Policy Brief

15. Juni 2023

Zeitschleife statt Zeitenwende

Die Bundeswehr bleibt in der strukturellen Unterfinanzierung
Rueckkehrerappell des Evakuierungsverbandes des Sudan - Einsatzes der Bundeswehr auf dem Fliegerhorst in Wunstorf
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Der historische Anspruch der Zeitenwende und die sich daraus ableitenden militärischen Anforderungen an die Bundeswehr drohen an Geldmangel zu scheitern. Deutschlands bereits ausgehöhlten Streitkräften steht der Rückfall in die alte Lückenplanung bevor. Damit der Schritt zu mehr Nachhaltigkeit bei der militärischen Sicherheit und anderen existenziellen Staatsaufgaben gelingt, sollte Deutschlands Sicherheitslücke in einer auf zehn Jahre angelegten systematischen Anstrengung geschlossen werden - einer Sicherheitsdekade.

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Zentrale Erkenntnisse 

Unter dem Eindruck des größten Landkrieges in Europa seit 75 Jahren steht Deutschland vor einer historischen Herausforderung: seine Verteidigungsfähigkeit wiederherzustellen und damit seinen Verpflichtungen auch gegenüber Europa und der NATO nachzukommen.

Bisher scheitert die Zeitenwende an der noch immer vorherrschenden strukturellen Unterfinanzierung der Bundeswehr. Weder für die alten noch die zukünftigen Aufgaben stellt die deutsche Politik ausreichend und nachhaltig Ressourcen bereit.

Das Bundesverteidigungsministerium sollte mit einem auf zehn Jahre angelegten Stufenplan glaubhaft machen, dass es den Willen hat, die Mängel anzugehen. Das erhöht die Akzeptanz für höhere Ausgaben.

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Staatsversagen und Zeitenwende

Gäbe es den Krieg in der Ukraine nicht, könnte man die derzeitige Debatte um die Finanzierung der deutschen Verteidigung mit einem Schulterzucken kommentieren: Ist es nicht normal, dass nicht genug Geld in der Staatskasse ist? Dass der Verteidigungsminister, genau wie viele seiner Kollegen, für mehr Geld für seine Aufgaben wirbt, aber mit weniger klarkommen muss?

Tatsächlich aber tobt in Europa der größte Krieg seit 75 Jahren. Bundesregierung und Parlament haben als Reaktion auf diese Zeitenwende zugesagt, die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands wiederherzustellen und die Ukraine weitreichend zu unterstützen.

Diese Reaktion ist historisch mit Blick auf drei Faktoren:

  • Dem Ausmaß des vorangegangenen Staatsversagens
  • Der politischen Bedeutung des Gelingens

    oder Scheiterns
  • Der Dimension der Anforderung an Politik

    und Gesellschaft

Das Staatsversagen im Bereich der militärischen Sicherheit: Der deutsche Staat hat einen Auftrag mit Verfassungsrang nicht erfüllt und kann ihn auch auf absehbare Zeit nicht erfüllen. Art 87a des Grundgesetzes verpflichtet den Bund, Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen. Regierungen und Parlamente haben seit dem Ende des Kalten Krieges zwar weiter Streitkräfte unterhalten, diese aber nicht zur Verteidigung befähigt. Damit vernachlässigten sie die Sicherheitsvorsorge. Das ist gegenüber den sicherheitspolitischen Partnern Trittbrettfahrerei, und erhöht, gemäß der Abschreckungslogik, sogar das Kriegsrisiko.

Ein historischer Entscheidungspunkt für die Bundesrepublik und in der Folge für Europa: In der jetzigen Phase entscheidet sich, ob Deutschland die politische und mentale Zeitenwende gelingt und es auch militärisch für die Sicherheit Europas eintritt, oder ob es sich nach einer kurzen Schrecksekunde wieder auf seinen alten Kurs zurückzieht. Diese Entscheidung  hat erhebliche Folgen für Deutschlands Rolle in der EU, der NATO und auf internationaler Ebene. Sie fällt noch dazu in eine Phase, in der die europäische Sicherheitsordnung neugestaltet wird.

