Die aktuelle Eskalation des seit 2014 andauernden russischen Krieges in der Ukraine dauert nun schon drei Monate an. In dieser Zeit gab es sowohl für die Konfliktparteien als auch für die Außenwelt eine Reihe von unerwarteten Entwicklungen.
Erstens: Russland startet eine groß angelegte Invasion
Die erste Überraschung war der tatsächliche Ausbruch der Eskalation. Viele in der westlichen akademischen und politischen Gemeinschaft waren überzeugt, dass Russland die Ukraine nicht angreifen würde, und zwar aus einer Reihe von politischen, militärischen und auch wirtschaftlichen Gründen.
Die Argumente reichten von der Größe des ukrainischen Territoriums und der ukrainischen Streitkräfte bis hin zu den vorhersehbaren Reaktionen des Westens, zu denen auch lähmende Sanktionen gehören würden sowie zu den möglichen innerrussischen Auswirkungen.
Zweitens: Unerwarteter Widerstand der Ukraine
Zweitens haben die Ukraine als Staat und das ukrainische Volk viel mehr Widerstand geleistet, als man erwarten konnte. Die erbitterte Gegenwehr der Ukraine hat Russlands anfängliche Blitzkriegspläne, die darauf abzielten, die gesamte Invasion in nur vier bis fünf Tagen zu vollenden, schnell zunichte gemacht.
Stattdessen gelang es der Ukraine, die russische Offensive in der Region Kiew im Norden des Landes zu vereiteln, die Russen daran zu hindern, die Schwarzmeerküste einzunehmen, und sie sogar aus Charkiw zurückzudrängen - auch wenn sie dafür einen hohen Preis zahlen musste. Sowohl die ukrainische Armee als auch die Gesellschaft sind willens und in der Lage weiterzukämpfen.
Drittens: Wie schwach die russischen Streitkräfte aufgestellt sind
Drittens hat auch die schwache Leistung der russischen Streitkräfte überrascht. Der Hauptgrund für die anfänglichen Schwierigkeiten lag in der falschen Planung, konkret in der Annahme, dass die Ukraine ohne nennenswerten Widerstand zusammenbrechen würde.
In der Zwischenzeit hat der Krieg jedoch noch eine Reihe weiterer entscheidender Mängel in der Funktionsweise der russischen Streitkräfte offenbart: schwache Führung, miserable Befehls- und Kontrollsysteme, katastrophale Logistik und Wartung, veraltete militärische Ausrüstung - insbesondere gegenüber modernen Panzerabwehrwaffen -, anfällige Kommunikation und niedrige Moral.
Trotz all dieser Faktoren könnte Russland in der Lage sein, den Widerstand der Ukraine durch Zermürbung zu brechen.
Viertens: Die Geschlossenheit und der Wille zum Handeln des Westens
Viertens war die überraschend einhellige Reaktion des Westens auch für viele, einschließlich des Kremls, unerwartet. Die sechste Runde der EU-Sanktionen wird bereits verhandelt, die USA und andere NATO-Verbündete versorgen die Ukraine mit äußerst wertvollen nachrichtendienstlichen Informationen, darunter Berichten zufolge auch Echtzeit-Informationen über die Bewegungen der russischen Streitkräfte.
Viele westliche Länder versorgen die Ukraine nicht nur mit finanzieller und humanitärer Hilfe, sondern auch mit Waffen, zunehmend auch mit schweren Waffensystemen, obwohl letzteres noch im Januar dieses Jahres unvorstellbar war.
Fünftens: Russland ist massiv abhängig von westlicher Technologie
Die fünfte Überraschung ist die offenkundige massive Abhängigkeit Russlands von westlichen Technologien, die durch die Sanktionen und den Rückzug hunderter westlicher Unternehmen vom russischen Markt sichtbar wurde. Inzwischen ist Russlands ziviler Luftfahrtsektor ruiniert, vielen Werken der Rüstungsindustrie fehlen Mikrochips, die Autohersteller müssen Autos auch ohne importierte ABS und Airbags produzieren.
Viele weitere sich anhäufende Effekte werden erst in der Zukunft zu sehen sein. Dieses Ausmaß der Abhängigkeit von importierten Technologien kam wahrscheinlich auch für die russischen Entscheidungsträger überraschend.
Welche Auswirkungen hat der Ukraine-Krieg auf künftige Konflikte?
Letztendlich erwiesen sich viele der Argumente, die gegen den Ausbruch eines Krieges sprachen, als berechtigt. Dennoch entschied sich Russland für einen Angriff. Das bringt Implikationen für zukünftige Konfliktszenarien mit sich. Da die meisten Prognosemodelle auf der Annahme rationaler Akteure basieren, ist es eine komplizierte Aufgabe, vorherzusagen, wann der Gegner einen Fehler machen wird - also in anderen Worten, wann er nicht als völlig rationaler Akteur handelt.
Russlands Angriff auf die Ukraine war objektiv betrachtet ein schwerer Fehler, der aufgrund der strategischen Fehleinschätzung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit begangen wurde.