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19. Febr. 2024

Schluss mit den Bonsai-Industrien - aber schnell!

Abbildung: Armed Forces Day, Vilnius 2023
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Der Krieg ist zurück auf europäischem Boden, die Unterstützung der USA für Europa wird in Frage gestellt. Beides setzt neue Maßstäbe für die Größe und Dauer der notwendigen Anstrengungen im Bereich Sicherheit und Verteidigung. Verteidigungsfähigkeit hat jetzt eine Deadline: Jüngste Schätzungen gehen von 3 bis 5 Jahren aus, die den Europäern bleiben, um ihre Verteidigungsfähigkeiten wieder herzustellen, nachdem die Hauptkampfhandlungen in der Ukraine zum (zwischenzeitlichen) Stillstand kommen.

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Ende der Bonsai-Industrien

Militärische Effektivität und Geschwindigkeit stehen nun an erster Stelle, Redundanzen in der industriellen Kapazität und größere Mengen in der Produktion sind das Ziel, da die Europäer sie als wesentlich für die Bekämpfung von Kriegen der Notwendigkeit wiederentdecken. Dies verändert auch das künftige Geschäftsmodell der Industrie: Sie muss schneller viel liefern, statt langfristig Hightech in homöopathischen Dosen. Für die EU mit ihren Institutionen, Industrien und die Staaten Europas ist dies der größte Test seit Bestehen der Sicherheitsordnung nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Scheitern sie, werden sie alle ihre eigenen negativen Konsequenzen tragen:

  • Die primäre Aufgabe der Daseinsvorsorge wird noch schwerer von den Staaten zu erfüllen sein. 
  • Institutionen und damit Kooperation werden weiter delegitimiert in einer Welt, in der staatliche Geopolitik von Autokratien sich genau gegen diese Institutionen mit ihrer Macht durch Recht und Kompromiss richtet. 
  • Die europäischen Industrien werden Anteile zugunsten anderer Produzenten verlieren, die liefern können.

Rüstung ist kein (normaler) EU-Markt

Die EU zeigt bereits extremes Engagement und ergreift außergewöhnliche Maßnahmen, sei es im Bereich der Sanktionen, der Energiepolitik oder bei der Unterstützung der Ukraine. Doch ausgerechnet der EU-Bereich Sicherheit und Verteidigung verharrt in seiner alten Welt von vor dem Krieg. Wichtige Leitlinien der EU im Bereich der Verteidigung sind nicht angepasst. Die EU hat für die Industrie und die Streitkräfte wenig bis nichts geändert. 

Schon in dieser alten Welt funktionierten die eigenen Prämissen in der Praxis nicht: Zwei Jahrzehnte des Versuchs, Verteidigung als Markt zu behandeln und Konsolidierung als zentrales Instrument, zeigen: So einfach ist es nicht. EU-Regulierung, Geld und das Versprechen von mehr ökonomischer Effizienz sind für die Mitgliedstaaten nicht attraktiv. Ihre Verteidigungsinvestitionen leiten die Europäer größtenteils um die EU herum. Dass sie dabei industrielle und militärische Fähigkeiten verlieren, wissen sie entweder nicht, oder es ist ihnen nicht wichtig. Alle Weisheiten über Skaleneffekte durch Kooperation bleiben theoretisch richtig. In der Praxis jedoch erzeugt derzeit nur die USA diese Skaleneffekte in, mit und für Europa.

Bilanz und Zeitdruck verbieten ein einfaches „weiter so“ entlang abstrakter Konzepte. Es gibt aber weiterhin eine Rolle für die EU, wenn sie ihr Verhältnis zu Staaten und Industrie attraktiver gestalten kann.

