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07. Okt. 2024

Technologische Scheinpotenz Europas: Wie über den Brüssel-Effekt hinaus globaler Einfluss gewonnen werden kann

European Union (EU) flag on a smartphone screen
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Brüssel und die europäischen Mitgliedsstaaten sind fest verankert in der Idee des Brüssel-Effekts. Einfach ausgedrückt besagt dieser, dass Europa seinen Markt reguliert und wegen der Größe des europäischen Marktes muss die Welt europäischen Standards folgen. Wer im europäischen Markt von 450 Millionen Bürger:innen seine Produkte verkaufen will, muss europäischen Standards folgen. Somit übt Brüssel Macht auch über seine Grenzen hinaus aus, wie zum Beispiel mit der Allgemeinen Datenschutzverordnung (DSGVO). Jede Organisation, die Daten von EU-Bürger:innen verarbeitet, muss diese DSGVO- konform verarbeiten, ob sie nun in Singapur, Australien oder Argentinien sitzt. Wenn aber Europa tatsächlich globalen Einfluss haben will, wird der Brüssel-Effekt nicht genügen.

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Vom Brüssel- zum Silicon-Valley-Effekt

Der Brüssel-Effekt hat nämlich äußerst eingeschränkte Wirkung. Einerseits läuft europäische Regulierung oft darauf hinaus, dass die Effekte hauptsächlich im EU-Binnenland greifen, so darf die Plattform "Threads" in Europa die Nutzerdaten, die in Threads entstehen, nicht automatisch mit Instagram verbinden. Instagram-Nutzer:innen können so einen Threads Account erstellen und müssen diesen nicht mit Instagram verbinden. Dies ist wichtig, da es Meta (Konzernmutter von Threads und Instagram) verhindert, Daten aus verschiedenen Plattformen zu fusionieren und seine Marktmacht, z. B. für gezielte Werbung zu missbrauchen. Hier sind die Effekte des europäischen Gesetzes über digitale Märkte (DMA) hauptsächlich auf Europa beschränkt. In den USA können die verschiedenen Plattformen noch immer fusioniert werden. Europas Macht beschränkt sich auf Europa.

Andererseits hat der Brüssel-Effekt nur Einfluss auf einen kleinen Teil des Produkts. Ein überragender Großteil der Funktionalität eines Geräts oder deren Software wird in Silicon Valley entschieden. Der Silicon-Valley-Effekt ist im Gegensatz zum Brüssel-Effekt inhärent für globale Machtausübung bestimmt.

Wegen all dieser Einschränkungen benötigt es eines erheblichen Umdenkens in Europa, um global größeren Einfluss ausüben zu können. Macht im technologischen Bereich erfasst man am besten in der Form eines technologischen Lebenszyklus: Rohmaterialien, Design, Produktion, Regulierung, Einkauf. Europa ist führend bei den letzten zwei Etappen. Die ersten drei Schritte werden meist von den USA und China dominiert. Diese Machtposition der USA und Chinas ist gut im Apple Slogan „Designed by Apple in California. Assembled in China" verpackt. Wenn man diesen Slogan gedanklich weiterführen würde, würde es heißen „Designed by Apple in California. Assembled in China. Bought by the European Union".

Europas Rolle beläuft sich meist aufs Einkaufen von elektronischen Gütern. Das müssen auch die wirtschaftlich ärmeren Länder sowie Zimbabwe oder Eritrea. Die Marktmacht von 450 Millionen ist eine passive Machtstellung und nicht der Politik der europäischen Mitgliedsstaaten oder der EU zu verdanken. Dieselbe Quelle an Macht haben auch China und Indien und sie müssen für diese passive Machtkapazität nichts tun.

Natürlich gibt es Ausnahmen in gewissen technologischen Bereichen, in denen Europa auch im Design und in der Produktion führend ist. So zum Beispiel ist ASML, welches Geräte zur Erstellung von Microchips herstellt, in den Niederlanden angesiedelt. Alle großen Halbleiterhersteller (TSMC, Intel) sind von ASML abhängig. Gleichwohl genießen Nokia und Ericsson im Aufbau von 5-G-Netzen weltweit eine führende Stellung. Aber diese Firmen sind eher Ausnahmen als die Regel.

Welche Macht hat man nun, wenn man in der Rohstoffgewinnung für Technologien, im Design oder in der Produktion von Technologien führend ist? Und was können Regulierung und ein großer EU-Binnenmarkt (das heißt der Brüssel-Effekt) nicht erbringen?

Bei der Rohstoffgewinnung hat China vor allem den Vorteil, dass es Druck auf Europa mit Exportbeschränkungen ausüben kann. Es tat dies im Juli 2023 mit der Exportbeschränkung von Gallium und Germanium, welche wichtig sind für die Erstellung von Mobiltelefonen, Solarpanelen und Halbleitern.

