Kommentar

19. März 2018

Stabil instabil

Putins Wiederwahl wird den gesellschaftlichen Wandel nicht aufhalten

Seit 18 Jahren regiert Wladimir Putin Russland: Eine ganze Generation junger Erwachsener kennt nur ihn als nationale Integrationsfigur. Gerade diese Generation aber hat Putin abgehängt, indem er sich immer mehr als Führungsfigur der konservativen, vor allem kleinstädtischen und ländlichen Mehrheit positioniert hat. Den gesellschaftlichen Wandel wird er damit nicht stoppen können – und auf ihn sollte der Westen setzen.

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Seit 18 Jahren regiert Wladimir Putin Russland, was es de facto für ihn unmöglich macht, sich selbst weiter als Vertreter für Erneuerung und Wandel zu präsentieren. Deshalb inszeniert Putin sich als Stabilitätsanker in einer chaotischen Welt, als Führungsfigur, die den Russen nach außen globales Prestige und nach innen Berechenbarkeit vorführt. Ironischerweise verliert er gerade dabei die junge Generation, die nur Putin als nationale Führungsfigur kennt. Für die Generation Putin sind nicht Fragen von internationalem Prestige entscheidend, sondern ihre Zukunft in Russland. Alexei Nawalny, der einzige – aber nicht zugelassene – Kandidat mit einem echten Wahlkampf, hat genau diese Generation angesprochen. Für Deutschland und die EU wird es Zeit, eine langfristige Strategie für die russische Gesellschaft zu entwickeln, die nicht auf Putin als Stabilisator oder eine liberale Minderheit setzt, sondern auf eine russische Gesellschaft im Wandel, die patriotisch denkt, aber gleichzeitig globalisiert und vernetzt ist.

Nawalny spricht über Zukunft, Putin über Vergangenheit

Mit seiner Wiederwahl am 18. März wird Wladimir Putin Leonid Breschnew als am längsten herrschenden sowjetischen bzw. russischen Führer nach Stalin überholt haben und eine ganz Generation prägen, die mit 18 in diesem Jahr das erste Mal wählt und nur Putin als nationale Integrationsfigur kennt. Nachdem sich Putin mit seiner Wiederwahl 2012 dafür entschieden hatte, nicht mehr Präsident aller Russen zu sein, sondern nur der konservativen, vor allem kleinstädtischen und ländlichen Mehrheit, steht er mit dieser Wahl vor einem wachsenden Generationenkonflikt. Mit dem Kampf gegen die vermeintliche „fünfte Kolonne des Westens“ im Inneren hatte Putin seit 2012 zur eigenen Machtkonsolidierung vor allem den urbanen, mobilen und aktiven Teil der Gesellschaft aus dem Land getrieben. Jetzt ist mit Alexei Nawalny ein Kandidat zur Wahl nicht zugelassen worden, der mit seiner Kampagne in den sozialen Medien vor allem junge Menschen mit Themen wie Korruption, sozialer Gerechtigkeit und Freiheit anspricht und gnadenlos die Schwächen des Systems Putin offenlegt: Korruption, Selbstbereicherung, Arroganz und Realitätsverlust.

Putins Kampagne setzt auf eine negative Gegenwart; er führt Russland im Kampf gegen vermeintliche innere und äußere Feinde und schürt damit die Ängste einer alternden Gesellschaft. Nawalny dagegen appelliert an die positiven Gefühle vor allem junger Russen:  Dies ist ein wunderbares Land, ihr könnt es gestalten, wenn diese korrupten Eliten nicht mehr an der Macht wären, das ist seine Botschaft. Während Putin über die Vergangenheit spricht, redet Nawalny über die Zukunft. Über soziale Medien und einen eigenen Youtube-Kanal informiert und organisiert er seine Unterstützer. Damit hat er es geschafft, in einer eher unpolitischen Gesellschaft 200.000 Freiwillige für seinen Wahlkampf in den russischen Regionen zu motivieren. Es sind vor allem junge Menschen, die sich das erste Mal mit Politik beschäftigen und keine Angst vor den Sicherheitskräften haben. Sie sind oft keine Liberalen, sondern sehen sich als Patrioten. Sie wollen so leben wie im Westen, aber trotzdem anders sein.

Auch wenn der Kreml alles unter Kontrolle hat und Nawalny selbst in freien und fairen Wahlen gegen Putin unterliegen würde, so kann die politische Führung dieses Element von Unberechenbarkeit nicht zulassen: Es untergräbt ihre Autorität. Diese Wahl ist vor allem ein Referendum über Wladimir Putin, mit Kandidaten, die nur Statisten sind, und deshalb irritiert ein Kandidat, der nicht orchestriert werden kann. Die Liberale Xenia Sobtschak dagegen ist die perfekte Kandidatin für den Kreml: Sie erfüllt alle negativen Stereotypen, die die gelenkten Medien über den angeblich dekadenten Westen verbreiten. Sobtschak tritt für LGBT-Rechte, die Legalisierung von Drogen und europäische Werte ein und legitimiert damit quasi den offiziellen Diskurs und Putin als Kandidat der konservativen Mehrheit. Es ist schon erstaunlich, wieviel Medienzugang und Öffentlichkeit Sobtschak im Gegensatz zu Nawalny erhält und wie leicht es ihr gefallen ist, die nötigen Unterschriften für ihre Registrierung als Kandidatin zu bekommen: Ohne Zustimmung der Kremladministration wäre das alles nicht möglich.

