Der Iran als Prüfstein für die europäische Geopolitik
Bei allen Krisen, die Deutschland und Europa derzeit beschäftigen, spielt der Iran nur eine untergeordnete Rolle. Dies hat zur Folge, dass sich die Bundesregierung der „Iran-Frage“ nicht im gebotenen Umfang widmet – ein Fehler. Denn das Land nur durch die „nukleare Brille“ zu betrachten, vernachlässigt andere, gleichermaßen besorgniserregende Herausforderungen – von denen die akute, aber auch langfristige Bedrohung durch die jüngsten Entwicklungen im Nachbarland Afghanistan nur eine ist.
Tatsächlich steht der Iran sinnbildlich für die globalen Konfliktlinien der Zukunft. Wie in vielen anderen kleinen und großen Staaten, die sich auf einem autoritären Kurs befinden, haben inzwischen auch im Iran die politischen Hardliner das Ruder übernommen. Angesichts einer Neuordnung regionaler Bündnisse innerhalb des internationalen Machtgefüges stellt sich die Frage, wessen Ordnung überdauern wird. Die laufenden Verhandlungen in Wien zum Erhalt der Wiener Nuklearvereinbarung von 2015, auch bekannt als Atomabkommen mit dem Iran oder als Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), widmen sich lediglich einem einzigen – wenngleich auch entscheidenden – Aspekt in dieser komplexen Konfrontation. Vordergründig soll der Iran durch die Gespräche daran gehindert werden, eine Atomwaffe zu entwickeln. Allerdings zielen diese diplomatischen Bemühungen auch auf zwei weitere wesentliche Dinge ab: erstens auf die Integrität des globalen Systems der Nichtverbreitung von Kernwaffen und zweitens auf den Einfluss der Supermacht USA und ihre Politik, nach Belieben Sanktionen gegen Drittstaaten zu verhängen. Entsprechend geht es bei den Verhandlungen auch um die Fähigkeit weiterer Mächte – nicht nur Chinas, Russlands und des Irans, sondern in geringerem Maße auch europäischer Länder –, sich einem solchen Druck zu widersetzen.
Deutschland kann derart umfassende Herausforderungen nicht allein bewältigen. Doch es kann maßgeblich auf die Festigung eines gemeinsamen europäischen Standpunkts hinwirken. Um der EU eine aktive Rolle in diesem globalen Wettstreit zu sichern, muss die nächste Bundesregierung ihre Iran-Strategie erweitern und den Einsatz politischer und personeller Mittel auf diplomatischer Ebene erhöhen. Weil die „Iran-Frage“ zu bedeutend ist, um sie (zu wenigen) Diplomaten und (einigen) Fachleuten zu überlassen, muss Deutschland wie folgt handeln:
- den Fokus stärker auf regionale Sicherheitsaspekte legen und alle Partner zu einer Rückkehr zum Atomabkommen ermutigen;
- eine umfassende regionale Agenda festlegen, die von der Beendigung von Stellvertreterkonflikten über die Sicherung der Seewege und die Investitionen in die Umweltkooperation bis hin zur Zusammenarbeit mit der Bevölkerung in allen betroffenen Ländern reicht;
- auf nationaler Ebene darüber aufklären, warum Deutschland und die EU auch mit problematischen Regimen zusammenarbeiten sollten, gerade, weil der Iran unter seiner neuen Führung für mehr Konfliktpotenzial sorgen wird.
RAHMENBEDINGUNGEN
Nationale Abschottung mit regionalen Folgen
Als Anfang August 2021 der ehemalige Oberste Richter Ebrahim Raisi die Nachfolge von Hassan Rohani im Amt des iranischen Präsidenten antrat, übernahmen die Hardliner die Kontrolle über alle Hebel der Macht. Doch dieser Wechsel nahe der Spitze – die oberste Befehlsgewalt liegt nach wie vor bei Ayatollah Ali Chamenei – zeugt eher von Kontinuität als von einem Wandel. Infolge des Rückzugs der USA aus dem Atomabkommen im Jahre 2018 und der anschließenden Politik des „maximalen Drucks“ der Trump-Regierung setzten sich in Teheran die Verfechter einer militärischen Sicherheitsstrategie gegen die Befürworter von politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit durch. Der neue Außenminister Hossein Amir-Abdollahian, auch als „revolutionärer Diplomat“ tituliert, ist für seine Zusammenarbeit mit konservativen Kräften aus dem Sicherheitsapparat bekannt. Und bei der Amtseinführung Raisis am 6. August saßen die Führer vom Iran unterstützter Milizen – Hamas, Islamischer Dschihad und Hisbollah – nicht zufällig prominent in der ersten Reihe.
