Nach der Wahl ist vor der Wahl. Kaum war die französische Regionalwahl am 27. Juni abgeschlossen, und schon erhitzte sich die Stimmung rund um die Präsidentschaftswahl 2022.
Drei konservative Persönlichkeiten setzen auf ihren Erfolg bei den Regionalwahlen, um im Namen von Les Républicains (LR) nächstes Jahr zu kandidieren und den neuen Präsidenten bzw. die neue Präsidentin des Landes zu stellen. Im linken Lager hat die Diskussion über mögliche Bündnisse zwischen den verfeindeten Brüdern der sozialdemokratischen, ökologischen und radikalen Strömungen bereits begonnen. Und bei den beiden Kandidaten, deren Duell schon lange angekündigt ist, Emmanuel Macron und Marine Le Pen – die großen Verlierer dieser Wahl -, ist die Personenfrage zwar geklärt, die Strategie aber lange nicht.
In Wirklichkeit gibt es nur wenige Lehren, die man aus der Regionalwahl für die Präsidentschaftswahl ziehen kann. Sowohl das Wahlsystem als auch die Wahllogik sind unterschiedlich, und vor allem stehen ganz andere Dinge auf dem Spiel. Und doch ist die Wahl vom Juni 2021 reich an Erkenntnissen über die politischen Verhältnisse und die demokratische Stimmung in Frankreich.
Desinteresse und Misstrauen
Was bei den Wahlergebnissen zuerst auffällt, ist die historisch hohe Zahl der Enthaltungen von 65% der Stimmen. Noch nie in der Geschichte der fünften Republik war der Wert so hoch: Zwei von drei Franzosen, und sogar vier von fünf jungen Menschen im Alter von 18–34 Jahren gingen nicht zur Wahl. Ausgerechnet in der Arbeiterklasse, wo der Rassemblement national (RN) traditionell einen großen Teil seiner Wählerschaft rekrutiert, fiel die Wahlenthaltung stark auf. Doch Marine Le Pens wütende Worte an ihre Anhänger zwischen beiden Wahlgängen hatten nicht die von ihr erwartete Wirkung: Sie sind zu Hause geblieben.
Gewiss, die Gründe für die Enthaltung mögen banal sein, angefangen mit dem Sommerwetter und der Corona-Situation. So gab ein Drittel der Enthaltenden nach der ersten Runde an, dass sie „nicht den Kopf dafür hatten“. In der zweiten Runde hingegen wurden als Hauptgründe die „Unzufriedenheit mit Politikern im Allgemeinen“ genannt. Wenn man alle angegebenen Gründe berücksichtigt, wie „Es hat keinen Sinn“ und „Keiner der Kandidaten gefällt mir“, dann zeigt sich, dass Misstrauen und Desinteresse die Hälfte der Enthaltung ausmachen. Das Phänomen beschränkt sich bei weitem nicht auf die Regierungspartei, sondern alle politischen Parteien sind davon betroffen. So ist laut einer anderen Umfrage eine breite Mehrheit der Französinnen und Franzosen der Meinung, dass es ihnen „nicht gelungen ist, die Wähler für diese Wahlen zu interessieren“. Damit setzt sich ein Trend fort, der alle Wahlen seit den späten 1980er Jahren kennzeichnet, mit Ausnahme der Präsidentschaftswahlen.
Im europäischen Kontext zeichnet sich die französische Bevölkerung durch ein sehr hohes Maß an Misstrauen gegenüber politischen Institutionen und das Gefühl aus, dass das demokratische System nicht gut funktioniert. Daraus ergibt sich tatsächlich ein grundsätzliches Problem für die Demokratie: Nicht nur, dass Misstrauen schnell in Verschwörungsglaube umschlagen kann, auch die Umsetzung des demokratischen Repräsentationsprinzips ist unbefriedigend. Wie die Politikwissenschaftlerin Céline Braconnier in der Zeitung Le Monde feststellt, „hat das legale Land nichts mehr mit dem realen Land zu tun“: Die politischen Leitlinien werden von Wählern entschieden, die viel älter, viel besser gebildet und viel besser gestellt sind als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Die Orientierungspunkte sind verschwommen
Zu diesem Desinteresse und Misstrauen gegenüber der Politik trägt auch bei, dass traditionelle parteipolitische Bezugspunkte schwinden. Im Jahr 2017 hatte Emmanuel Macron die Präsidentschaftswahl gewonnen, indem er mit seiner La République en marche (LRM) und einem „sowohl als auch“-Diskurs die klassische Trennlinie zwischen links und konservativ herausforderte. Sie sollte, so sein Anspruch, durch die Trennlinie Progressivismus versus Nationalismus ersetzt werden – letzterer von seiner Lieblingsrivalin Le Pen verkörpert. Heute verlaufen beide Linien in der französischen politischen Landschaft nebeneinander.