Das Ausmaß der Anforderung: Zu einer Wende in der deutschen Verteidigungspolitik wird es nur kommen, wenn Deutschland die enorme Herausforderung der Rekonstitution seiner Armee annimmt. Die Bestandsaufnahme der militärischen Leistungsfähigkeit, die im Zuge der Zeitenwende vorgenommen wurde, dokumentiert das Ausmaß des strukturellen Nichtkönnens. Zwar konnte die Bundeswehr ihre Auslandseinsätze noch bestreiten, aber nur, weil die Bundesregierung die Mandate und damit die Anforderungen selbst bestimmen konnte. Schon die unvorhergesehene Evakuierung aus Afghanistan zeigte Deutschland nicht nur die politischen, sondern auch die militärischen Grenzen auf: Kontrolliert nicht die Bundeswehr, sondern ein Gegner die Einsatzbedingungen, dann sinkt die tatsächliche Leistungsfähigkeit rapide. Der prioritäre Bereich – die Fähigkeit zur Bündnis- und Landesverteidigung durch einen effektiven Beitrag zur NATO wiederherzustellen – kann nur über zehn bis 15 Jahre wieder aufgebaut werden.

Die schlagkräftigste konventionelle Armee Europas

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) schätzt die historische Unterfinanzierung der Bundeswehr gegenüber den NATO-Standards auf mindestens 394 Milliarden Euro. Es geht zwar nicht darum, eine solche Summe aufzuholen, doch die Zahl macht die fiskalische Dimension des Wiederaufbaus der Bundeswehr klar. Aufgrund der drastisch veränderten geostrategischen Lage soll die Bundeswehr wieder, wie zum Ende des Kalten Krieges, die schlagkräftigste konventionelle Armee Europas werden. Um dieses Hauptziel zu erreichen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz zwei Zwischenziele formuliert, die auch von seinem Kabinett und einer Mehrheit im Bundestag bestätigt wurden:

Die Einrichtung eines Sondervermögens (SV) “Bundeswehr”. Dieses soll an drei zentralen Stellen Verbesserungen schaffen:

Ausreichendes Gesamtvolumen im Rüstungshaushalt: Weil der Gesamthaushalt des Verteidigungsministeriums (BMVg), der Einzelplan 14 (EP 14), zu klein war, wurden die eigentlich für Rüstungsinvestitionen vorgesehenen Mittel durch die Kosten für Personal und Betrieb aufgezehrt.

Mehrjährige Finanzierungssicherheit für Investitionen: Die Bundeswehr darf Rüstungsprojekte nur dann planen, wenn Aussicht auf deren Finanzierbarkeit besteht. Diese Planungssicherheit braucht einen Horizont von mehreren Jahren. Zwar wurde der EP14 in den letzten Jahren regelmäßig erhöht. Doch diese Einmalzahlungen waren ein ambivalentes „Geschenk“: Sie kamen zu kurzfristig, um für die Rüstungsplanung eingesetzt zu werden, zumal unsicher war, ob auch im Folgejahr wieder Mittel bereitstehen würden. Das Sondervermögen kann über den Zeitraum bis 2031 gestreckt werden und bietet so eine wesentliche Verbesserung der Planbarkeit.

Schließen der Fähigkeitslücken: Die Höhe der Mittel des Sondervermögens, ihre dezidierte Zuschreibung ausschließlich für Rüstungsprojekte und ihre mehrjährige Laufzeit sollen es ermöglichen, die prioritären Rüstungsprojekte anzugehen, mit denen Deutschland schon seit 2014 bei der NATO im Wort steht.

Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO:

Bundeskanzler Scholz hatte 2022 angekündigt, dass Deutschland von nun an zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben wird. Das hatten die NATO-Staaten zuletzt 2014 vereinbart. Angerechnet werden der reguläre Verteidigungshaushalt, die Ausgaben aus dem Sondervermögen, und ein Anteil von etwa zehn Prozent, der aus den Haushalten anderer Ministerien stammt. Deutschland würde damit zum ersten Mal diese politisch zentrale NATO-Zusage einhalten. Dies stellt einen politischen Wendepunkt dar. Insbesondere die Kanzlerpartei SPD, aber auch die Grünen lehnten es bisher ab, dieser Verpflichtung nachzukommen.