Obwohl Chamenei die Bemühungen um eine Wiederbelebung des Atomabkommens angesichts der damit verbundenen Aufhebung von Sanktionen unterstützt, wird die Fixierung des Landes auf das Konzept der „strategischen Tiefe“ und seine „Achse des Widerstands“ in den kommenden Monaten an Bedeutung gewinnen. Beide sind mit spürbaren Folgen für die weitere Region nicht nur am Persischen Golf verbunden, sondern auch in Richtung Westen in der Levante, in Richtung Süden am Golf von Aden und – bezüglich des chaotischen Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan – vermehrt auch im Osten des Landes bis an die pakistanische Grenze.
„Strategische Tiefe“ bezeichnet eine im Sicherheitsapparat – insbesondere in den Reihen der Islamischen Revolutionsgarden – vorherrschende Doktrin, welche die Verteidigung des nationalen Territoriums weit außerhalb der Landesgrenzen einbezieht. Auf diese Weise hat die Eliteeinheit der Revolutionsgarden, das Quds-Korps, bereits Kämpfe im Irak, in Syrien und im Jemen geführt. Über kurz oder lang könnten sich die Revolutionsgarden nun genötigt sehen, ihre Präsenz in die östlichen Nachbarstaaten auszudehnen: Die (schiitische) Führung in Teheran begrüßt zwar den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan, blickt jedoch voller Sorge auf die Herrschaft der (sunnitischen) Taliban und die zunehmende Präsenz islamistischer Kämpfer im Nachbarland. So wie der Iran den sogenannten Islamischen Staat (IS) bis tief in den Irak bekämpft hat, könnte sich das Land veranlasst sehen, auch in Afghanistan härter einzugreifen.
Die „Achse des Widerstands“ dagegen bezieht sich auf die Allianz Teherans mit dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und der libanesischen Hisbollah sowie mit schiitischen Milizen im Irak und den Huthi im Jemen. Auch hier hatten vor allem die Revolutionswächter und weniger das Außenministerium ihre Hände im Spiel, wie der in den USA ausgebildete Ex-Außenminister Dschawad Zarif in einem zu Beginn des Jahres an die Öffentlichkeit gelangten vertraulichen Gespräch bitter bemerkte. Mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Hardliner wird sich der Iran künftig – und ganz im Gegensatz zum ursprünglich von Präsident Rohani erwünschten „Weg der Mäßigung“ – fast ausschließlich auf eine Strategie des Widerstands konzentrieren. Diese „Achse“ steht im weiteren Sinne für das Streben Irans nach einer Befreiung von der regionalen Hegemonie der USA durch einen Schulterschluss mit nicht-westlichen Kräften. Dazu gehört auch die Wahl Russlands zum wichtigsten Militärpartner im syrischen Einsatzgebiet oder Chinas zum wichtigsten Wirtschaftspartner (nicht zuletzt aufgrund umfassender US-Sanktionen, die europäischen Unternehmen Geschäftskontakte mit dem Iran untersagen).
HERAUSFORDERUNGEN
US-Rückzug und regionale Rivalitäten
Irans innenpolitische Abschottung wird verstärkt durch sich wandelnde regionale Bündnisse, die dem Land bisher auch weiterhin genutzt haben, obwohl US-Präsident Joe Biden den „maximalen Druck“ seines Vorgängers aufrechterhält. Diese Strategie ist nur ein Element des schrittweisen US-Rückzugs aus der Region, der mit Barack Obamas Hinwendung nach Asien, dem „Pivot to Asia“, begann und mit Donalds Trumps – und inzwischen auch Joe Bidens – Kampagne zur „Beendigung der endlosen Kriege“ fortgeführt wurde. Der desaströse Abgang aus Afghanistan und der Abzug der Kampftruppen aus dem Irak bis Jahresende zeugen ebenfalls davon, dass sich die USA zukünftig stärker im Asien-Pazifik-Raum engagieren wollen. Für Iran, der sich zur stärksten regionalen Macht am Persischen Golf aufschwingen will, kommt diese Strategie wie gerufen.