Unter Design wiederum kann man sich alles vorstellen, was Hardware oder Software definiert. Bei der Software ist es interessant, welche Informationen die Endnutzer:innen zu Gesicht bekommen. Sehen sie einseitige Informationen zu einem geopolitischen Konflikt? Sind die Videos nach den ethischen Regeln von Silicon Valley definiert? Ähnliches gilt für das Internet der Dinge (vernetzte Staubsauger, Smartwatches etc.) und komplexe KI-Systeme. Wie ohnmächtig ist Europa, wenn es fremde KI-Systeme nicht genau versteht? KI-Systeme, die den Verkehr in Städten regulieren oder für die Polizei Kriminalität in den Städten analysieren, sind so komplex, dass sie schwer verständlich sind. In den meisten Fällen werden die Systeme funktionieren, aber weiß die einkaufende Polizei tatsächlich, wie das System zu den Ergebnissen gekommen ist? Würde sie Manipulationen der Software durch einen außereuropäischen Staat entdecken?

Wie Technologie Macht fundamental verändert

Jahrtausendelang war Macht sichtbar und sie ist es teilweise immer noch, wenn z. B. Staaten Flugzeugträger in Krisenregionen senden. Aber je mehr Technologie Einzug in unser Leben hält, desto unsichtbarer wird tatsächliche Macht. Staaten und Bündnisse, welche technologisch abhängig von anderen Staaten sind, sind sich ihrer Schwäche oft nicht bewusst. Die EU hat lange die Rohstoffabhängigkeit von China ignoriert, bis Peking sie für ihre Zwecke benutzte. Technologischer Einfluss ist aber oft auch den Machtausübenden nicht bekannt. Um ein hypothetisches Beispiel zu geben: Die USA brauchten lange keinen Zugang zu Netzwerken in Angola. Da Angola aber nun hypothetischerweise eine Schuldenrückzahlung mit China verhandelt, ist Washington daran interessiert, Zugang zu Systemen des Präsidenten Angolas in Luanda zu bekommen. Ersten Nachforschungen der NSA (ein Nachrichtendienst der USA) zu Folge verwendet der Präsidentenamtssitz Netzwerkgeräte des US-Herstellers Juniper Networks, in welche die USA schon vor geraumer Zeit eine Hintertür eingebaut haben. Nun ist sich die USA ihrer Macht über Angola bewusst und kann diese auch ausüben.

Im Gegensatz zur traditionellen Macht wird eine Vielzahl technologischer Macht von Staaten nicht zur Schau gestellt. Paraden, welche Panzer und Kampfjets zur Schau stellen, eignen sich gut zur Einschüchterung von Feinden, weniger die Software, welche Fremde Systeme kompromittieren kann. Ganz im Gegenteil – diese wird aktiv verborgen. Wenn Angola wüsste, dass es Hintertüren in ihren Systemen gibt, könnte es erhöhte Sicherheitsmaßnahmen treffen. Auch im Ukrainekrieg sind technologische Spezifikationen von Drohnen und Artilleriegeräten streng geheim. Der Feind wird sogar aktiv desinformiert, um dann im Ereignisfall mit Fähigkeiten, die weit über das Bekannte hinausgehen, überrascht zu werden.

Europas Machtbewusstsein war jahrzehntelang im Schlaf. Der Angriffskrieg Russlands hat Europa zur Selbstverteidigung gebracht. Dies ist jedoch nicht genug.

Wo gilt es nun anzusetzen, um dies zu verändern?

Über die Grenzen hinaus – eine globale Technologiestrategie für Europa

Erstmal gilt es dazu strategische Gedankengänge in Europa zu etablieren. Zum einen geht es darum, europäischen Staatstragenden das Ziel näherzubringen, dass diese aktiv Machtkapazitäten über ihre unmittelbaren Grenzen aufbauen. Die meisten technologischen Maßnahmen sind in Europa auf sich selbst bezogen. Wenn in Europa De-Risking von China angesprochen wird, wird vom eigenen Ge-biet geredet. Man reduziert das Risiko chinesischer Technologien auf europäischem Boden. So wird etwa weniger Huawei und ZTE-Technologie in europäischen 4-G- und 5-G-Netzen verwendet. Wenn die USA von „decoupling" oder „de-risking" sprechen, reden sie nicht nur von ihrem Gebiet, sie sprechen von der Welt. Sie wollen China technologisch stärker von der Welt entbinden. Die USA haben technologisch die Welt im Blick, die EU sich selbst.

