Die ersten russischen Raketen schlugen vor zwei Monaten in Kiew ein. Seitdem hält die Ukraine der russischen Aggression stand. Der militärische Erfolg der Ukraine hat viel mit den leichten Waffen zu tun, mit den Flugabwehrraketen und Drohnen, die der Westen lieferte. Doch damit dieser Erfolg anhält, benötigt die Ukraine nun schwere Waffen, sie braucht etwa gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie.
Bei der Abwägung über solche Lieferungen scheinen in Deutschland zwei Ziele aufeinanderzuprallen, sich gegenseitig auszuschließen: Die Verlässlichkeit der deutschen Zusagen gegenüber der Nato auf der einen Seite – und die Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Streitkräfte auf der anderen. Kanzler Olaf Scholz und das Verteidigungsministerium wollen nun offenbar zumindest Gepard-Flugabwehrpanzer liefern, sie argumentieren aber gegen die Lieferung von anderem schwerem Bundeswehr-Gerät, etwa dem Schützenpanzer Marder. Deutschland, sagen sie, könne sonst seine Nato-Zusagen nicht erfüllen.
Numerisch stimmt das, generell liegt Deutschland bei vielen Ausrüstungsgegenständen unter dem Sollstand. Es ist aber vor allem eine politische Abwägungsfrage, ob die Unterstützung für die Ukraine vorübergehend Vorrang gegenüber Nato-Verpflichtungen haben kann. Daher widersprechen sich die beiden Ziele letztlich nicht: Die Landes- und Bündnisverteidigung kann in der derzeitigen Lage teilweise hinter die Durchhaltefähigkeit der Ukraine zurücktreten.
Das Handeln Deutschlands und der Alliierten sollte zusätzlich von einem Plan geleitet sein, der die dauerhafte Versorgung der Ukraine mit Waffensystemen, inklusive Ausbildung und technische Unterstützung sicherstellt, anstatt wiederholt nur auf akute Herausforderungen und tagespolitische Debatten zu reagieren.
Grundlage für die Nato-Zusagen der Alliierten sind sogenannte Eventualplanungen: in Szenarien wird durchgespielt, wie ein Gegner die Nato angreifen könnte und was jedes Land zur Verteidigung beisteuern müsste. Doch der Ukrainekrieg findet jetzt und konkret statt. Er ist kein Planspiel. Der Ausgang des Krieges wird Europas militärische Sicherheit bestimmen – und auch die künftigen Aufgaben der Nato.
Ein ukrainischer Sieg liegt im westlichen Interesse
Ein Sieg Russlands würde die Sicherheit der Europäer verringern: Moskau würde nicht nur seine Grenze praktisch weiter nach Westen an die Nato heranschieben. Moskau könnte auch schlussfolgern, dass es mit einem Angriffskrieg in Europa seine politischen Ziele durchsetzen kann – gegen ein schwaches Europa. Eine souveräne Ukraine, die ihrer Vernichtung durch Russland widersteht, wäre das beste Ergebnis für Europas zukünftige Sicherheitsordnung.
Zudem: Je besser sich die Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland schlägt, desto geringer sind – zumindest kurzfristig – die Anforderungen an die Nato an der Ostflanke. Daher liefern die baltischen Staaten schon jetzt, gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, beachtliche Mengen an Ausrüstung in die Ukraine.
Tatsächlich hat die Nato, auch Deutschland, bislang billigend Lücken in den Nato-Zusagen in Kauf genommen. Deshalb, und weil Europa sich einer direkten Bedrohung gegenübersieht, dürfen formale Anforderungen in der politischen Bewertung in den Hintergrund treten.
Dass Russland eine zweite Front zur Nato eröffnen wird, ist unwahrscheinlich. Moskau hat keine Eskalationsbereitschaft gegenüber der Nato gezeigt: Die Abschreckungslogik für das Nato-Territorium funktioniert. Zumindest kurzfristig reduziert der Ukrainekrieg die Angriffsfähigkeit Russlands. Und je besser sich die Ukraine schlägt, desto geringer wird Russlands Fähigkeit Angriffskriege zu führen in der Zukunft sein.
Damit die Ukraine und der Westen ihre Ziele erreichen können, brauchen sie in der derzeitigen Phase des Krieges vor allem schwere Waffen. Die Feuerkraft der russischen Luftwaffe und des Heeres ist nun auf den Donbass und den Süden der Ukraine konzentriert. Deshalb wird es in den nächsten Wochen zu intensiven Gefechten kommen, die in großen Räumen statt in urbanem Gelände stattfinden. Die Ukraine wird ebenso massiv antworten müssen, um ein Vorrücken der russischen Kräfte zu verhindern oder wenigstens zu verlangsamen.
Die Ukrainer brauchen gepanzerte Fahrzeuge, Panzer- und Raketenartillerie, Flugabwehr
In diesen Gefechten zählen Feuerkraft und Schutz, also Panzerung – leichte Fahrzeuge hingegen, mit geringer Bewaffnung und leichtem Schutz, werden schnell zu Todesfallen für die Soldaten. Die ukrainischen Streitkräfte benötigen daher neben Aufklärung auch gepanzerte Fahrzeuge, bewegliche Panzer- und Raketenartillerie sowie Flugabwehr.