Steigende militärische Ambitionen

Nicht nur mit Blick auf den Input, auch was den Output betrifft – also was mit dem Geld erreicht werden soll –, hat Deutschland sich festgelegt: Es will die leistungsfähigste konventionelle Armee Europas haben. Es sind einige wichtige qualitative Ziele hinzugekommen, die finanzielle Implikationen haben:

  • Die Kaltstartfähigkeit, also die Möglichkeit, sehr schnell eine hohe Kampfkraft bereitzustellen
  • Die volle Einsatzfähigkeit der Bundeswehr insgesamt, nicht nur einzelner Kontingente im

    Auslandseinsatz auf Kosten anderer Truppenteile.

Welche Anforderungen an die Streitkräfte gestellt werden, ist nicht so beliebig, wie es innenpolitisch in den letzten Jahrzehnten vermittelt wurde. Die NATO-Staaten, also Deutschland und seine 30 Verbündeten, haben gemeinsam detailliert festgelegt, was für eine gemeinsame effektive Sicherheitsvorsorge benötigt wird und wer welchen Anteil erbringen soll. Die gemeinsame NATO-Definition militärischer Sicherheit bestimmt sehr weitgehend auch die Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr.

Diese internationalen Anforderungen wandeln sich derzeit. Dazu trägt nicht nur das neue strategische Konzept der NATO bei, sondern auch die beim NATO-Gipfel in Madrid im Juni 2022 formulierten Ziele für ein New Forces Model (NFM). Ihre Ausdifferenzierung im nächsten NATO-Fähigkeitsplanungsprozess wird wahrscheinlich dazu führen, dass die Anforderungen noch ambitionierter ausfallen als bisher. Der Mix von Qualität und Masse, Technologie, schneller Verfügbarkeit, aber auch Streitkräfteorganisation und Resilienz ziviler Infrastruktur werden neu bewertet werden.

Strukturelle Unterfinanzierung

Wie die Bundeswehr noch anspruchsvolleren Anforderungen gerecht werden soll, steht in den Sternen. In der Realität reichen die finanziellen Mittel nach wie vor nicht, um die strukturelle Unterfinanzierung der Streitkräfte zu beenden. Bei seiner Ankündigung klang das Hundert-Milliarden-Sondervermögen zwar nach einem großen Wurf. Doch gemessen an Deutschlands Ambitionen und Verpflichtungen in der NATO war der finanzielle Bedarf in allen Bereichen (Rüstung, Personal, täglicher Betrieb) schon damals höher, auch unabhängig von dem Zwei-Prozent-Ziel. Die hundert Milliarden Euro hätten nur einen Teil des Bedarfes decken können, und auch dies nur im Bereich der Rüstung. Deshalb war von vorneherein klar: Ohne Zuwachs im regulären Verteidigungshaushalt kann Deutschland seine Verteidigungsfähigkeit nicht wieder herstellen. Heute reichen die hundert Milliarden Euro des Sondervermögens nicht einmal mehr aus, um die Fähigkeitslücken gegenüber der NATO zu schließen, für die die Summe gedacht war.

Zum Gesamtbild der finanziellen Ausstattung der Zeitenwende gehört auch, dass der Gesamthaushalt für Verteidigung in der Planung der nächsten Jahre auf 50,1 Milliarden Euro festgeschrieben wurde. Schon in normalen Zeiten verliert der Verteidigungshaushalt pro Jahr etwa zwei bis drei Prozent seiner Kaufkraft. Angesichts der hohen Inflation im Euroraum fällt der Kaufkraftverlust gerade deutlich größer aus. Wenn die Bundesregierung an der bisher festgeschriebenen Budgetobergrenze festhält, werden die steigenden Personalkosten und die Inflation der Betriebskosten den Rüstungshaushalt aufessen, weil sie Vorrang vor neuen Rüstungsinvestitionen haben.

