Kommentar

27. Mai 2019

Wo kein Wille, da kein Weg

Migrationspolitik nach der Europawahl

Trotz aller Diskussionen um das Thema Migration im Wahlkampf wird der Ausgang der Europawahl die Migrationspolitik Europas nur wenig ändern. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist die Macht des Europaparlaments im Bereich Migration und Asyl begrenzt, zum anderen zeigen die Mitgliedstaaten kaum Willen, die Reformen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) anzugehen. Daher werden interne Blockaden, ad-hoc Aktionen und die Verlagerung von Problemen auf Pufferstaaten am Rande Europas weitergehen.

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Warum die Wahlen keine Kehrtwende bringen

Der Ausgang der Europawahl hat einen relativ geringen Einfluss auf die Migrations- und Asylpolitiken der Europäischen Union (EU) in den kommenden Jahren. Das hat strukturelle und politische Gründe. 

Erstens schrumpft der Machtspielraum des Europäischen Parlaments (EP) im Bereich Migration und Asyl: Zwar ist das Parlament seit dem Vertrag von Lissabon auch hier neben dem Rat für Justiz und Inneres in vielen Fällen gleichberechtigter Mitgesetzgeber. In einigen Situationen aber, etwa bei einem plötzlichen Migrationsanstieg aus Drittstaaten, kann der Rat auch ohne die Zustimmung des Parlaments über Rechtsakte und andere Maßnahmen entscheiden. 

Noch entscheidender ist, dass mit dem EU-Türkei-Deal die vielleicht folgenreichste migrationspolitische Neuerung der vergangenen Jahre gar kein Gesetzgebungsverfahren durchlief. Da es sich lediglich um eine Erklärung der Mitglieder des Europäischen Rats handelte und dies explizit kein völkerrechtlich bindender Vertrag war, konnten die Mitgliedsstaaten am Parlament vorbei entscheiden. Das Parlament machte seine Position zu dem Übereinkommen zwar in Form einer Resolution klar, doch diese Art von Stellungnahme ist nicht rechtlich bindend. Künftige Migrationskooperationen der EU mit Transit- und Herkunftsländern in der Nachbarschaft Europas könnten die Machtverlagerung von der Legislative auf die Exekutive verfestigen. 

Unumstritten ist allerdings die Prozess- und Budgetmacht des Europäischen Parlaments. Es kann Gesetzesinitiativen verschleppen oder blockieren. Das wird umso wahrscheinlicher, je mehr Sitze im EP von Politikern besetzt werden, die eine Anti-EU-Agenda verfolgen. Außerdem kann das Parlament das Budget verabschieden und durch Änderungsvorschläge EU-Migrationsausgaben mitsteuern. Allerdings gehen viele EU-Gelder im Bereich Migration, wie große Anteile des EU Trust Funds, zur Umsetzung an nationale Organisationen – die Macht über die Ausgestaltung von Projekten liegt also wieder bei einzelnen Ländern. 

20 Jahre GEAS – und keine Gratulanten in Sicht 

Zweitens bleibt auch nach den Wahlen der politische Wille der Mitgliedsstaaten gering, eines der Kernprobleme Europas anzugehen – die Reform des GEAS und besonders des gelähmten Dublin-Systems.  Auch vier Jahre nach dem Höhepunkt der Migrationskrise kann die EU die Uneinigkeit ihrer Mitglieder nicht durchbrechen, um das marode GEAS auf solidere Beine zu stellen. Noch immer gleicht das System eher einer Lotterie als dem erhofften Mechanismus von Solidarität und Fairness. Gründe sind der Geburtsfehler des GEAS zum einen, also die durch Dublin festgeschriebene unfaire Lastenteilung. Hinzu kommen zum anderen Umsetzungsfehler wie etwa die große Divergenz von Anerkennungsquoten in verschiedenen Mitgliedsstaaten. 

Obwohl die Kommission seit langem gebetsmühlenartig wiederholt, dass Einigkeit über einige Teile der GEAS-Reform besteht, ist bei den beiden Zankäpfeln des Reformvorhabens nach wie vor kein Fortschritt in Sicht – der Dublin-Verordnung und der Asylverfahrensrichtlinie. Zu verschieden sind die Interessen der Mitgliedsstaaten, zu verlockend das Festhalten am kaputten Status Quo, in dem die Mittelmeerländer die Last der Ankommenden tragen und eine Handvoll Länder die Last der Asylanträge. Das beggar thy neighbor-Prinzip ist in vollem Gange. 

