhaltung durch den Europäischen Rechnungshof überprüft werden müsste. Verstöße zögen automatische Strafzahlungen an den Fonds nach sich. Gleichzeitig würde eine mittelfristige Wachstumsstrategie festgelegt, die auch auf Strukturreformen zielte. Würde ein Land in der Anfangsphase deren Umsetzung versäumen, so würde das Roll-In für dieses Land abgebrochen.

Die Haftungsrisiken würden durch teilweise Verpfändung der nationalen Währungsreserven (Devisen, Gold) begrenzt. So soll eine Absicherung der vom Fonds übernommenen Kredite in Höhe von 20 Prozent erreicht werden. Zum Ende der Tilgungsphase würde sich der Fonds automatisch auflösen. Seine Einrichtung wäre damit zeitlich begrenzt.

Insgesamt würde nach Schätzungen des Sachverständigenrates in dem Fonds ein Anleihebestand von 2,3 Billionen Euro auflaufen. Die mit Abstand größten Anteile würden dabei auf Italien (41 Prozent), Deutschland (25) und Frankreich (21) entfallen. Griechenland, Irland und Portugal, die bereits Anpassungsprogramme umsetzen, sind in der Rechnung ausgenommen. Der Anteil Spaniens läge nach dieser Schätzung noch bei vier Prozent.

Allerdings hat das Land inzwischen Hilfen aus den europäischen Rettungsschirmen beantragt. Sollte Spanien das vereinbarte Maximum an EFSF-Mitteln von 100 Milliarden Euro erhalten und diese als Staatsschulden zu verbuchenden Kredite in den Tilgungsfonds auslagern, so würde sich sein prozentualer Anteil auf acht Prozent verdoppeln.

Vor- und Nachteile gemeinsamer Haftung

Die Vergemeinschaftung von Schulden birgt das Risiko, dass sich einzelne Länder nicht an die damit verbundenen Vereinbarungen halten. Dies kann sich in einem Mangel an fiskalischer Disziplin oder dem Verschleppen unpopulärer aber notwendiger Reformen äußern. Um ein solches Verhalten zu verhindern, erlaubt das Konzept des Schuldentilgungspakts für einzelne Länder einen Abbruch der Roll-In-Phase und sieht zudem Strafzahlungen vor. Allerdings ist fraglich, ob ein solcher Abbruch überhaupt praktiziert würde, da er starke Verwerfungen an den Finanzmärkten auslösen könnte. Auch die Wirksamkeit von Strafzahlungen wird bezweifelt, da diese nur nachgelagert wirken. Völlig lückenlos wären die Sanktionsmechanismen also nicht.

Um solche Bedenken zu zerstreuen, ist zunächst ein Automatismus der Strafzahlungen nötig – dies lehren die Erfahrungen aus den Defizitverfahren nach dem Maastricht-Vertrag. Zudem könnten mit der Überwachung des Reformfortschritts durch eine europäische Institution Transparenz hergestellt und Versäumnisse frühzeitig aufgedeckt werden. Erfahrungen mit der konstruktiven Begleitung und Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken hat die EU bereits mit dem „Europäischen Semester“ im Rahmen der Wachstumsstrategie „Europa 2020“ sammeln können.

Refinanzierungskosten gleichen sich an

Der zentrale Effekt, der mit der Einführung des Tilgungsfonds erzielt würde, wäre die Veränderung der Refinanzierungskosten für Staatsschulden. Für Staaten mit hoher Bonität wie Deutschland würden sie steigen. Vor allem verglichen mit der aktuellen Krisensituation, in der Deutschland als „sicherer Hafen“ von besonders niedrigen Zinsen profitiert, lägen die Refinanzierungskosten des Fonds höher. Nimmt man für eine Schätzung die Zinsen auf Anleihen der EFSF als Grundlage, so erscheint ein Zinsunterschied von einem Prozent zwischen dem Fonds und Bundesanleihen realistisch. In diesem Fall ergäbe sich für Deutschland eine zusätzliche jährliche Zinslast von 0,3 Prozent des BIP.