Auch wenn mittlerweile in den Medien über eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben diskutiert wird, bleiben deren Anstieg hinter dem Ziel Inflationsausgleich, geschweige denn der Beendigung der strukturellen Unterfinanzierung, zurück. Selbst durch ein schnelles Ausgeben des Sondervermögens – das seiner Logik widersprechen würde – würde sich das Zwei-Prozent-Ziel nur auf Kosten der Verteidigungsausgaben der nächsten Legislaturperiode erreichen lassen.

Verteilungskampf zwischen den Ministerien

Deutschlands neuer Verteidigungsminister Boris Pistorius hat den Faktor Zeit als Treiber für die Beschaffung priorisiert. Dieser Faktor ist auch deshalb wichtig, weil vom Vorweisen erster Erfolge bei der Beschaffung abhängen dürfte, wieviel Geld das Parlament in den nächsten Jahren für die Verteidigung bereitstellen wird. Die Auseinandersetzungen werden hart werden, denn schon für 2024 droht im EP14 aus den beschriebenen strukturellen Gründen ein Loch, das vom Verteidigungsministerium auf etwa zehn Milliarden Euro beziffert wird. Gleichzeitig lässt die Steuerschätzung für 2024 erwarten, dass es keine Spielräume in Form von nicht bereits verplanten Steuermitteln gibt. Stattdessen fehlen dem Bundeshaushalt insgesamt 20 Milliarden Euro.

Der bereits laufende Verteilungskampf spiegelt sich in der Verzögerung des Regierungsentwurfes für den Haushalt wider. Eine Erhöhung des EP 14 auf Kosten anderer Ministerien stößt auf Widerstand. Allein mit dem Erreichen der bislang vorgesehenen Höhe des EP 14 würde dieser Haushaltstitel höhere Anteile erhalten als in den letzten Jahren – circa 13 Prozent (blaue Linie), während der Anteil zuvor bei durchschnittlich 11 Prozent lag. Würden die Ausgaben die Zielmarke von zwei Prozent des BIP erreichen, stiege der Anteil des EP 14 auf über 20 Prozent des Gesamthaushalts (graue Linie) – ein Wert, der während des Kalten Krieges üblich war.

Hinzu kommt, dass der finanzielle Spielraum des Bundeshaushaltes in den nächsten Jahren eher kleiner wird. Während jährliche Erhöhungen des Verteidigungshaushaltes zwischen 2015 und 2022 in einer ökonomisch positiven Situation möglich waren, sind die politischen Hürden dafür in den nächsten Jahren um einiges höher, zumindest, wenn weiterhin die Schuldengrenze eingehalten werden soll. Das liegt vor allem daran, dass die Zinszahlungen für die Bundesschuld wesentlich höher ausfallen werden als bisher.

Risiko: Zeitschleife statt Zeitenwende

Der Widerspruch zwischen den Zielen und den Mitteln, die Deutschland für die Bundeswehr vorgesehen hat, droht in den kommenden Jahren immer größer zu werden. Statt der oft gefürchteten Verschwendung durch zu viel bereitgestelltes Geld droht ein Verlust der Investitionen bereits ausgegebener oder verplanter Steuergelder, weil Projekte nicht wie geplant beendet werden können. Es droht der Rückfall in alte Routinen: Beschaffungspläne werden auf unbestimmte Zeit gestreckt,  eine geringere Zahl von Einheiten für höhere Preise beschafft, oder es kommt sogar zum Abbruch oder dem Auslaufen von Projekten. Wenn sich allerdings die jetzt begonnenen Investitionen in dieser Weise als wenig nachhaltig herausstellen, beeinträchtigt das die militärische Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und damit die Sicherheit Deutschlands und Europas.

Vor dem Hintergrund der Fähigkeiten, die Deutschland seinen Verbündeten in der NATO zugesagt hat – insbesondere der Kaltstartfähigkeit –, kann hier von einer ausgehöhlten Armee gesprochen werden. Das sind Streitkräfte, die auf dem Papier einsatzbereit aussehen, allerdings bei genauerem Hinsehen Defizite in Personal, Ausrüstung, Einsatzbereitschaft oder Training aufweisen. Sowohl Personalmangel als auch Ausrüstungs- und Einsatzbereitschaftsdefizite in der Bundeswehr sind kein Geheimnis.