Zugegeben, auf den ersten Blick vermittelt die Landkarte der Regionalwahlen in Frankreich einen Eindruck von Stabilität und Kontinuität. Abgesehen von Korsika, wo Nationalisten die Wahl gewonnen haben, besteht die Karte etwa gleichmäßig aus blau (konservativ) und rosa (links). Die traditionellen Parteien, die man in den letzten Jahren für tot oder zumindest extrem geschwächt hielt, sind immer noch da. Besser noch: Sie haben es geschafft, begehrte Machtpositionen zu erlangen bzw. zu behalten. Im Gegenteil konnten weder LRM (mit 7% der Stimmen landesweit) noch der RN eine Region für sich gewinnen und sich im Lande verankern. Außerdem wurden alle bisherigen Regionalpräsidenten unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit wiedergewählt – was darauf hindeutet, dass sich die Wähler in Krisenzeiten lieber auf bekannte Gesichter verlassen.
Doch die Ergebniskarte, so vertraut sie auch wirkt, ist irreführend. Hinter dem blau-rosa Bild verbirgt sich ein stark fragmentiertes Parteiensystem. Von den drei Aspiranten im konservativen Lager haben zwei vor kurzem die LR-Partei verlassen. Und im linken Lager haben die verschiedenen Stimmen die größten Schwierigkeiten, sich zu vereinen. Vor allem aber ist das Spiel der Allianzen und der Duelle für die meisten Wähler unverständlich. Ein Beispiel: Im Norden Frankreichs konkurrierte Innenminister Gérard Darmanin für LRM mit Regionalpräsident Xavier Bertrand – beide gehörten bis vor ein paar Jahren der konservativen Partei und sind ehemalige Minister von Nicolas Sarkozy.
Die PACA-Region ist ein Experimentierfeld
Bei dieser Wahl waren alle Augen auf die Region Provence-Alpes Côte d’Azur (PACA) gerichtet, die das Rassemblement National erobern wollte. Dies sollte ein wichtiger Schritt in Le Pens Wahlstrategie sein, aber dort, wie auch im Rest des Landes, ist sie gescheitert. Ihr Kandidat Thierry Mariani verlor die Wahl im zweiten Wahlgang mit 42% der Stimmen gegen den LR-Kandidaten Renaud Muselier mit 58% der Stimmen. Dazu haben u. a. der Rückzug der linken Liste und der Aufruf der meisten anderen Kandidaten, im Sinne einer „republikanischen Front“ den RN zu blockieren, beigetragen.
Im französischen Kontext ist die sonnige Côte d’Azur sowohl ein Sonderfall als auch ein politisches Experimentierfeld. Dort hatte der Front National, der Vorläufer der RN, in den 1980er Jahren seine ersten Wahlerfolge und gewann dann in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre seine ersten Gemeinden (Orange, Vitrolles und Marignane). Dort wollte die Partei 2021 zeigen, dass sie in der Lage sei, die gläserne Decke durchzubrechen.
Mariani verkörpert die Strategie des RN, parallel zur „Entdämonisierung“ der Partei seine traditionelle Wählerbasis zu erweitern, indem er die am weitesten rechts stehenden Strömungen im konservativen Lager für sich gewinnt. Dafür war ein politischer Überläufer wie Mariani wie geschaffen: Seine gesamte Karriere verbrachte er im konservativen Lager, wo er Abgeordneter, Bürgermeister und in den 2010er Jahren sogar Minister war. Er ist nicht nur für seine russischen Verbindungen bekannt, sondern setzte sich immer wieder für ein breites Bündnis der Rechten ein. Sein Sieg als RN-Kandidat wäre ein starkes Signal gewesen und hätte eindeutig zur Destabilisierung des republikanischen Lagers beigetragen. Nun ist der Versuch erstmal gescheitert.