Kommentar

25. Nov. 2014

Tunesiens Wahl setzt ein Zeichen, eine Wende ist sie nicht

Nach der Parlamentswahl blockiert der Konflikt um Staats- und Gesellschaftsmodell weiterhin Institutionen und Reformen

Die Parlamentswahl vom 26. Oktober zeigt, dass viele Wähler ein islamistisches Staatsmodell für Tunesien ablehnen. Sie verdeutlicht auch, wie zersplittert und zerstritten die Befürworter eines säkularen Modells sind, obwohl ihre Zusammenarbeit mehr denn je notwendig wäre, um Reformen umzusetzen und einen modernen, am Staatsbürgerkonzept ausgerichteten Staat aufzubauen. Europa sollte eine Konsensfindung zwischen den Säkularen unterstützen, damit Tunesien international zukunftsfähig bleibt.

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Seit dem Machtwechsel vom 14. Januar 2011 durchlebte Tunesien einen sehr turbulenten politischen Transformationsprozess. Ausschlaggebend für den Machtwechsel waren landesweite Proteste der Bevölkerung: Die Forderungen der Protestierenden, Arbeitsplätze zu schaffen, allen Bürgern ein Leben in Würde zu ermöglichen und die Entwicklung benachteiligter Regionen voranzutreiben, mündeten bis heute in keine kohärenten und systematisch umgesetzten Reformprogramme. Stattdessen brach ein Machtkonflikt um das künftige Staats- und Gesellschaftsmodell aus, nachdem die bislang verbotenen islamistischen Parteien und Vereinigungen im Anschluss an den Machtwechsel zur Demonstration der seit dem 14. Januar 2011 herrschenden „Zeit der Freiheit“ legalisiert worden waren.

Islamisten im Aufwind nach 2011

Die islamistischen Organisationen, allen voran die Partei Ennahda, profitierten von ihrem Status als Opfer und Verfolgte des alten Regimes. Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung am 23. Oktober 2011 errang Ennahda 87 von 217 Sitzen und wurde stärkste Fraktion. Mithilfe von zwei kleinen säkularen Parteien, deren Parteiführer von der Regierungsbeteiligung gelockt wurden, stellte Ennahda die Regierung und es gelang ihr, dem Transformationsprozess zunehmend ihre Agenda vorzuschreiben.

Unter der Ennahda-geführten Regierung verschlechterte sich jedoch die Sicherheitslage, nachdem tunesische islamistische Gruppen, versorgt mit Waffen aus Libyen – dessen staatliche Strukturen seit dem Bürgerkrieg 2011 vollends zusammengebrochen waren – in Tunesien immer aktiver wurden und Anschläge vor allem auf Militärangehörige verübten. Die staatlichen Gegenmaßnahmen erfolgten halbherzig und waren unzureichend. Der wirtschaftliche Reformprozess wurde nicht vorangetrieben.

Es zeigte sich 2012/13 zudem immer deutlicher, dass Ennahda in erster Linie an der Konsolidierung ihrer Macht und der Islamisierung des Staates in ihrem Sinne interessiert war. Ennahda-Mitglieder und Sympathisanten wurden auf Schaltstellen in Ministerien und der Verwaltung gesetzt, und die ihr nahestehenden Vereinigungen wirkten an der gesellschaftlichen Basis. Gewaltbereite islamistische Gruppen nahmen zu und Gewalt predigende Imame konnten ungestraft öffentlich auftreten.

Opposition aus der Zivilgesellschaft

Nach zwei politischen Morden an linken Politikern im Februar und im Juli 2013, für die Islamisten verantwortlich waren, mobilisierte der 780 000 mitgliederstarke Gewerkschaftsverband UGTT Widerstand, unterstützt von jenen Teilen der Zivilgesellschaft und Unternehmern, die ebenfalls diese islamistische Vereinnahmung des Staates stoppen wollten.

Das Beispiel Ägypten vor Augen, wo Proteste der Bevölkerung gegen die parteiische Politik des islamistischen Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 zu dessen Absetzung durch die Militärführung führten, lenkte Ennahda ein. Die Partei stimmte einem „Fahrplan“ zu, der endlich zur Verabschiedung der Verfassung führen sollte. Dieser Fahrplan verlangte auch den Rücktritt der Ennahda-geführten Regierung und die Einsetzung einer parteipolitisch unabhängigen Regierung bis zu den regulären Legislativwahlen 2014. Im Januar/Februar 2014 wurden diese Punkte formal erfüllt. Doch weder war die Regierung wirklich parteipolitisch unabhängig, noch kam es zur Rücknahme der parteipolitisch motivierten Ernennungen in der Verwaltung und im religiösen Bereich, wie dies im Fahrplan ebenfalls vereinbart worden war.