Handlungsoptionen

Sondervermögen flexibler einsetzen

Kurzfristig könnte ein Teil der Finanzierungsprobleme im Bereich der Verteidigung dadurch gelöst werden, dass ein Teil des Sondervermögens auch für die notwendigen kurzfristigen Ausgaben freigegeben wird. Damit diese Lösung keinen Dammbruch auslöst, sollte eine Zustimmung von der Einrichtung folgender „Firewalls“ abhängig gemacht werden: Während eines auf zwei Jahre begrenzten Zeitraums darf ein Anteil von maximal 20 Prozent des ursprünglichen Sondervermögens für kurzfristige Beschaffungen, also etwa Munition, und Betriebskosten, also beispielsweise Übungen, ausgegeben werden.

Dieser Schritt würde die kurzfristigen innenpolitischen Realitäten anerkennen: Die Haushaltslage für 2024 wird schlecht sein. Trotzdem brauchen das Bundesverteidigungsministerium ebenso wie die ihm freundlich gesonnenen Abgeordneten im Bundestag noch in dieser Legislaturperiode vorzeigbare Erfolge, um überhaupt eine Chance zu haben, die Zeitenwende in der nächsten Legislaturperiode fortzusetzen und dafür zusätzliche Mittel zu erhalten.

Gegen diese Option spricht, dass die politischen und rechtlichen Hürden hoch sind. Vor allem widerspräche eine solche Flexibilisierung den grundliegenden Zielen des Sondervermögens, das auf Planbarkeit durch ein garantiertes Volumen und unbegrenzte Laufzeit angelegt war.

Den jährlichen Haushalt aufwachsen lassen

Auch wenn das Sondervermögen für kurze Zeit zur Finanzierung kleinerer Aufgaben herangezogen werden darf, muss der jährliche Verteidigungshaushalt steigen. Das ist notwendig, um reguläre Beschaffungen zu ermöglichen und nicht in wenigen Jahren wieder in die Situation zu geraten, dass nur noch Betrieb und Personal aus dem Haushalt bezahlt werden können. Der Ausfall von kleinen, aber wichtigen Beschaffungen gefährdet die Einsatzbereitschaft.

Durch eine Erhöhung des EP 14 würde auch verhindert, dass die Verteidigungsausgaben insgesamt nach dem Auslaufen des Sondervermögens abstürzen. Selbst bei einer möglichst schnellen Verausgabung fehlen schon 2026 wieder ca. 8 Milliarden Euro, um das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, 2027 dann unvorstellbare 40 Milliarden. 2025 stehen zudem Bundestagswahlen an - eine möglicherweise neue politische Leitung im Bundesverteidigungsministerium stünde im ersten Jahr einer neuen Regierung vor kaum zu bewältigenden Aufgaben.

25-Millionen-Euro-Vorlage anheben

Beschaffungen der Bundeswehr unterliegen einer strengen parlamentarischen Kontrolle. Ausgaben über 25 Millionen Euro benötigen die Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestages. Dieser stimmt über alle so genannten “25 Millionen-Euro-Vorlagen” ab. Eine Erhöhung dieser Schwelle auf 50 Millionen Euro würde die Beschaffung beschleunigen, was die Zustimmung zu höheren Verteidigungsausgaben erleichtern könnte. Es spart Zeit, wenn weniger Vorlagen dem Ausschuss vorgelegt und ausgiebig diskutiert und abgestimmt werden müssen; zugleich ergeben sich weniger Möglichkeiten für Partikularinteressen, Einfluss auf den Beschaffungsprozess zu nehmen. Und noch ein Argument: Die Vorlage wurde seit ihrer Einführung 1981 (damals noch als “50-Millionen-Mark-Vorlage”) nicht an die Inflation angepasst. Rechnet man die Preissteigerung ein, entsprechen die 50 Millionen DM von damals heute etwa 42 Millionen Euro.