Russland hat einen Vorteil bei diesen schweren Waffen. Es verfügt über eine weitaus höhere Zahl und damit über größeres Durchhaltevermögen. Zudem kann Russland seine Systeme derzeit noch reparieren und zumindest in geringen Mengen aus eigenen Reserven ersetzen. Diese Option steht der Ukraine immer weniger zur Verfügung, weil Russland die Werkstätten systematisch zerstört.
Die westlichen Staaten wollen einen russischen Sieg verhindern. Es muss also das Ziel sein, den russischen Vorteil auszugleichen. Die Lieferung von verfügbarem Ex-Sowjet-Material, wie T-72-Panzern und S300 Flugabwehr, ist ein richtiger erster Schritt.
Der Krieg aber wird noch dauern. Die Verlustraten sind erwartbar hoch, die jetzt gelieferten alten sowjetischen Systeme werden in absehbarer Zeit zerstört sein. Und die Vorräte an verbliebenen Sowjet-Systemen in Nato-Staaten sind endlich. Die westlichen Staaten sollten deshalb schon jetzt einen Plan entwickeln, wie sie die Ukraine langfristig unterstützen können. Dabei werden zunehmend westliche Systeme eine Rolle spielen.
Die systematische längerfristige Versorgung der Ukraine mit westlichen Waffensystemen muss bereits jetzt geplant werden. Dies betrifft nicht nur das Material selbst, sondern auch Ausbildung, den Aufbau der Technik- und Logistikketten, um etwa Wartung und Reparaturen zu gewährleisten. Natürlich wird die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte Zeit kosten.
Aber gerade weil der Krieg noch Monate dauern dürfte, lohnt es sich, damit jetzt anzufangen. Gleichzeitig, damit die Versorgung der Ukraine mit Waffen nicht abreißt, braucht es kurzfristige Lieferungen.
Erst Sowjet-Material liefern, dann westliche Systeme
Konkret sollte der Westen in drei Schritten vorgehen:
Erstens sollten die westlichen Staaten das verbleibende Material sowjetischer Herkunft liefern, etwa T-72-Panzer, von denen noch über 800 in Nato-Staaten existieren. Parallel dazu sollten sie die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte an westlichem Material intensivieren, wie jetzt mit der Panzerhaubitze 2000 und dem Artilleriesystem César begonnen, und auf weitere Ausrüstung, wie Schützenpanzer Marder, ausweiten. Zudem sollten die Nato-Alliierten einen Plan erarbeiten, welche temporären Einschnitte in Nato-Verpflichtungen akzeptabel wären und wie sie aufgefangen werden können. Alliierte, die ohnehin schon in multinationalen Verbänden kooperieren, könnten sich gegenseitig unterstützen und Lücken füllen.
Die zweite Phase beinhaltet die systematische Einführung von schwerem Material aus westlichen Streitkräften. Hier bieten sich Systeme an, von denen viele vorhanden und wenige an der Ostflanke gebunden sind: Die Panzerhaubitze 2000 wird auch von Italien genutzt, Versionen des Leopard-Panzers von Griechenland und der Türkei. Für eine Abgabe des Marder-Schützenpanzers ist zu klären, ob andere Nato-Staaten oder die Industrie diese Lücke füllen können.
Drittens sollte die Umstellung auf eine dauerhafte Versorgung der ukrainischen Streitkräfte durch die westliche Industrie geplant werden. Militärische Güter, vom Sturmgewehr bis zur Flugabwehr, werden explizit für die Ukraine produziert. Später kann die Produktion teilweise in die Ukraine verlegt werden.
Das Füllen der Lücken in den westlichen Streitkräften bietet zudem die große Chance, diese zu modernisieren und zu vereinheitlichen, etwa wenn alte T-72-Panzer durch westliche Modelle ersetzt werden – ein lange erklärtes Ziel aller deutschen Bundesregierungen. Deutschland könnte hier als rüstungsindustrieller Partner dienen.
Ein solches Vorgehen ist nur erfolgreich, wenn alle Nato-Staaten gemeinsam handeln. Hilfreich wäre ein Nato-Beschluss, der die Lieferung schwerer Waffen ausdrücklich unterstützt. Der Beschluss müsste klarstellen, dass unter bestimmten Bedingungen die Unterstützung der Ukraine Priorität hat – und temporäre abgesicherte Einschnitte in Nato-Verpflichtungen akzeptabel sind. Das würde auch die deutsche Sorge vor einem Alleingang und einer möglichen militärischen Eskalation lindern.
Die Lehre aus den vergangenen Kriegswochen ist, dass unter dem Eindruck existenzieller Bedrohung viele Dinge möglich geworden sind, gerade angesichts der Kreativität und hohen Moral der Ukrainerinnen und Ukrainer. Das sollte Europa ermutigen: Die kurzfristige Verteidigungsfähigkeit der Ukraine kann sichergestellt werden – auch ohne den perfekten Betrieb der Systeme nach westlichen Vorstellungen.