Selbst wenn die GEAS-Reform wider Erwarten unter der neuen Kommission doch in Schwung kommen sollte, bliebe doch das Problem bestehen, dass einige Länder die GEAS-Vorgaben mit weniger politischem Willen und geringeren finanziellen Mitteln umsetzen. Eine echte Angleichung der Asylsysteme in der EU hängt am Ende eben weniger an Müssen und Druck einer EU-Vorgabe und mehr an Können und Wollen der Mitgliedsstaaten. 

Ein Test, wie unbeliebt das europäische Asylsystem tatsächlich ist, steht im Oktober an. Dann wird das GEAS 20 Jahre alt – doch Gratulanten, die eine herzliche Laudatio auf das Geburtstagskind halten könnten, sind keine in Sicht.

Was die Zukunft bringt: Externalisierung und Blockade 

Zwei Trends dürften die europäische Asyl- und Migrationspolitik prägen. Zum einen werden die seit 2015 sprießenden Externalisierungstendenzen weiter zunehmen: Das gilt für die Arbeit mit Pufferstaaten, um Migrationsflüsse schon vor der eigenen Landesgrenze zu reduzieren, ebenso wie für das Experimentieren mit dem Ansatz, das Asylrecht von der Ankunft in Europa zu entkoppeln. Auch wenn Menschenrechtsorganisationen diese Entwicklung kritisieren, ist eines klar: Je weniger die EU ihre interne Reformblockade überwinden kann, umso mehr wird sie versuchen, ihre Kräfte nach außen zu richten. Sie wird verstärkt in den Schutz der eigenen Außengrenzen investieren, wie zuletzt bei der Aufstockung der Europäischen Grenz- und Küstenwache (Frontex) auf 10.000 Einsatzkräfte bis 2027. Gleiches gilt für den Grenzschutz und das Migrationsmanagement der Nachbarländer Europas, etwa in Nordafrika und der Sahelzone. 

Zum anderen gehen kurz- und mittelfristig die internen Blockaden, ad-hoc Aktionen und informellen Initiativen weiter – dies gilt zum Beispiel für die unzureichende Seenotrettung und das seit Monaten andauernde Gezerre darum, welches Land für aus dem Mittelmeer Gerettete zuständig ist. Solange Staatschefs wie Salvini gerne mit ihrer Migrationspolitik der harten Hand punkten, kann schon die Aufnahme weniger Personen als Einknicken gelten. Die klaren Wahlerfolge von migrationskritischen Kräften verstärken den Abschottungskurs auf EU-Ebene ebenso wie in den einzelnen Ländern. Dies gilt für Italien, wo Salvinis Lega über ein Drittel der Stimmen holte, ebenso wie für Ungarn, wo Orbans Fidesz die absoluter Mehrheit erhielt, und Frankreich, wo Le Pens Nationale Sammlungsbewegung Macrons En Marche auf den zweiten Platz verwies. 

Wünschenswert wäre hingegen ein anderes Szenario – als umstrittene, aber pragmatische Alternative zum Stillstand. Um die Ad-hoc Logik zu durchbrechen, könnte eine Handvoll kooperationswilliger Mitgliedsstaaten könnte die seit Jahren sinkenden Ankunftszahlen in Europa dazu nutzen, versuchsweise eine begrenzte Anzahl von Asylanträgen nach gemeinsamen Kriterien zu entscheiden, die Schutzberechtigten auf die teilnehmenden Länder zu verteilen und zusammen auf die Rückkehr der abgelehnten Bewerber zu dringen. Dieses Modell einer Koalition der Kooperativen wäre im Geiste des GEAS, allerdings ohne die altbekannte Blockade durch unwillige Mitgliedsstaaten. 

Für solch alternative Modelle gilt jedoch dasselbe wie für die GEAS-Reform: Der Wille muss aus den Mitgliedsstaaten kommen. Wer also verstehen will, wohin sich die Migrationspolitiken Europas entwickeln, der sollte in Zukunft ein bisschen weniger Zeit in Brüssel und etwas mehr Zeit in den Hauptstädten Europas einplanen. 

 

Bibliografische Angaben

Rietig, Victoria, and Mona Lou Günnewig. “Wo kein Wille, da kein Weg.” May 2019.

DGAPstandpunkt 15, 27. Mai 2019, 3 S.

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