Rüstungsstrategie für eine verteidigungstechnologische und -industrielle Basis

Auf längere Sicht kommt angesichts der Mittelknappheit der Steuerung der Auswahl und Durchführung der konkreten Projekte besondere Bedeutung zu. Deswegen sollte die Bundesregierung eine Rüstungsstrategie erarbeiten. Diese sollte insofern strategisch orientiert sein, dass sie Aufbau und Erhalt einer verteidigungstechnologischen und -industriellen Basis als Teil der Versorgungssicherheit des deutschen Verteidigungssektors begreift und sie nicht nur als eine Industrie ansieht, die etwas liefert. Das bedeutet, dass geklärt werden muss, mit welchen Maßnahmen und Projekten Versorgungssicherheit, technologische Leistungsfähigkeit und Kooperationsfähigkeit erreicht werden sollen.

Dabei ist es essenziell, dass bei aller nötigen Beschleunigung der Materialbeschaffung mittel- und langfristige rüstungspolitische Ziele definiert und beachtet werden. So kann es sinnvoll sein, die drängendsten Fähigkeitslücken durch den Kauf fertiger Systeme („off-the-shelf“) etwa aus den USA zu schließen, um langwierige Entwicklungs- und Produktionsprozesse zu vermeiden. Mittel- und langfristig sollten jedoch strategische Ziele wie die nationale oder europäische Souveränität nicht aus den Augen verloren werden.

Die Bundesregierung sollte anerkennen, dass sie über Beschaffungsentscheidungen auch Industrie- und Technologiepolitik macht und diese gezielt statt zufällig betreiben. Dementsprechend müssen Zielkonflikte (beispielsweise zwischen verstärkter europäischer Kooperation und dem Erhalt von Produktionsfähigkeiten in Deutschland) benannt und lösungsorientiert bearbeitet werden.

Ein Hindernis für die europäische Rüstungskoordination ist der Schutz nationaler Schlüsseltechnologien. Allein aus Kostengründen ist Kooperation aber oft nötig; hinzu kommen Aspekte von Skaleneffekten und Interoperabilität. Bei den Schlüsseltechnologien gilt es also, mit Augenmaß zu bestimmen, welche ohne Sicherheitsverluste von europäischen Partnern bezogen werden oder gemeinsam entwickelt werden können.

Eine sicherheitspolitische Dekade

Die Aushöhlung der militärischen Sicherheit macht es erforderlich, jetzt besonderen Aufwand zu treiben. Ähnliches trifft aber für viele Bereiche des öffentlichen Lebens zu, auch auf Klimaschutz oder Cybersicherheit. Die sicherheitspolitischen Risiken werden vielfältiger und bedrohlicher. Vor diesem Hintergrund erscheinen die bisherigen Anstrengungen im bestehenden finanziellen Rahmen als unzureichend und kurzatmig.

Einen Beitrag zur Lösung könnte die Festlegung von Ausgaben und Einnahmen für eine längeren Zeitraum leisten: Mit dem Ausrufen einer sicherheitspolitische Dekade würde Deutschland den strategischen Rahmen neu definieren. Zugleich würde der zeitliche Horizont erweitert, in dem wichtige Akteure die Ausgaben des Staates betrachten und ihre Bewertung abgeben. Das gilt für die Ministerien, aber auch für den Rechnungshof, den Bund der Steuerzahler, den Haushaltsausschuss und sonstige Experten. Die Dekade könnte mit der dem Amtsantritt nächsten Regierung beginnen. Im Verteidigungsbereich wäre dann das Sondervermögen nahezu aufgebraucht.

Um den Systemwechsel zu einem funktionierenden Verteidigungssektor zu schaffen, wären zusätzliche Ausgaben in Höhe von etwa 0,5 Prozent des BIP – die momentane Lücke zu dem Zwei-Prozent-Ziel - erforderlich, die die Bundesregierung zusätzlich aufnehmen sollte. Für den Klimaschutz dürfte die Summe ähnlich hoch sein. Hinzu kommen weitere Bereiche mit hohem Investitionsbedarf wie beispielsweise die Digitalisierung. Insgesamt müsste Deutschland ein Jahrzehnt lang etwas mehr als ein Prozent seines Volkseinkommens zusätzlich zum Zwei-Prozent-Ziel aufwenden, um den umfassenden Schutz seiner Bürger, Gesellschaften und politischen Institutionen gewährleisten zu können.

