Online Kommentar

18. März 2022

Russlands Zivilgesellschaft: "Jetzt zu schweigen ist ein Verbrechen"

Der Krieg in der Ukraine ist heute die größte Bruchlinie in der russischen Gesellschaft. Wer seine Stimme erhebt, riskiert Repression. Auch wenn das nur eine Minderheit macht – auch diese Menschen darf der Westen nicht vergessen.

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"In diesem Krieg habe ich meine Eltern verloren." – Das sagt kein Ukrainer, sondern ein Freund aus Sankt Petersburg, der in Berlin lebt und seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 alle Kontakte zu seinen Eltern abgebrochen hat. Seine Eltern unterstützen die "Spezialoperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine", wie Wladimir Putins Krieg offiziell heißt, der für meinen Bekannten einer Katastrophe gleichkommt wie auch einer Tragödie für unsere gemeinsame Heimat Russland.

Eine Freundin aus Sibirien schreibt mir, dass sie mit ihrem Mann über den Krieg nicht sprechen kann. Er arbeitet für eine staatliche Behörde. Sie kann nur heimlich weinen. "Wir informieren uns unterschiedlich. Er ist nicht in den sozialen Medien. Er sieht die Situation nicht aus der Perspektive der Menschen in der Ukraine. Ich dagegen kann den Krieg nur mit den Augen meiner ukrainischen Freunde sehen, die online Bilder und Nachrichten posten."

Andere weinen nicht heimlich, sondern riskieren ihre Freiheit, indem sie ihren Protest auf die Straße tragen. Ein ehemaliger Arbeitskollege aus Moskau sitzt im Gefängnis, weil er gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierte. Bevor die Polizisten sein Smartphone konfiszierten, hatte er noch schnell auf seinem Facebook-Account geschrieben: "Russen! Schweigt nicht. Zeigt, dass ihr gegen den Krieg seid! Geht auf die Straße. Wenn ihr nicht auf die Straße geht, schreibt es wenigstens in den sozialen Netzwerken, selbst wenn ihr nur einen einzigen Follower habt. Rettet euer Gewissen. Denn bald wird es euch fragen: Was habt ihr in diesen Tagen getan? Jetzt zu schweigen ist ein Verbrechen."

Putins konstruierte Welt 

Der Krieg ist heute Russlands wichtigste Bruchlinie in Familien, Freundeskreisen, in der gesamten Gesellschaft. Nichts trennt Russinnen und Russen mehr als die Wahrnehmung dessen, was in der Ukraine passiert und wie man selbst dazu steht. Ein großer Teil der Russen lebt zusammen mit Präsident Putin in einer konstruierten Welt, in der Russland seine Sicherheit in der Ukraine verteidigt und sich als Befreier der "Faschisten" sieht. Ein anderer Teil der russischen Bevölkerung schämt sich für die Wirklichkeit, in der russische Soldaten Menschen in der Ukraine töten, und leiden daran, wie Russland zum brutalen Aggressor geworden ist.

Diese Kriegs- und Regimegegner sind ganz offensichtlich in der Minderheit, auch wenn sich schwerlich sagen lässt, wie viele Menschen in Russland tatsächlich den Krieg unterstützen. Umfragen zeigen, dass wohl 50 bis 70 Prozent auf der Seite Putins stehen und seine "Spezialoperation" befürworten. Worte und Bilder sind in diesem Krieg stark umkämpft und entscheiden über dessen Unterstützung oder Ablehnung. Die Mehrheit derjenigen, die den Krieg befürworten, glaubt den staatlichen Medien. Sie sehen so gut wie keine Bilder vom Schrecken des Krieges in der Ukraine. Die Propagandamaschinerie, die Putin jahrelang aufgebaut hat, läuft auf Hochtouren. Der Krieg wird schlichtweg verleugnet, die Wirklichkeit ins Gegenteil verkehrt.

Viele mutige Russinnen und Russen erheben weiterhin ihre Stimme gegen den Krieg

"Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke", lautet die Parole in George Orwells dystopischem Roman 1984, die sich heute in den staatlichen Medien in Russland verwirklicht, während alle unabhängigen Medien längst als ausländischen Agenten kriminalisiert oder verboten wurden.

Sogar das Wort Krieg in Bezug auf die Ukraine ist untersagt. Die Medien in Russland dürfen nach einem neuen Gesetz nicht von Angriffskrieg, Überfall oder Invasion sprechen. Sogar die Erwähnung von der russischen Armee getöteter ziviler Opfer ist verboten. Wer sich dennoch traut, öffentlich die Wahrheit über den Krieg zu sagen, riskiert 15 Jahre Gefängnis. Auch die Freiräume im Internet wurden massiv eingeschränkt, um jeden kritischen Bericht von der Front totzuschweigen. Soziale Medien wie Facebook und Twitter sind in Russland weitestgehend blockiert und können nur mit spezieller Software noch genutzt werden.

Trotz aller Zensur und Einschüchterung erreichen Berichte über die Schrecken des Krieges die russische Bevölkerung. Und viele mutige Russinnen und Russen erheben weiterhin ihre Stimme gegen den Krieg. Mehr als eine Million Menschen haben eine Online-Petition unterschrieben. Und seit Kriegsbeginn protestieren tausende Menschen friedlich gegen den Krieg auf den Straßen von Moskau, Kaliningrad, Nowosibirsk und anderen russischen Städten.

Viele verhaftet 

Fast 15.000 Menschen wurden bei großen und kleinen Friedensmärschen verhaftet, hunderte von der Polizei brutal zusammengeschlagen. Mehr als 6000 Ärztinnen, Ärzte und Krankenschwestern, 10.000 Lehrerinnen und Lehrer, Studierende sowie Akademikerinnen und Akademiker, über 14.000 IT-Spezialistinnen und -Spezialisten und viele andere Berufsgruppen haben in offenen Briefen ein Ende des Krieges gefordert.

Solange es das Internet in Russland gibt und westliche soziale Medien, die der Kreml nur beschränkt kontrollieren kann, wird Putin keine totale Informationskontrolle über diesen Krieg bekommen. Trotz Jahrzehnten der Lüge und Propaganda gibt es immer noch eine starke, unbeugsame Minderheit, die Putins Scheinwelt von der Realität unterscheiden kann. Viele sind Journalistinnen und Journalisten, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler. Noch mehr sind einfache Leute, Angestellte, Jugendliche, junge Eltern. Sie alle leben gefährlich – oder sie verlassen das Land. In jedem Fall macht der Krieg die Kluft zwischen ihnen und ihren Freunden, Familienangehörigen und Landsleuten immer größer.

Der Westen darf all diese Menschen nicht vergessen. Auch sie sind Opfer von Putins Krieg, obgleich sie nicht von Bomben und Panzern bedroht sind. Auch sie brauchen Mitleid so wenig wie die Menschen in der Ukraine, sondern konkrete Solidarität und Fluchtwege in die Freiheit. 

Bibliografische Angaben

Epifanova, Alena. “Russlands Zivilgesellschaft: "Jetzt zu schweigen ist ein Verbrechen".” March 2022.

Dieser Text wurde ursprünglich am 15. März 2022 im Der Standard veröffentlicht. 

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