Wie baut man Machtkapazitäten auf? Dies kann auf verschiedenste Art und Weise geschehen, hier einige Beispiele. Im Grunde genommen geht es darum, in der Forschung und Kommerzialisierung von kritischen Technologien wie etwa Microchips, 5- und 6-G-Netze, Batterien, Software führend zu sein. Wenn man die Algorithmen für soziale Medien und KI in Europa entwirft, ist es am leichtesten, diese vor schädlicher Manipulation zu schützen oder sie mit europäischen Werten früh in Einklang zu bringen. Gleichzeitig muss Europa den Bau von globaler Infrastruktur strategischer betrachten. Die USA blockierten zum Beispiel ein Unterseekabel, welches von Amazon, Meta und China Mobile geplant war und Kalifornien mit Singapur, Malaysien und Hong Kong verbinden würde. Auf Druck der USA zog sich China Mobile aus dem Projekt zurück und auch ein Andocken des Kabels in Hong Kong war nicht mehr Teil der Planung. Der unterschwellige Grund für das US-Veto war Angst vor chinesischer Spionage. Mit ihrer Maßnahme limitierten die USA Chinas Machtkapazitäten und stärkten ihre eigenen. Sie nutzen ihre existenten Kapazitäten zur Machtausübung (Meta und Amazon sind amerikanische Unternehmen und konnten dazu bewegt werden, das Projekt ohne China Mobile durchzuführen).

Europa muss Machtkapazitäten aufbauen und maligne Machtausübung von anderen Großmächten verhindern. Brüssel, Berlin oder Paris haben keinen Einfluss auf die Spionagetätigkeiten von Peking, Moskau oder Washington. Durch die Verbreitung von kritischen Technologien, die von Europa entworfen wurden, und strategischen Infrastrukturprojekten, die von europäischen Unternehmen gebaut wurden, kann Europa weltweit Machtmissbrauch von anderen Großmächten reduzieren. Jedes Unterseekabel und Smart-City-Projekt, welches von europäischen Unternehmen durchgeführt wird, schützt vor Pekings oder Moskaus Machtmissbrauch.

Man sieht erste Anzeichen von großangelegter Förderung von kritischen Technologien in Europa. Deutschland arbeitet aktiv an Ansiedlung von Halbleiterfabriken. Frankreich hingegen eröffnete im Mai 2023 eine Batterie-Gigafabrik, welche Chinas Dominanz in diesem Sektor schwächen soll. Diese Investitionen sind wichtig, sie beschränken sich aber hauptsächlich auf den EU-Raum. Im EU-Ausland wird noch nicht strategisch gedacht. Wie könnte Europa die leitende Exporteurin von kritischen Technologien nach Südamerika, Südostasien oder Afrika werden? Welche Infrastrukturprojekte in Marokko, Indonesien oder Australien sind von Bedeutung für Europas Sicherheit und können den Machtkapazitätsaufbau und Einfluss von anderen Großmächten eindämmen? 

Der grundlegende Makel Europas ist heutzutage eine Angst vor Macht. Imperiale und koloniale Erinnerungen sind noch stark präsent und sie sollten es auch sein. Diese Begebenheiten sollten jedoch nicht ein Hindernis dafür sein, dass Europa weltweit und gezielt Machtkapazitäten im technologischen Bereich und darüber hinaus aufbaut. Der grundlegende Gedanke für europäische (Tech-)Außenpolitik sollte nicht sein, diese Macht auszuüben, sondern den Machtmissbrauch anderer Hegemonialmächte einzudämmen.

Letztens muss sich Europa auch bewusst werden, über welche technologischen Machtkapazitäten es schon verfügt. Der niederländische Halbleiterwerkzeughersteller ASML ist ein solches Beispiel. Ohne dessen Systeme können Chipfabriken weltweit nicht die neuesten Chips herstellen. ASML wurde von den USA gezwungen, seine neuesten Systeme nicht mehr nach China zu liefern, um Chinas Technologiefähigkeiten einzuschränken. Nun, dies ist ein Beispiel von technologischer Machtausübung, basierend auf europäischen Technologien. War es Machtmissbrauch? Wäre Europa je auf die Idee gekommen, dieses Asset zu nutzen? War es im Interesse Europas? Wie so oft, werden diese Fragen nicht in Europa gestellt oder beantwortet und Entscheidungen getroffen, sondern in einer der anderen Welthauptstädte.

Bibliografische Angaben

Weber, Valentin. “Technologische Scheinpotenz Europas: Wie über den Brüssel-Effekt hinaus globaler Einfluss gewonnen werden kann.” German Council on Foreign Relations. October 2024.

Dieser Text ist kürzlich im Buch „WAS: Macht!“ (Nr. 117), LIT Verlag erschienen. 

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