Als Grundlage sollte die Bundesregierung eine umfassende sicherheitspolitische Konzeption erarbeiten, aus der sich klare Prioritäten ableiten lassen. Es gilt zu vermeiden, dass eine Sicherheitsdimension gegen andere ausgespielt wird, also etwa die Klimapolitik gegen Verteidigung oder der Minderheitenschutz gegen die Energiesicherheit.

Die sicherheitspolitische Konzeption sollte auf der Nationalen Sicherheitsstrategie aufbauen. Erste Vorarbeiten zu der sicherheitspolitischen Dekade sollten mit einer Taskforce noch in dieser Legislaturperiode angegangen werden. Dazu gehört auch ein Plan für die Neuaufstellung der öffentlichen Aufgabenfinanzierung, um Schocks und Krisen auf Dauer besser begegnen zu können als in der Vergangenheit.

Europäisierung und Effizienzsteigerungen

Eine solche Dekade wird nur dann Unterstützung finden, wenn parallel dazu die Potentiale für mehr Effizienz genutzt werden. Für die nationale Ebene ist dies mit der Rüstungsstrategie beschrieben (s.o.). Es können aber auch Effizienzpotentiale auf europäischer Ebene gehoben werden. Ein wichtiger Hebel ist hierbei die europäische Rüstungskooperation. Diese verspricht enorme Vorteile für die beteiligten Staaten: Kostenreduktion durch gemeinsame Entwicklung, größere Skaleneffekte durch höhere Stückzahl, erhöhte Interoperabilität und Standardisierung sowie Reduktion von Überkapazitäten und Doppelungen auf Industrieseite.

Allerdings konnten bisherige Kooperationsprojekte wie der A400M, der Eurofighter oder der NH90 die in sie gesteckten Erwartungen kaum erfüllen. Denn statt europäischer Effizienz standen nationale Industrie-Interessen oder die politische Symbolik im Vordergrund. Bei aktuellen Vorhaben wie dem Future Combat Air System (FCAS) deuten sich ähnliche Probleme an. Hier gilt es, eine neue Balance zwischen dem Schutz nationaler Industriestandorte und den übergeordneten Zielen einer effizienten Mittelverwendung und der Stärkung der gemeinsamen europäischen Verteidigung zu finden. Dabei gilt: Nationale Autonomie im militärischen Bereich ist für europäische Staaten eine Illusion. Selbst bei mittelfristig steigenden Haushalten, wird es auch für große Volkswirtschaften wie Deutschland unmöglich sein, eigenständig zu operieren und die eigene Sicherheit autonom zu gewährleisten. Wenn Europa handlungsfähig bleiben will, geht dies nur im Verbund. Dies erfordert jedoch eine viel stärkere vertikale Integration der europäischen Streitkräfte.

Damit so ambitionierte Schritte im Bereich der Verteidigung realisiert werden können, muss bereits im Vorhinein glaubhaft gemacht werden, dass sie auch umsetzbar sind. Dies wird wahrscheinlich erst dann möglich sein, wenn kurzfristige Elemente wie die Rüstungsstrategie und erste erfolgreiche Projekte vorliegen. Eine Staffelung der Lösungen erscheint sinnvoll (siehe Abb. 4)

Fazit

Solange die strukturellen Probleme bestehen, wird eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben immer mit hohem Misstrauen betrachtet werden, sowohl in der Bevölkerung als auch im Finanzministerium oder etwa im Bundesrechnungshof. Erst wenn das Bundesverteidigungsministerium glaubhaft machen kann, dass es sowohl den Willen als auch einen Plan hat, die Mängel anzugehen, wird der Rechtfertigungsdruck für neue Ausgaben spürbar nachlassen. Dabei kann die Initiierung von Reformen auch einen Vertrauensvorschuss bewirken, der eine kurzfristige Erhöhung von EP 14 möglich macht.

 

Bibliografische Angaben

Mölling, Christian, Torben Schütz, and Sören Hellmonds. “Zeitschleife statt Zeitenwende.” German Council on Foreign Relations. June 2023.

DGAP Policy Brief Nr. 15, 15. Juni 2023, 10 S.

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