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22. März 2013

Ukraine: EU-Diplomatie in der Sackgasse

Mit ihrer Blockadepolitik wegen des Falls Timoschenko haben die Europäer ihre Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt

Statt dessen hätte man das lange verhandelte Assoziierungsabkommen mit Kiew unterzeichnen sollen. Das wäre ein starkes Signal an das zwischen Moskau und Brüssel schwankende Land gewesen und hätte die proeuropäischen Kräfte in der Ukraine gestärkt, die bei der Parlamentswahl im Oktober Zugewinne verzeichnen konnten. Der Reformeifer der Regierung hingegen ist erlahmt, die wirtschaftliche Entwicklung stockt und nun drohen der Ukraine auch noch Clankämpfe rivalisierender Oligarchen.

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Die Parlamentswahl im Oktober 2012 hatte zwei gegenläufigen Ergebnisse: Einerseits ist die Präsident Viktor Janukowitsch nahe stehende Partei der Regionen durch die klare Verfehlung der einfachen Mehrheit geschwächt worden. Infolgedessen hat die Bedeutung der Opposition im Parlament zugenommen und sind von diesem unabhängigere Debatten und Entscheidungen zu erwarten als in der Vergangenheit.

Andererseits konnte der Präsident bei der Bestimmung der neuen Regierung Personen aus seiner unmittelbaren Umgebung in Schlüsselpositionen bringen und so seine eigene Position stärken. Gleichzeitig sind damit Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Akteuren bzw. Oligarchengruppen vorprogrammiert, was auch von Bedeutung für die Präsidentschaftswahlen 2015 sein wird.

Der Druck auf die ukrainische Führung aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage des Landes wird durch diese anstehenden Konflikte sowie die Auseinandersetzung mit der politischen Opposition zunehmen. Damit nimmt der Spielraum weiter ab, eine Entscheidung über den zukünftigen Entwicklungskurs der Ukraine – vertieftes Freihandelsabkommen mit der EU versus Zollunion mit Russland – zum eigenen Vorteil weiter hinauszuzögern.

Parlament ohne Mehrheiten

Ein zentrales Ergebnis der ukrainischen Parlamentswahl war, dass weder die regierende Partei der Regionen noch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien Batkiwschtschyna, UDAR und Swoboda zusammen über die notwendige einfache Mehrheit von 226 Stimmen kommen. Daran konnte auch ein Übertritt von 25 parteilosen Abgeordneten in die Regierungsfraktion nichts ändern. Somit ist die Partei der Regionen auf die Zustimmung durch die erstarkte Kommunistische Partei angewiesen, die aber als unsicherer Koalitionspartner gilt.

Die Opposition unter Führung von Vitali Klitschkos Partei UDAR scheiterte zwar vorerst mit dem Versuch, Abstimmungen im ukrainischen Parlament bei persönlicher Anwesenheit durchzusetzen. Solch ein Gesetz würde insbesondere die Partei der Regionen treffen, über die bisher besonders viele Großunternehmer parlamentarische Immunität genießen, die sich bevorzugt vertreten lassen. Indem die Opposition ein zentrales antidemokratisches Prinzip des ukrainischen Parlamentarismus offensiv in Frage stellt, zeigt sie ein neues Selbstbewusstsein.

Gleichzeitig hat die Opposition eine Bühne erhalten und kann Initiativen des Präsidenten öffentlichkeitswirksam blockieren. Ein wichtiger Hebel zur Umgehung des Parlaments könnte das vom Präsidenten im November 2012 unterzeichnete Gesetz über ein allukrainisches Referendum sein. Dieses könnte dazu benutzt werden, über Volksabstimmungen die Verfassung oder Gesetze umzuschreiben, um so die Macht abzusichern.

Die Schwächung der Machtbalance

In der neuen Regierung ist der Einfluss der „Familie“, also Personen mit direkten Beziehungen zum Präsidenten und seinem ältesten Sohn Oleksandr, ausgebaut worden. Während die Gruppe um den wichtigsten Finanzier der Regierungspartei Rinat Achmetow ihre Position im Parlament bewahren konnte, haben die Gruppen um Dmytro Firtasch sowie um den ehemaligen Ersten Stellvertretenden Ministerpräsident Valeri Choroschkowskij an politischem Einfluss verloren. Dafür ist Firtasch mit der ermöglichten Übernahme von Firmen im ukrainischen Energiemarkt sowie einer der wichtigsten Mediengruppen des Landes entschädigt worden.

Die „Familie“ kontrolliert inzwischen personell Schlüsselministerien wie die für Finanzen, Energie, das Innenministerium, sowie das neugegründete Ministerium für Staatseinnahmen und Steuern. Diese Entwicklung hatte mit der Besetzung von Sergej Arbuzov als Gouverneur der Nationalbank begonnen, der mit der Position des Ersten Stellvertretenden Ministerpräsidenten nun eine Schlüsselrolle in der neuen Regierung spielt. Damit verfügt diese Gruppe über großen Einfluss innerhalb der Regierung, was von großer Bedeutung für die Präsidentschaftswahl 2015 werden könnte.

