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17. Jan. 2019

Der Brexit, Krise in Frankreich und Italien – Europa ist in einem schlechten Zustand. Es ist Zeit, sich auf die Stärken des Kontinents zu besinnen, meinen Marcel Fratzscher, Daniela Schwarzer und Guntram Wolff.

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Im Wahljahr 2019 kann europapolitisches Zögern zur Gefahr werden. Der Zusammenhalt der EU steht auf dem Spiel. Die Europawahl und der Ausgang der Wahlen in einigen EU-Mitgliedstaaten werden in diesem Jahr zeigen, ob antieuropäische, illiberale Kräfte weiter auf dem Vormarsch sind – oder ob es gelingen wird, Europa zukunftsfähig zu machen. Viele blicken derzeit pessimistisch auf die Lage in der EU.

Frankreichs proeuropäischer Präsident Emmanuel Macron ist nach wochenlangen gewaltsamen Protesten politisch angeschlagen. Auf seinen mutigen europapolitischen Vorstoß hat Berlin nur zögerlich reagiert – auch in Deutschland haben innenpolitische Unruhe und Polarisierung Folgen für den europapolitischen Handlungswillen. In Italien verweigert sich derweil eine populistische Regierung wichtigen Reformen und nutzt Europa als Sündenbock. Großbritannien hat sich entschieden, die EU zu verlassen, ein „harter Brexit“ steht im Raum. In einigen mittelund osteuropäischen Staaten mag die Bevölkerung zwar EU-freundlich sein, hat aber Regierungen an die Macht gebracht, die die Prinzipien von liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit untergraben.

Reformen müssen weitergehen

Derweil wächst auch der äußere Druck auf Europa: Konflikte um Handel und Verteidigung mit US-Präsident Donald Trump, geopolitische Spannungen und ein zunehmend selbstbewusstes China sowie ein nach wie vor aggressives Russland sind große Herausforderungen. Die schwierige Aufgabe der EU besteht nicht nur darin, ein gemeinsames Vorgehen gegenüber diesen strategischen Konkurrenten zu definieren. Sie muss sich auch darauf einstellen, dass alle drei Akteure versuchen werden, die EU zu spalten.

Diese sehr ernst zu nehmenden inneren und äußeren Herausforderungen überdecken positive Entwicklungen und Chancen innerhalb der EU. Europas wirtschaftliche Aussichten für das Jahr 2019 sind besser, als oft behauptet wird. Wenn ein Handelskrieg vermieden werden kann, dürfte sich die wirtschaftliche Erholung – wenn auch weniger stark – fortsetzen. Dies ist jedoch keineswegs garantiert – und sie allein wird auch nicht ausreichen, um die zentrifugalen Tendenzen in der EU einzuhegen. Daher müssen politisch drei Hebel angesetzt werden.

Zunächst einmal muss auf Ebene der Mitgliedstaaten und innerhalb der EU durch eine gerechte Wirtschaftspolitik mit sozial-, bildungs- und infrastrukturpolitischer Flankierung dafür gesorgt werden, dass breitere Teile der Bevölkerungen am Wohlstand teilhaben. Oberste Priorität müssen Zukunftsinvestitionen in Infrastruktur, Bildung und Innovation haben. Die deutsche Finanzpolitik sollte vor dem nächsten Abschwung eine Investitionspipeline aufbauen, die im Ernstfall schnell genutzt werden kann. Allein schon deshalb, weil die Europäische Zentralbank im nächsten Abschwung nur begrenzt wird gegensteuern können.

Zweitens müssen begonnene Reformen der EU vervollständigt werden. Die Währungsunion, der Binnenmarkt und der Schengenraum sind wichtige Integrationsprojekte, um Stabilität und ausreichenden Schutz zu bieten. Gelingt dies nicht, werden sich mehr Menschen von der EU, die von vielen als trojanisches Pferd der Globalisierung wahrgenommen wird, abwenden.

Ein wichtiger Schritt ist eine Reform des europäischen Haushalts. Immerhin dürfte der nächste Finanzrahmen der EU für die Jahre 2021 bis 2027 weit mehr als eine Billion Euro umfassen. Im neuen EU-Budget sollten die massiven Subventionen für Landwirtschaft, die derzeit mehr als 35 Prozent des EU-Haushalts ausmachen, gekürzt werden, zumal die Gelder erwiesenermaßen einige ihrer Ziele, etwa eine Stärkung der Biodiversität, gar nicht erreichen. Auch die Strukturfonds sollten gekürzt werden.

Die frei werdenden Gelder sollten gezielt und kompetitiv für Projekte vergeben werden, die die wirtschaftliche und soziale Konvergenz stärken. Mittel für Forschung und Entwicklung und Innovation in Zukunftstechnologien sollten ebenfalls aufgestockt werden. Zudem benötigt die Währungsunion einen Mechanismus zur makroökonomischen Stabilisierung, idealerweise durch temporäre Transfers, um die Beschäftigung in Ländern zu stabilisieren, die externe Schocks erfahren – so wie Irland durch den Brexit.