Für Länder mit geringerer Bonität würden die Refinanzierungskosten hingegen schlagartig sinken – wegen der gemeinsamen Haftung und weil für die Anleihen des Fonds aufgrund seines großen Volumens ein sehr liquider Markt entstünde. Angeschlagene Länder könnten ihre Schulden wieder problemlos an den Kapitalmärkten refinanzieren. Die Zinsersparnis könnte direkt in die Tilgung fließen und so die langfristige Konsolidierung erleichtern. Zudem würde das Ausbleiben von Schreckensmeldungen über neue Zinsrekorde zur Beruhigung der Finanzmärkte beitragen, und Verluste auf Staatsanleihen würden aus Bankensicht unwahrscheinlicher. Die Einführung des Schuldentilgungsfonds hätte somit schon in sehr kurzer Zeit positive Effekte.

Dass die Zinsen auf Anleihen des Fonds niedrig bleiben, könnte dadurch unterstützt werden, dass Griechenland, Irland und Portugal nicht am Tilgungsfonds teilnehmen, um dessen Bonität nicht zu belasten. Für diese drei Länder stehen bereits die EFSF bzw. der ESM zur Verfügung. Wenn nun durch den Tilgungsfonds Spanien und Italien aufgefangen würden, bevor sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, wäre auch sichergestellt, dass die vorhandenen Rettungsschirme nicht überlastet werden.

Der Schuldentilgungsfonds, das zeigen diese Beispiele, ist für sich noch keine Patentlösung. Um zu funktionieren, muss er mit anderen Werkzeugen kombiniert werden: mit den Rettungsschirmen, aber auch mit neuen Einrichtungen wie einer europäischen Bankenaufsicht oder einer gemeinsamen Einlagensicherung.

Rechtlich machbar

Als Argument gegen den Tilgungsfonds werden häufig rechtliche Bedenken angeführt. Doch das Konzept könnte zügig und auf rechtlich sicherer Basis umgesetzt werden. Als zwischenstaatliches Abkommen stünde der Fonds außerhalb des Europarechts. Damit würde nicht gegen das Bailout-Verbot verstoßen und eine langwierige Änderung der europäischen Verträge wäre nicht nötig. Auch ein Stopp durch das Bundesverfassungsgericht ist nicht zu erwarten, da im Gegensatz zu Eurobonds die Haftung zeitlich sowie dem Umfang nach begrenzt wäre und parlamentarischer Zustimmung unterläge.

Nicht zuletzt kann das Konzept sehr flexibel ausgestaltet werden. Zwar müssen die vertraglichen Vereinbarungen unverändert bleiben, sobald der Fonds einmal beschlossen ist. Im Vorfeld kann aber variabel festgelegt werden, welches Volumen an Schulden in den Fonds übertragen werden oder wie lange die Tilgungsphase dauern soll.

Kluge Kompromisse statt strenge Mahnungen

Viele der vermeintlichen Lösungen für die Eurokrise verursachen einen Konflikt zwischen kurzfristiger und langfristiger Wirkung. Manche sind auf kurze Sicht sinnvoll, bergen aber große Risiken für die Zukunft, wie verstärkte Anleihekäufe durch die EZB und Eurobonds. Andere wiederum sind langfristig sinnvoll, könnten aber die akuten Krisensymptome verschlimmern; strenge, eigenverantwortliche Sparpolitik ist so ein Fall. Der Schuldentilgungsfonds dagegen könnte über das Element der gemeinsamen Haftung unmittelbar lindernd auf die akuten Krisensymptome wirken und gleichzeitig durch einen verbindlichen und transparenten Konsolidierungspfad langfristig Stabilität sichern.

Deutschland müsste hierbei Zugeständnisse machen und eine höhere Zinslast akzeptieren. Verglichen mit den Risiken, die mit alternativen Maßnahmen oder gar einem Auseinanderbrechen der Währungsunion einhergingen, ist dieser Preis allerdings gering.

Der Schuldentilgungsfonds hat das Potenzial, als kluge Kompromisslösung die Forderungen nach Solidarität einerseits und Austerität andererseits miteinander zu versöhnen. Deutschland bietet er damit die Chance, sich aus der einseitigen Wahrnehmung als strenger Sparmeister zu lösen. Europa als Ganzes ermöglicht er, Vertrauen in seine ökonomische Stabilität und politische Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Mit der Umsetzung des Tilgungsfonds sollte daher schnellstmöglich begonnen werden.

Marius Kokert war Mitarbeiter im Programm Globalisierung und Weltwirtschaft

Bibliografische Angaben

Kokert, Marius. “Ausweg aus der Eurokrise.” June 2012.

DGAPstandpunkt 3, 18. Juni 2012, 4 S.

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