Die Politik stagniert, die Gesellschaft wandelt sich

Sechs weitere Jahre Putin bedeuten vor allem sechs Jahre mit ökonomischer und politischer Stagnation. Fehlende Investitionen in Bildung, Forschung, Gesundheit und Infrastruktur stehen gleichbleibend hohen Ausgaben für die Modernisierung des Militärs, Einsätzen in Syrien und der Ukraine sowie Mittelabflüssen aus Staatsunternehmen durch Korruption zur Beruhigung der Machtelite gegenüber. Fehlende Antworten auf die Überalterung der Gesellschaft werden begleitet von der Abwanderung von Fachkräften und dem aktiven Teil der Gesellschaft. Die gute makroökonomische Politik der letzten Jahre hat zwar dazu geführt, dass es 2017 keine hohe Inflation gab und die offizielle Arbeitslosenquote unter sechs Prozent geblieben ist. Doch gleichzeitig sinken die Einkommen schon seit Jahren, das Budgetdefizit lag 2017 bei 1,7 Prozent und wird für dieses Jahr mit 1,3 Prozent erwartet. Das bedeutet dauerhafte Stagnation. Russland bleibt ohne Wachstumschancen – es sei denn, der Ölpreis schießt auf Werte, die auf absehbare Zeit unrealistisch sind.

Dem ökonomischen und politischen Stillstand steht ein gesellschaftlicher Wandel gegenüber, den auch Putin nicht aufhalten kann. Die Offenheit Russlands seit 30 Jahren, die Digitalisierung und die Globalisierung haben auch die russische Gesellschaft pluralisiert. Viele Russen leben genau in jenem westlichen Ausland oder lassen ihre Kinder dort studieren, welches das Regime in der offiziellen Propaganda als im Niedergang beschreibt. Sie halten Kontakte zu ihren Freunden und Verwandten in Russland, der Austausch ist trotz Desinformation nicht zu kontrollieren. Die Generation Putin ist vernetzt, sie sieht oft dieselben Serien und hört dieselbe Musik wie Gleichaltrige im Westen. Sie ist in der breiten Masse ähnlich wenig politisiert, glaubt ihren Freunden eher als staatlichen Institutionen oder gar Medien und informiert sich eben nicht aus den gelenkten Fernsehkanälen, sondern aus dem Internet, wenn sie sich überhaupt für Nachrichten interessiert. Junge Russen wollen leben wie im Westen, sie legen Wert auf Freiheiten und individuelle Entwicklung. Zugleich fühlen sie sich eher konservativen Werten und russischem Patriotismus verbunden. Auch da unterscheiden sie sich nicht so sehr von Trends in westlichen Gesellschaften, die das neoliberale Paradigma der 2000er Jahre ablehnen und eher für soziale Gerechtigkeit und die Renaissance der Familie stehen.

Langfristig Russlands gesellschaftlichen Wandel begleiten

Aus deutscher und EU-Perspektive bedeutet all das, dass Putin ein Mann der Vergangenheit ist. Er kann den gesellschaftlichen Wandel nicht aufhalten, denn unter dem Deckel der Repression und Kontrolle brodelt es weiter. Zwar gibt es im Moment keine relevante Opposition, die Putin gefährlich werden könnte. Doch die wachsende soziale Ungerechtigkeit, administrative Fehlentscheidungen und Korruption bleiben nicht unbemerkt und nicht ohne Folgen: Die Zunahme spontaner Demonstrationen in verschiedenen Landesteilen weist darauf hin, dass die nächsten sechs Jahre für Putin mehr Ressourcen nach innen binden werden.

Putins erfolgreiches Ablenken von inneren Defiziten durch Außenpolitik sollte Deutschland und die EU nicht davon abhalten, langfristig den gesellschaftlichen Wandel in Russland zu begleiten. Es braucht eine positive Vision für die Zukunft Russlands in Europa, die über Putin hinausdenkt, soziale Trends erkennt und diese in ihre Politik einbezieht. Nur eine erfolgreiche EU, die globalisiert und vernetzt ist, in diesen Trends eine Chance sieht und so Ängste überwinden hilft, kann als Rollenmodell für die Generation Putin dienen.

Dabei geht es auch darum, die russische Gesellschaft zu akzeptieren, so wie sie ist und nicht so, wie wir sie uns wünschen. Das bedeutet insbesondere, nicht nur zum liberalen, aber eher irrelevanten Teil der Opposition Kontakte zu pflegen, sondern auch zum relevanteren patriotischen Teil der russischen Gesellschaft. Russland verstehen heißt nicht, sich durch Putins Außenpolitik oder gelenkte Debatten blenden zu lassen. Es bedeutet, den gesellschaftlichen Wandel in Russland trotz der Wiederwahl Putins langfristig zu begleiten. Dafür wären Visaerleichterungen und mehr Programme für junge Menschen im Bildungsbereich zumindest ein Anfang.

Bibliografische Angaben

Meister, Stefan. “Stabil instabil.” March 2018.

DGAPstandpunkt 4, 22. Februar 2018, 3 S.

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