Einige arabische Staaten haben sich nach dem merklichen Einflussverlust der Schutzmacht USA an Israel gewandt, um ein Bündnis gegen Iran zu schmieden, wie die „Abraham-Abkommen“ Israels mit Bahrain beziehungsweise den Vereinigten Arabischen Emiraten deutlich machen. Allerdings haben sie auch klare Signale an Teheran übermittelt, dass sie eine Eignung mit ihrem Nachbarn einer Konfrontation auf allen Ebenen vorziehen würden. Der Iran hat mit seiner Zermürbungstaktik im Jemen und regelmäßigen Angriffen auf arabische Einrichtungen – seien es Ölanlagen an Land oder Schiffe in internationalen Gewässern – nicht nur Saudi-Arabien in Schach gehalten, sondern durch seine enge Zusammenarbeit mit Kuwait, Oman und Katar auch eine umfassende Annäherung zwischen den Golfstaaten verhindert. Ungeachtet dieser allgegenwärtigen Rivalität bieten sich dennoch zahlreiche Möglichkeiten einer praktischen themenbezogenen Zusammenarbeit: vom gemeinsamen Kampf gegen die Covid-19-Pandemie und die Auswirkungen des Klimawandels bis hin zum Umgang mit Migrationsströmen und religiösem Tourismus in der Region.
Nach dem Ende der Ära amerikanischer Dominanz am Persischen Golf wird die neue Ordnung sowohl von Anrainerstaaten als auch von externen Mächten bestimmt, die ihren Einfluss in der Region geltend machen wollen. Ersteren – allesamt nicht-demokratische Staaten – geht es um Regimestabilität und nationale Souveränität; letztere – China, Russland und zum Teil auch die Türkei – wollen das von den USA hinterlassene Vakuum füllen. Bislang bietet lediglich Chinas geopolitisches Projekt der „Neuen Seidenstraße“, die sich auf dem Land- und dem Seeweg durch die Region zieht, eine kohärente Zukunftsvision. Doch liegt diese wohl kaum im Interesse Europas.
EMPFEHLUNGEN
Ein umfassender Ansatz mit öffentlichem Rückhalt
Drei Aspekte müssen in diesem Zusammenhang ganz oben auf der außenpolitischen Agenda der nächsten Bundesregierung stehen. Sie muss:
- eine kohärente regionale Strategie für den Persischen Golf und die vielen gemeinsamen Herausforderungen in der Region erarbeiten. Darunter: Wasserknappheit, Seeverkehrssicherheit, soziale Ungleichheit und die desolate Menschenrechtslage. Die Einbindung von Nachbarstaaten in kollektive Sicherheitsmaßnahmen – im weitesten Sinne – gehört seit Jahrzehnten zu den Markenzeichen der europäischen Außenpolitik, und die nächste Bundesregierung täte gut daran, diese Strategie wiederzubeleben;
- einen „Plan B“ für den Fall entwickeln, dass die Atomgespräche in Wien erfolglos bleiben. Dies hängt am Ende vom politischen Willen der USA und des Irans ab, die bereits vereinbarte lange Liste technischer Maßnahmen umzusetzen. In Anbetracht der iranischen Fortschritte unter den gegenwärtigen Umständen müsste ein solcher Plan auch nicht-diplomatische Wege zum Unterbinden bedrohlicher nuklearer Aktivitäten aufzeigen. Dasselbe gilt für die beunruhigende Intensivierung von Saudi-Arabiens Bemühungen zur Entwicklung von Atom- und Raketentechnologie;
- die breite Öffentlichkeit an der Diskussion beteiligen. Heute wird jede Debatte über die richtige Iran-Strategie durch lautstarke Proteste über Teherans feindliche Haltung gegenüber Israel im Keim erstickt. Allerdings erlauben es die deutschen und europäischen Interessen im Bereich der nuklearen Nichtverbreitung, der sozialen Stabilität und einer umfassenden regionalen Wirtschaftsentwicklung sowie nicht zuletzt laufende Konsularfälle von EU-Bürgerinnen und Bürgern nicht, sich auf aufgehobene Weise von wenig genehmen Regimen abzuwenden – ungeachtet dessen, ob es sich dabei um Theokraten in Teheran oder Royalisten in Riad handelt. Hier könnten deutsche Abgeordnete eine zentrale Rolle bei der politischen Information ihrer Wählerschaft übernehmen, die sich – wie ihre Führung – nur langsam der großen außenpolitischen Herausforderungen Deutschlands bewusst zu werden scheint.