Die meisten Kommentatoren in Deutschland hüllen sich in diesen Tagen vor der US-Wahl in eine fast schon gelangweilte Gleichgültigkeit. Was auch immer am 3. November passieren werde, behaupten sie, viel werde sich für Europa sowieso nicht ändern. Joe Biden oder Donald Trump – der Unterschied liege mehr in der Form als in der Substanz. Der European Council on Foreign Relations berichtete, dass man sich in Deutschland und Frankreich auf einen Rückzug der USA einstelle, egal wer die Wahl gewinnt. Verwiesen wird auf eine Reihe von Konflikten mit den Vereinigten Staaten, die die Beziehungen auch weiterhin dominieren würden: Nord Stream II, die Lastenteilungsdebatte in der NATO und die Beziehungen zu China.
Obwohl diese Argumente nicht grundsätzlich falsch sind, verkennen sie doch, dass Biden und Trump fundamental verschiedene Weltbilder haben. Bei zahlreichen Themen der Außenpolitik sind ihre Ansätze deswegen sehr unterschiedlich, auch wenn das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nicht dazu gehört. Weil deutsche Entscheidungsträger zu sehr auf den europäischen Kontinent fokussiert sind, sehen sie sich selbst eher in der Rolle eines Objekts der amerikanischen Außenpolitik als der eines gleichberechtigten Partners. Deutschland erhebt aber den Anspruch, die Welt mitzugestalten. Es sollte daher fragen, wie es konstruktiv mit einer Regierung Biden zusammenarbeiten könnte, um einige der dringendsten Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam anzugehen.
Die Zukunft der multilateralen Ordnung hängt an dieser Wahl – von der NATO bis hin zu den Vereinten Nationen. Präsident Trump hat während der letzten vier Jahre enormen Schaden angerichtet, nicht nur in den transatlantischen Beziehungen, sondern auch vielen multilateralen Organisationen. Er sieht Allianzen als reine Transaktionsforen und verfolgt einen unilateralen, isolationistischen Kurs. Er droht Partnern, steigt aus Verträgen wie dem Iran-Abkommen JCPOA aus und entzieht internationalen Institutionen wie der UNESCO die Finanzierung. Unter Trump haben sich die USA aus der Führung der Weltordnung verabschiedet, die sie selbst nach Ende des zweiten Weltkrieges aufgebaut haben. Joe Biden legt dagegen großen Wert auf Amerikas Allianzen und Partnerschaften. Es ist zu erwarten, dass er versuchen wird, diese wiederzubeleben und den USA wieder eine starke Stimme in den multilateralen Foren zu geben.
Deutschland muss über seine Fehden mit den USA hinausschauen und mehr Verantwortung in der Welt übernehmen.
Es geht um zentrale Themen wie Rüstungskontrolle durch die Wiederaufnahme des Iran-Abkommens und die Verlängerung von New START, aber vor allem auch um den Kampf gegen den Klimawandel. Hier könnte Europa mit einem Präsident Biden einen wichtigen Partner gewinnen. Anders als Trump, der den Klimawandel leugnet, sieht Biden die Erderwärmung als „die größte Gefahr für unsere Sicherheit“. Er hat angekündigt, dem Pariser Klimaabkommen wieder beitreten zu wollen. Würden die USA als zweitgrößter CO2-Emittent mit einem Anteil von etwa 15 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen gemeinsam mit Europa eine Vorreiterrolle übernehmen, wäre dies für den Erfolg eines internationalen Klimaregimes von entscheidender Bedeutung.
Die globale Lage der Demokratie und der Menschenrechte hat sich in den letzten Jahren zusehends verschlechtert. Donald Trump biedert sich bei Autokraten und Diktatoren öffentlich an und verzichtet auf die Verurteilung von illiberaler Politik und Menschenrechtsverletzungen. Auch im eigenen Land steht der Präsident für ein Versagen im Bereich der Menschenrechte – sei es durch den brutalen Umgang mit illegalen Migranten und ihren Kindern oder das Vermeiden klarer Worte gegen rassistische Polizeigewalt. Trumps Widerwille, für Minderheiten und ihre Rechte einzustehen, lässt Kräfte erstarken, die demokratische Werte mit Füßen treten. Dadurch wird nicht nur der Ton in den USA selbst rauer, sondern die Vereinigten Staaten verlieren auch eine wichtige internationale Vorbildfunktion. Deswegen hat die Präsidentschaftswahl Folgen für die globale Zukunft der Demokratie.
Die große Mehrheit diesseits des Atlantiks hofft auf einen Sieg Joe Bidens. Das Zögern der Kommentatoren gegenüber dem demokratischen Kandidaten ist wohl vor allem ein Zeichen dafür, wie tief der Schock der letzten Wahl sitzt und wieviel Vertrauen seither verloren gegangen ist. Aber angesichts der globalen Pandemie und Wirtschaftskrise, menschheitsbedrohenden Waldbränden, Überflutungen und Wirbelstürmen, der Aggression von Mächten wie China und Russland sowie der Bedrohung unserer Grundwerte, haben Europa und die Vereinigten Staaten keine Wahl: Sie müssen zusammenarbeiten.
Deutschland muss über seine Fehden mit den USA hinausschauen und mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Mit Joe Biden dürfte sich dies als leichter, konstruktiver und ergiebiger erweisen als mit Donald Trump. Sollte Joe Biden am 3. November gewählt werden, wird dieser neue amerikanischer Präsident Partner brauchen, die ihre Hand ausstrecken – trotz der letzten vier Jahre.