EU-Rüstung: now or never

Die folgenden Punkte können dazu beitragen, dass die EU wieder an Bedeutung gewinnt, indem sie die Verteidigung Europas innerhalb und außerhalb des institutionellen Rahmens der EU unterstützt:

  1. NATO-Ziele werden der Goldstandard: Priorität eins ist die Vereidigungsfähigkeit Europas. Dem stimmen auch die 22 EU-Staaten zu, die zugleich in der NATO sind. Deshalb sollten die Fähigkeitenziele der NATO die Grundlage für das Ambitionsniveau der EU bedeuten und den Beitrag definieren, den die EU leisten wird. Dies werden die Verteidigungsplanung und Kooperationsangebote der EU für alle Staaten inklusive der USA und der Ukraine relevanter machen.
  2. Prinzipien der ökonomischen Effizienz und militärischen Effektivität neu ausbalancieren: Das wirtschaftliche Risiko großer Investitionen in suboptimale Dinge wird man in diesen Zeiten eingehen müssen. Es ist verteidigungsplanerisch immer noch besser, sich zu verbessern, als mit nichts dazustehen und keine Zeit zu haben, irgendwelche Handlungsfähigkeiten zu schaffen.
  3. Gestaltung der industriellen Basis: Quantität ist das Wichtigste – aus einem einfachen Grund: Die Produktion von neuen innovativen Kampfsystemen verschlingt Zeit, die wir nicht haben – im Schnitt 10-15 Jahre, ohne Gewähr, dass die Innovation gelingt. Der Bedarf ist aber kurzfristig vorhanden: Militärisch wie industriepolitisch ist derjenige im Vorteil, der diesen Bedarf decken kann. Das bedeutet, jene Produkte in Masse zu produzieren, die jetzt schon funktionieren und in 5 Jahren in entsprechender Quantität verfügbar sein könnten. Hier sollte die EU ihre Förderung anpassen und ermöglichen, dass alles, was Priorität hat, keine Neuentwicklung verlangt und den Europäern zugute kommt, produziert werden kann – bis hin zur Förderung der Kapazität einzelner Großunternehmen.
  4. Konzentration auf den Bereich der Landkriegsführung: Die EU könnte gemeinsam mit der Industrie ein europäisches Fahrzeug mit einem europäischen Mindeststandard und einem Festpreis für alle, basierend auf bestehenden Systemen für Kampfpanzer oder Schützenpanzer, entwickeln. Damit fällt Innovation nicht aus. Sie wird sich in kleineren, aber schnelleren Schritten vollziehen oder auf diejenigen Staaten verlagern, die ohnehin ihre Technologien nicht gern teilen.
  5. EU-owned: Die Option, dass die EU selbst Fähigkeiten kauft und betreibt oder verleiht, besteht bis heute. Für Standardprodukte könnte die EU als Großeinkäufer und Leasingagentur einen Unterschied machen – nicht bei Kampfsystemen, aber bei vielen Dingen, die mit Logistik und Aufklärung zu tun haben. Beim Aufbau kritischer Infrastrukturen könnte sie die Prioritäten des EU-Haushalts verschieben und z. B. den Zugang zum Strukturfonds mit dem anderer Instrumente verbinden. Ebenso attraktiv wäre dann eine prioritäre Umsetzung von Maßnahmen in den Regionen. Das schafft zugleich das Ownership bei den Betroffenen, weil es um eine positive Investitionsagenda geht.
  6. Defence decade bei Kapazitäten und Vorschriften: Die kommende EU-Strategie für die Verteidigungsindustrie sollte zwei Schwerpunkte setzen: Kapazitätsaufbau, um eine 2024 ff. stark wachsende Nachfrage aufzunehmen und damit eine neue Chance für einen europäischen Markt zu schaffen. Zweitens ein 10-jähriges Moratorium für jene Normen und Vorschriften vorbereiten, die der Bedarfsdeckung im Verteidigungsbereich entgegenstehen.
  7. Einbindung der Ukraine: Weil die Ukraine schon jetzt ein Sicherheitslieferant für Europa ist, sollte sie in die europäische Verteidigung einschließlich der industriellen Verteidigungsbasis schnell einbezogen werden. Sie stellt darüber hinaus einen einzigartigen Erfahrungsschatz und Laboratorium für Verteidigung und Rüstung dar.

Bibliografische Angaben

Mölling, Christian. “Schluss mit den Bonsai-Industrien - aber schnell!.” February 2024.

Dieser Artikel erschien zuerst in einer Sonderveröffentlichung zum Thema Sicherheit & Verteidigung des Handelsblatt Journals für Februar 2024.

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