Das Eingehen auf die Forderungen der Opposition und der Rücktritt von der Regierung brachte Ennahda international viel Anerkennung. Dieses Verhalten wird oft als Beleg für Ennahdas Konsensfähigkeit gewertet. Dabei wird eines übersehen: Ennahda hatte zwar eingelenkt, aber nur, weil der Gegenwind zu stark war und ihrem Ansehen deutlich zu schaden drohte.

An der langfristigen Zielsetzung der Organisation, ihr islamistisches Staats- und Gesellschaftsprojekt in Tunesien zu verankern, hat sich nichts geändert. Das belegen auch die massiv fortgesetzten Aktivitäten islamistischer Vereinigungen und Prediger. Ennahda stimmte nur umständehalber aus taktischen Gründen zu, sich aus der Regierung zurückzuziehen; dieses Verhalten hat nichts mit Konsensfähigkeit zu tun. Einen Konsens kann es auch deshalb nicht geben, weil sich das islamistische und das säkulare Projekt für Staat und Gesellschaft gegenseitig ausschließen.

Keine klare Wahlentscheidung

Die raumgreifenden Aktivitäten islamistischer Parteien, Vereinigungen und bewaffneter Gruppen (die zudem über bedeutende Geldsummen verfügen, womit sie ihr Werben um Stimmen unterstützten) machten vielen Gegnern des islamistischen Projekts vor den Legislativwahlen Angst. Trotzdem kam es zu keiner strategischen Wahlallianz aller säkularen Parteien. Das Ergebnis der Parlamentswahl vom 26. Oktober 2014 belegt allerdings, dass die Ablehnung eines islamistischen Projekts in Tunesien hoch ist. Das Wahlergebnis hat gezeigt, dass die erst 2012 gegründete säkulare Sammlungsbewegung Nida Tounes („Ruf Tunesiens“) von vielen Wählern als Chance gesehen wurde, um das islamistische Projekt Ennahdas zu stoppen. Rund 62 Prozent der Wahlberechtigten gingen zur Wahl. Nida Tounes konnte sich 86 Sitze im 217 Sitze umfassenden Parlament sichern. Damit wurde Nida Tounes stärkste Fraktion; die Stimmen reichten aber nicht für die Mehrheit im Parlament. Ennahda wurde mit 69 Sitzen – 18 weniger als bei der Wahl 2011 – zweitstärkste Partei.

Das opportunistische Kalkül etlicher Parteiführer, die persönliche Ambitionen vor nationales Interesse stellen, droht auch weiterhin, das nichtislamistische Lager zu schwächen. Obwohl viele ein islamistisches Staatsmodell ablehnen, brachte die Wahl keine klare Richtungsentscheidung. Für das säkulare Staatsmodell fehlt es an einer ausreichend großen Zahl Politiker, für die eine politische Funktion nicht in erster Linie als Bühne zur Selbstdarstellung dient oder dazu, die eigene Klientel materiell zu versorgen.

Konflikte bestehen fort

Trotz Stimmenverlust gegenüber 2011 ist das islamistische Lager im Parlament stark und wird die Politik mitbestimmen, unabhängig vom Wahlergebnis der Präsidentschaftswahlen am 23. November und davon, welche Formel für die Regierungsbildung gefunden wird. Zur Regierungsbildung kommt es erst nach der Wahl des neuen Präsidenten. Im Falle einer Stichwahl, deren Termin auf Ende Dezember festgelegt wurde, verzögert sich die Regierungsbildung zusätzlich.

Zurzeit wird in Tunesien mit der neuen Regierung nicht vor Februar/März 2015 gerechnet. Die dringend nötigen Reformen im wirtschaftlichen, sozialen und entwicklungspolitischen Bereich werden also auf sich warten lassen. Eine weitere Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage droht, das bereits hohe Protestpotenzial zu verschärfen und die Regierbarkeit des Landes massiv zu beeinträchtigen. Ob die neue Regierung überhaupt handlungsfähig sein wird, ist die große Frage.

Säkulare brauchen Unterstützung

Europa muss sich auf anhaltende Konflikte in Tunesien einstellen. Aufforderungen zur gemeinsamen Regierung und zum Konsens zwischen Islamisten und Säkularen sind kontraproduktiv; die Reformblockaden der letzten Jahre würden sich fortsetzen. Die europäischen Staaten sollten massiv und ausschließlich all jene säkular orientierten Organisationen (Parteien, Gewerkschaften) und Vereinigungen unterstützen, die sich bemühen, staatsbürgerliches, am Allgemeinwohl orientiertes Denken zu verbreiten, ein modernes Staatsverständnis zu fördern und den defizitären Staats- und Nationenbildungsprozess endlich voranzutreiben.

Bibliografische Angaben

Faath, Sigrid. “Tunesiens Wahl setzt ein Zeichen, eine Wende ist sie nicht.” November 2014.

DGAPstandpunkt 8, 25. November 2014, 3 S.

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