Kommentar

07. Nov. 2022

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt

Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung muss ihre Chance ergreifen
Deutsch-frz. Parlamentarische Versammlung
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Die Verschiebung des Deutsch-Französischen Ministerrats hat gezeigt, dass die Regierungen beider Länder sich mit gemeinsamen Antworten auf drängende Fragen für Europa derzeit schwertun. In Deutschland hat zuletzt der Bundestag die Ampelkoalition in Sachen Energie- und Verteidigungspolitik angetrieben. Auch in Frankreich hat die Nationalversammlung seit September an Gewicht gewonnen. Die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung könnte angesichts dieser Entwicklungen der bilateralen Zusammenarbeit neuen Schwung verleihen. Die Partner sollten sie als Chance verstehen.

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Nicht erst seit der von Olaf Scholz angekündigten „Zeitenwende“ strebt die Ampelregierung ein souveränes Europa an, das in Verteidigungsfragen selbständiger agieren kann. So stand es bereits im Koalitionsvertrag und so wird es bei jeder Gelegenheit auf Gipfeln und in Reden wiederholt. Die Kooperation mit Frankreich als engstem Verbündeten ist dabei unabdingbar, das unterstrich der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs am 27. Februar. Die vergangenen Tage haben allerdings Zweifel daran geweckt, ob den vielen Worten auch Taten folgen.

So wurde unerwartet der für den 26. Oktober geplante deutsch-französische Ministerrat abgesagt, eine Premiere in den guten bilateralen Beziehungen.

Dennoch tagen am 7. November die neuen Mitglieder der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV) – eine einmalige Gelegenheit für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Denn eine der Hauptaufgaben, die der Versammlung bei der Gründung 2019 zugewiesen wurde, ist die Kontrolle der Umsetzung des Aachener Vertrags, der im gleichen Jahr von Emmanuel Macron und Angela Merkel unterzeichnet wurde. Der Vertrag sieht vor, dass Treffen zwischen den Regierungen „mindestens einmal jährlich“ stattfinden. Inhaltlich wird unter anderem eine weitere Annäherung in der Außen- und Verteidigungspolitik angestrebt. Nun hat das Ministerratstreffen nicht stattgefunden und von Annäherung kann keine Rede sein.

Das gibt den Parlamentarierinnen und Parlamentariern sowohl formal als auch politisch gute Gründe, sich einzumischen. Aber werden sie die Chance nutzen?

Die DFPV entstand aus Protest

Die Entstehungsgeschichte der Versammlung macht Hoffnung: Im Gegensatz zu vielen anderen Institutionen beruht sie nicht auf internationaler Einigkeit, sondern Uneinigkeit. 2017 entstand bei Bundestagsabgeordneten der Eindruck, dass Emmanuel Macrons Sorbonne-Rede in Berlin ungehört verhallte. Der Frust in Paris war groß – ähnlich wie heute. Also taten sich deutsche Abgeordneten mit ihren französischen Kolleginnen und Kollegen zusammen und machten kurzerhand eigene Vorschläge zu einer der wenigen konkreten Folgen der Rede, der Erneuerung des Elysée Vertrags, die im Januar 2019 mit der Unterzeichnung eines neuen Freundschaftsvertrags in Aachen ihren Abschluss fand.

Der neue Staatsvertrag zwischen beiden Regierungen erkannte die „zentrale Rolle der Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Bundestag und der französischen Nationalversammlung“ an. Ausgewiesenes Ziel war es, die deutsch-französischen Beziehungen stärker von der Regierungsebene zu lösen und den Parlamenten und der Zivilgesellschaft gleichzeitig mehr Mitspracherechte einzuräumen. Auch, um die Beziehung in Episoden wie der aktuellen auf allen Ebenen widerstandsfähiger zu machen und in dem Wissen darum, dass der Aachener Vertrag eines seiner zentralen Ziele, eine abgestimmte Position beider Regierungen zur Zukunft der Währungsunion, verfehlte. Die Stärkung der Parlamente wurde auf Druck der Abgeordneten in einem eigenen Abkommen festgeschrieben, das im März 2019 unterzeichnet wurde. Dort heißt es, Bundestag und Assemblée nationale sollten sich für die „Konvergenz der Standpunkte Deutschlands und Frankreichs auf europäischer Ebene“ einsetzen.

Parlamente in der „Zeitenwende“

Der Deutsche Bundestag hat ohnehin außergewöhnlich große Macht in allen Bereichen, auch in der Außen- und Verteidigungspolitik. Die Regierungserklärung zur sogenannten Zeitenwende hielt der Bundeskanzler unter der Reichstagskuppel, wohl wissend, dass am Ende die Abgeordneten entscheiden. Erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht die Rechte des Bundestags im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU noch einmal gestärkt. Und schon im April war der gemeinsame Ukraine-Besuch von Anton Hofreiter, Michael Roth und Marie-Agnes Strack-Zimmermann ein Symbol des parlamentarischen Selbstbewusstseins und des Gestaltungsanspruches, auch in der Außen- und Verteidigungspolitik. Die Koalition funktioniert in den Ausschüssen besser als am Kabinettstisch, diesen Eindruck hatte man auch in Paris.