Der geschwächte Einfluss anderer Oligarchengruppen aus der Regierung und das wachsende Unbehagen der Achmetow Gruppe über die Expansion dieser neuen Akteure könnten im Vorfeld der anstehenden Präsidentschaftswahlen zu weiteren Konflikten führen. Dieser Kurs stellt das sensible Gleichgewicht zwischen den Oligarchengruppen in Frage, und kann mittelfristig durch die ukrainischen Machtgruppen nur sanktioniert werden.

Politischer Anspruch und ökonomische Realität

In der Ukraine sind gegenwärtig Tendenzen zu beobachten, das russische Modell einer Zentralisierung von Macht zu kopieren, ohne dass dafür aber die ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen bestehen. Das Land verfügt nicht über die notwendigen Ressourcen, um Modernisierungsdefizite kompensieren zu können. Gleichzeitig sind die Machtzirkel und die Zivilgesellschaft viel pluralistischer als das in Russland Anfang der 2000er Jahre der Fall war. Laut einer Umfrage des Razumkow-Zentrums unterstützten den Kurs des Präsidenten im November 2012 noch 15,5% der Befragten vollständig und 48,1% überhaupt nicht.

Die wirtschaftliche Entwicklung der Ukraine zeigt gegenwärtig klare rezessive Tendenzen; so war das Wachstum in den beiden letzten Quartalen 2012 jeweils negativ. Auch in diesem Jahr bleibt der Ausblick sehr verhalten; die meisten Beobachter gehen von einem BIP-Anstieg von etwa 1,0-1,5% aus, was sicher keinen Anstieg der öffentlichen Zustimmungswerte für die Entscheidungsträger zur Folge haben wird.

Freihandelsabkommen mit der EU?

Durch die einseitige Fokussierung auf machtpolitische Fragestellungen nach den Parlamentswahlen hat es die ukrainische Führung bisher versäumt, deutliche Signale in Richtung EU-Integration zu senden, und auch eine Wiederaufnahme der Kooperation mit dem IWF zur wirtschaftlichen Stabilisierung erscheint gegenwärtig unsicher.

Die Reaktion der ukrainischen Regierung auf das Ultimatum der EU-Kommission, erst dann das Freihandelsabkommen (DCFTA) zu unterschreiben, wenn eine Reform des Wahlsystems, ein Verzicht auf selektive Strafverfolgung und Fortschritte im Reformprozess erfolgt sind, war vorerst negativ: Die Aberkennung des Abgeordnetenmandats von Julia Timoschenkos Anwalt Sergeij Wlassenko und damit seiner Immunität durch das Oberste Verwaltungsgericht in Kiew gilt als direkte Reaktion. Der Vorschlag der Ukraine an die russische Seite im Vorfeld des Treffens der beiden Präsidenten Anfang März 2013 für die Gründung eines bilateralen Konsortiums im Gasbereich, in dem Gazprom Anteile am ukrainischen Pipelinesystem mieten könnte, weist eher in die Richtung einer Vereinbarung mit Russland als Gegenleistung für niedrigere Gaspreise.

Die EU hat sich mit ihrer Blockadepolitik wegen des Falls Timoschenko selbst in eine Sackgasse befördert und ist nur noch Zaungast in der innerukrainischen Auseinandersetzung bzw. der zwischen Kiew und Moskau. Die Chance rechtzeitig die proeuropäischen Kräfte in der Ukraine durch die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens zu stärken, ist damit zumindest vorerst vertan worden. Der Spielraum für eine Fortsetzung dieser Pendeldiplomatie zwischen der EU und Russland nimmt dabei jedoch stetig ab, wie ein Blick auf die Nachbarländer der Östlichen Partnerschaft zeigt. Während Moldau trotz innenpolitischer Krise auf einem guten Weg ist, wichtige Schritte Richtung EU zu vollziehen, ist Belarus in eine zunehmende ökonomische Abhängigkeit von Russland geraten.

Fazit

Trotz Ausbau der eigenen Machtposition im Rahmen der Neubesetzung der Regierung haben die Parlamentswahlen den Druck auf die Entscheidungsträger erhöht, die ökonomische Situation im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2015 spürbar zu verbessern. Dies erscheint aus heutiger Sicht als die mit Abstand wichtigste politische Fragestellung für die kommenden Jahre.

Mit der gegenwärtig zu beobachtenden Verzögerung wichtiger Reformschritte wie der EU-Assoziierung sowie einer Kooperation mit dem IWF bringt sich die Ukraine unnötigerweise selbst unter Druck, möglicherweise Kompromisse mit Russland abschließen zu müssen, die sich langfristig zum Nachteil des Landes erweisen würden. Es bleibt zu hoffen, dass dies von den handelnden Personen klar erkannt wird, und entsprechende Kurskorrekturen erfolgen. Das verbleibende Zeitfenster für solche Schritte nimmt weiter kontinuierlich ab, Eile ist daher geboten.

Dieser Beitrag ist im Newsletter der Deutschen Beratergruppe Ukraine unter dem Titel „Ukraine nach der Wahl: Die Grenzen der Pendeldiplomatie“ erschienen.

Bibliografische Angaben

Meister, Stefan. “Ukraine: EU-Diplomatie in der Sackgasse.” March 2013.

Deutsche Beratergruppe, Newsletter 55, 22. März 2013, 2 S.

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