Ein substanzieller Teil des neuen EU-Budgets sollte darüber hinaus im Bereich der Migration verwendet werden – ein Thema, bei dem die Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in die EU verloren haben. Der gegenwärtige Mechanismus der freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten funktioniert nicht, da vor allem Länder in Zentral- und Osteuropa sich nicht beteiligen. Ein Teil des EUBudgets sollte nur an solche Länder fließen, die sich an dieser gemeinsamen Aufgabe beteiligen. Zudem müssen Mittel für eine Stärkung der Grenzschutzagentur Frontex sowie für Abkommen mit Nachbarländern bereitgestellt werden.

Drittens müssen im Vorfeld der Europawahl realistische, aber anspruchsvolle Perspektiven für Europa formuliert werden, damit die Bürgerinnen und Bürger eine bewusste Richtungsentscheidung fällen können. Populistische Kräfte werden versuchen, die Wahl im Mai zu einer Entscheidung für einen Nationalstaat und gegen Europa zu machen, mit einer identitätsgeprägten und Angst schürenden Rhetorik, die offene Grenzen innerhalb der EU, offene Gesellschaften und engere europäische und internationale Zusammenarbeit verteufelt.

Neue Handelsverträge?

Dabei steht Europa vor so vielen drängenden strategischen Entscheidungen, die demokratisch diskutiert – und später vom Europäischen Parlament mitentschieden – werden sollten. Dazu gehört etwa die Frage, ob die EU neue Handelsverträge abschließen sollte, um ein Zeichen gegen den Handelskrieg zwischen den USA und China zu setzen. Kein Handelsvertrag wird ohne die Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen. Wer wie wir Handelsabkommen mit hohen Standards etwa im Bereich des Klimaschutzes oder der Menschenrechte befürwortet, sollte sich frühzeitig dafür einsetzten.

Kritisch debattiert werden sollte auch, wie die EU mit Internetgiganten aus den USA und China umgehen sollte. Das Europaparlament hat nicht nur den weltweiten Standard für den Schutz privater Daten maßgeblich beeinflusst. Es setzt auch politische Prioritäten in der Wettbewerbspolitik, auf die der zukünftige Wettbewerbskommissar reagieren wird. Wichtig ist, dass besonders bei Anbietern, die von außen in den Markt drängen, etwa aus China, die Beihilfenkontrolle sehr genau hinsieht.

Auch in der Standardsetzung für die europäische Industrie hat das Europäische Parlament eine Rolle. Was technisch klingen mag, ist entscheidend für unsere Wettbewerbsfähigkeit und die Entwicklung von Zukunftstechnologien. Wie etwa kann Europa den Anschluss an die inzwischen führende chinesische Elektromobilität wiedererlangen? In der nächsten Legislaturperiode wird eine Aufgabe sein, den Rahmen für die Zukunft der Automobilindustrie zu setzen – von Abgasnormen bis zu Steckergrößen, und dies EU-weit.

Mehr Sicherheit durch Europa

Neben vielen wirtschaftspolitischen Fragen stehen auch große Themen im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf der Agenda. Zur Diskussion um Europas Zukunft gehört die Frage, wie die EU-Mitgliedstaaten ihre strategische Handlungsfähigkeit in einem unsicheren internationalen Umfeld stärken können. Die Permanente Strukturierte Zusammenarbeit in Sicherheits- und Verteidigungsfragen (Pesco) und die Schaffung des Verteidigungsfonds für grenzüberschreitende Projekte sind erste richtige Schritte. Die Kooperation der Armeen, die länderübergreifende Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie und die zivile Komponente der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sollten entschieden gestärkt werden.

Kurzum: Befürworter eines geeinten Europas müssen bei der Europawahl eine glaubwürdige Vision von einem Europa anbieten, das Wohlstand, Fairness, Schutz und Gestaltungskraft gewährleistet. Das könnte die EU, wenn sie richtig weiterentwickelt wird, weit besser, als jeder einzelne Nationalstaat dies heute allein gewährleisten kann. Das Europa der Zukunft kann nicht nur aus roten Linien bestehen, sondern es muss die Menschen mit konkreten Vorschlägen mitnehmen. Umfragen des Eurobarometers zeigen: Viele Menschen wollen mehr Sicherheit durch Europa. Es ist Zeit, konkret zu liefern. Wenn die Politik ihre Gestaltungschancen ergreift, gibt es gute Gründe, mit Optimismus auf die Zukunft Europas zu schauen.

Marcel Fratzscher ist Chef des DIW Berlin, Daniela Schwarzer ist Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und Guntram Wolff Direktor des Bruegel-Instituts.

Bibliografische Angaben

Schwarzer, Daniela , Guntram Wolff, and Marcel Fratzscher. “Schicksalsjahr für Europa.” January 2019.

Zuerst erschienen im Handelsblatt, 17. Januar 2019, S. 48

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