Dort hat sich seit den Parlamentswahlen im Juni das institutionelle Gleichgewicht verschoben. Zwar gelten die Außen- und Verteidigungspolitik weiterhin als exklusive domaine réservé des Staatspräsidenten. Doch der Staatspräsident und seine Regierung verfügen nur noch über eine relative Mehrheit in der Nationalversammlung. Seine außenpolitischen Entscheidungen werden in den kommenden fünf Jahren nicht mehr selbstverständlich vom Parlament abgenickt werden. Ein wichtiger Test für die neuen Machtverhältnisse in Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik wird die Debatte um das Gesetz zur mehrjährigen Verteidigungsfinanzierung (Loi de programmation militaire) für die Jahre 2024 – 2030, mit dem sich die Nationalversammlung ab Ende des Jahres befasst.

Ein günstiger Moment

Ein günstiger Moment also für beide Parlamente, um die Mitsprache einzufordern, die der Aachener Vertrag und das Parlamentsabkommen ihnen zusprechen. Dass ein Anspruch besteht, beweist die Arbeitsgruppe zur Außen- und Verteidigungspolitik, die 2020 mit dem Ziel eingerichtet wurde, zur gemeinsamen „strategischen Kultur“ beizutragen, die der Aachener Vertrag einfordert. Dass diese Arbeitsgruppe nun trotz der Probleme zwischen den Regierungen in der neuen Legislaturperiode nicht wieder eingesetzt werden soll, ist umso überraschender, als nach dem Treffen zwischen Macron und Scholz am 26. Oktober neue Arbeitsgruppen auf Regierungsebene angekündigt wurden. Die Entscheidung – die noch korrigiert werden kann – zeigt, dass die Parlamente die Gunst der Stunde noch nicht erkannt haben.

Die deutsche Zeitenwende und die französische Präsidentendämmerung sollten eigentlich Anlass zu mutigen politischen Veränderungen bieten. In der Versammlung sitzen durchauspolitische Schwergewichte, auf französischer Seite zwei ehemalige Minister, Brigitte Klinkert und Eric Woerth, auf deutscher Seite der versierte Außenpolitiker Nils Schmid und der ehemalige Staatsminister für Europäische Angelegenheiten, Michael Roth. Ein weiter so möchte niemand, darum geht es im Kern bei der deutschen Zeitenwende und das hat Emmanuel Macron vor Beginn der neuen Legislatur deutlich gemacht. Doch Olaf Scholz‘ Entscheidung hinsichtlich des Hamburger Hafens erinnert an das Festhalten Angela Merkels an der Nord-Steam II-Pipeline. Und Macrons außenpolitische Bilanz wird nur deshalb nicht noch kontroverser diskutiert, weil der französische Rückzug aus Mali und der dramatische Einflussverlust Frankreichs in Westafrika seit Februar von dem Krieg in der Ukraine überschattet wird.

Gestalten, statt nur zu kontrollieren

Beide Parlamente könnten also jetzt über sich hinauswachsen, in der DFPV könnten sie es auch gemeinsam – wenn sie nur wollen. Über ihre klassische Kontrollfunktion hinaus gälte es jetzt, die politische Agenda zu bestimmen, Vorschläge zu machen und Verantwortung zu übernehmen. Deutsch-französische Abgeordneten-Tandems könnten sich als Berichterstatter für Rüstungsprojekte anbieten, endlich FCAS und MGCS vorantreiben. Die Auslandseinsätze in Afghanistan und Mali könnten gemeinsam aufgearbeitet- und dem Partnerland ein Spiegel vorgehalten werden, sollte der Wille zur Aufklärung national an Grenzen stoßen. Schließlich könnte der Stand der politischen Debatten um die nationalen Strategiedokumente regelmäßig kommuniziert werden, um Missverständnissen vorzubeugen.

Das erfordert Mut. Die Abgeordneten würden politische Risiken eingehen, die die Regierungen gerade scheuen. Sie müssten im Zweifel nationale Befindlichkeiten ignorieren, sich die Kritik der politischen Extreme gefallen lassen und gelegentlich wahrscheinlich auch gegen aktuelle Umfrageergebnisse Politik machen. Abgeordnete der Regierungsparteien müssten mit Spannungen im Verhältnis zu ihrer Regierung leben und Streit mit der eigenen Fraktion riskieren. Die Sitzungen der DFPV der vergangenen zwei Jahre haben gezeigt, wie sehr die binationale parlamentarische Versammlung weiter von Fraktionszwängen und nationalen Delegationslogiken bestimmt war. Krieg in Europa, enorme energiepolitischer Herausforderungen, steigende Inflation und eine drohende Rezession sollten aber Anlass genug sein, um Mut zu zeigen und Risiken in Kauf zu nehmen.

Der Blick zurück hilft

Dass das möglich ist, hat die DFPV in der vergangenen Legislaturperiode selbst bewiesen. Als im Frühjahr 2020 in Reaktion auf die Covid-19-Pandemie vielerorts die Grenze zwischen Deutschland und Frankreich geschlossen wurde und lange geschlossen blieb, entgegen internationaler Empfehlungen, setzte sich die parlamentarische Versammlung für eine schnelle Öffnung ein. Parlamentarier und Parlamentarierinnen beider Länder nutzen ihre Kontrollfunktion, luden Ministerinnen und Minister beider Regierungen zu Anhörungen vor, stellten auch unangenehme Fragen und beriefen sich bei alldem auf den Aachener Vertrag und das Parlamentsabkommen von 2019.

Der Zeitpunkt wäre gut, sich an das Vorgehen aus dem Frühjahr 2020 zu erinnern. Und erneut etwas zu wagen.

Bibliografische Angaben

Kremer , Kenny , and Jacob Ross. “Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.” November 2022.

Dieser Online-Kommentar wurde am 7. November 2022 veröffentlicht.

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