Deutsche und europäische Unternehmen brauchen Notfallpläne, um im Falle größerer geopolitischer und wirtschaftlicher Turbulenzen weiter funktionsfähig zu bleiben. |
Regierungen und Unternehmen müssen die übermäßige Konzentration von Risiken bei bestimmten Produkten und Sektoren überprüfen. Das Risikomanagement von Unternehmen allein ist unzureichend, erforderlich sind auch industriepolitische Maßnahmen. |
Regierungen müssen bei bestimmten Produkten, Technologien und kritischer Infrastruktur nationale Sicherheitsbedenken einkalkulieren |
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Einleitung
Chinas wirtschaftlicher Aufstieg in den vergangenen Jahrzehnten war eine Erfolgsgeschichte, nicht nur für das Land selbst, sondern auch für den Rest der Welt. Da das politische System der Volksrepublik jedoch immer repressiver und die Rolle des Staates immer stärker wird, werden in der EU zunehmend Stimmen laut, die eine Reduzierung der Handels- und Investitionsbeziehungen mit China fordern und stattdessen „Friendshoring“ – sprich die Beschaffung von Waren bei Verbündeten – oder sogar „Homeshoring“ befürworten – die Verlagerung auf die heimische Produktion.
Beide Ansätze wären jedoch nicht nur kostspielig, sondern könnten sogar die Risiken weiter erhöhen und die europäische Wirtschaft noch anfälliger machen. China ist ein wichtiger Handels- und Investitionspartner, der erheblich zum Wirtschaftswachstum beiträgt, indem er für westliche Unternehmen und Volkswirtschaften Arbeitsplätze schafft und erschwingliche Waren liefert. Darüber hinaus ist China ein wichtiger Hersteller von Technologien, von denen einige für Europas Grünen Deal unerlässlich sind. Während die Entflechtung der wirtschaftlichen Beziehungen einige Risiken verringern kann, können durch den Verlust der Diversifizierung andere entstehen. Aus geopolitischer Sicht betrachtet werden durch willkürliche Friendshoring-Konzepte viele Entwicklungsländer als Geschäftspartner ausgeschlossen, darunter auch strategisch wichtige Länder. Kurz gesagt, ein Wechsel zum Friendshoring würde mehr Probleme als Lösungen bringen.
Nichtsdestotrotz muss klar sein: Das Festhalten am Status quo ist keine Option. Diese Botschaft muss der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in Peking im November vermitteln – dem ersten Besuch eines Staatsoberhaupts der G7 seit Beginn der Pandemie. Entscheidend ist hierbei die europäische Geschlossenheit. Es wäre ein schwerer Fehler, wenn Scholz die Politik des Wandels durch Handel fortsetzen würde, die ein Leitprinzip der Regierungszeit unter Angela Merkel war. Chinas Wirtschafts- und Regierungsmodell schafft geopolitische Risiken, die so groß geworden sind, dass sie nicht mehr ignoriert werden können. Deutschland und Europa sollten angemessen und einheitlich reagieren und sich auf die Bewältigung kritischer wirtschaftlicher Risiken konzentrieren, die sich aus schweren geopolitischen Turbulenzen ergeben könnten.
Anstatt über Konzepte wie Friendshoring zu debattieren, schlagen wir eine dreigleisige Strategie auf der Grundlage der folgenden Punkte vor:
- Risikomanagement von Unternehmen durch klare Botschaften der Regierung
- Verringerung von Risiken, die durch zu große Abhängigkeit von bestimmten Gütern entstehen, sowie Überprüfung der Sicherheitsrisiken von Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden
- Modernisierung der industriepolitischen Strategie
Der Stand der Handels- und Investitionsbeziehungen
Das Volumen und der Wert des Welthandels sind seit der Gründung der WTO im Jahr 1995 drastisch gestiegen. China war ein wichtiger Faktor für dieses Wachstum (siehe Abbildung 1). Die chinesische Wirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten in beeindruckendem Tempo gewachsen und hat dabei ihren Anteil am weltweiten BIP beinahe auf das Niveau der USA erhöht. Verbraucher in aller Welt haben von preiswerten chinesischen Produkten profitiert, und fast 800 Millionen Chinesinnen und Chinesen konnten so in den letzten 40 Jahren der Armut entkommen. Europäische und deutsche Unternehmen haben nach China exportiert, was sowohl Aktionärinnen und Aktionären als auch Arbeitnehmenden wesentlich zugutekam.
Heutzutage ist es allerdings nicht mehr sinnvoll, die Beziehungen zu China allein über den Handel zu definieren. Enge Beziehungen zu einer Volkswirtschaft, in der eine einzige Partei die Regierung und viele Unternehmen dominiert, verursacht wirtschaftliche und politische Kosten für die Handels- und Investitionspartner. Das aktuelle chinesische Wirtschaftsmodell steht im Widerspruch zu den impliziten und expliziten Annahmen, die der ursprünglichen Vereinbarung über den WTO-Beitritt Chinas zugrunde lagen. Die wirtschaftlichen Wachstumsaussichten der Volksrepublik haben sich erheblich abgekühlt, und die offiziellen Statistiken über die Wirtschaftsleistung des Landes sind zunehmend verzerrt, was darauf hindeutet, dass die Wachstumsaussichten viel ungünstiger sind als allgemein angenommen. Die Null-Covid-Strategie des Landes hat zu Unterbrechungen der Lieferketten geführt. Auch geopolitische Unwägbarkeiten müssen berücksichtigt werden, zum Beispiel die Krise in den Beziehungen zu Taiwan. Beim Umgang mit China müssen somit die wirtschaftlichen Vorteile gegen die genannten Kosten abgewogen werden. Da die geopolitischen Spannungen weiter zunehmen werden, stehen deutsche und europäische Unternehmen nun vor schwierigen Entscheidungen.
Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der EU und China
Die EU und China unterhalten enge Handelsbeziehungen, die in den letzten Jahren erheblich ausgebaut wurden (siehe Abbildung 2).
China war 2021 mit Exporten im Wert von 224 Milliarden Euro der drittgrößte Markt für europäische Waren (nach den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich) mit einem Anteil von 23 Prozent an den gesamten EU-Ausfuhren. Auch für Deutschland ist China nach den USA das zweitgrößte Exportziel. Auf Deutschland entfallen mehr als 45 Prozent der EU-Ausfuhren nach China. Bei den Importen in die EU steht China an erster Stelle (473 Milliarden Euro). Insgesamt ist China der wichtigste Handelspartner der EU, wobei die EU ein erhebliches, wachsendes Handelsdefizit mit China hat.
Im Warenverkehr gibt es keine Anzeichen für eine Entkopplung – im Gegenteil, der Handel hat im letzten Jahr nach einer Abkühlung während der Covid-19-Pandemie wieder deutlich zugenommen. Die Pandemie führte in der ersten Hälfte des Jahres 2020 zu einem Rückgang des internationalen Warenhandels. Die Ein- und Ausfuhren der EU erholten sich jedoch und erreichten 2021 ein Rekordhoch. Was den Dienstleistungsverkehr mit China angeht, so verzeichnet die EU hingegen einen Handelsüberschuss.
Ausländische Direktinvestitionen (ADI) aus China in der EU (einschließlich des Vereinigten Königreichs) erreichten nach Angaben der Rhodium Group im Jahr 2016 mit 47,4 Milliarden Euro ihren Höchststand, sind aber seither zurückgegangen. 2018 sanken die chinesischen Investitionen auf 20,3 Milliarden Euro und 2021 auf 10,6 Milliarden Euro, den niedrigsten Stand seit 2013 (berücksichtigt man das Pandemiejahr 2020 nicht mit). Es ist unwahrscheinlich, dass sich die chinesischen Investitionen im Jahr 2022 erholen werden. Der Rückgang lässt sich größtenteils durch eine veränderte chinesische Wirtschaftspolitik, verstärkte Prüfungen von Auslandsinvestitionen, strenge Kapitalkontrollen und Beschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie erklären. Weitere Faktoren sind der Krieg in der Ukraine und striktere Kontrollmechanismen für Dual-Use-Güter in der EU, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.
Was die europäischen Direktinvestitionen in China betrifft, so haben sich nach Angaben der Rhodium Group zwei Trends verstärkt. Der erste ist eine stärkere Konzentration der europäischen ADI in Bezug auf Unternehmen und Sektoren: Die Top-10-Prozent-Investoren machten in den vergangenen vier Jahren (2018-2021) 80 Prozent aller europäischen Direktinvestitionen in China aus. Darüber hinaus entfallen fast 70 Prozent der ADI auf fünf Sektoren: Automobilbau, Lebensmittelverarbeitung, Pharma/Biotechnologie, Chemie und Konsumgüterherstellung. Der zweite Trend ist eine stärkere Konzentration der Länder. In den letzten vier Jahren entfielen im Durchschnitt 87 Prozent der Gesamtinvestitionen auf nur vier Länder: Deutschland, die Niederlande, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Und unter diesen haben allein vier deutsche Unternehmen – Volkswagen, BMW, Daimler und BASF – zwischen 2018 und 2021 wertmäßig 34 Prozent aller europäischen ADI in China getätigt. Während einige große (oft deutsche) Unternehmen ihre Investitionen in China ausbauen, halten sich viele andere Unternehmen mit neuen Investitionen zurück. Ziel dieser neuen Investitionen aus Deutschland ist es, verstärkt lokal für den lokalen Markt zu fertigen. Einerseits regionalisieren viele Unternehmen ihre Produktion, um ihre Lieferketten vor Unterbrechungen in verschiedenen Teilen der Welt zu schützen, andererseits setzen die chinesischen Behörden die Unternehmen auch unter Druck, um Technologietransfer zu gewährleisten.
China: noch immer Partner, Konkurrent und systemischer Rivale – doch die Rivalität nimmt zu
Die Vereinigten Staaten haben eine klare Haltung gegenüber China: Sie sehen das Land als nicht-demokratischen Rivalen an, der die wirtschaftliche, militärische und technologische Macht und Vorherrschaft der USA bedrohe. Mit seiner Industriestrategie „Made in China 2025“ fördere Peking aktiv wirtschaftliche Schlüsselsektoren, um zur technologischen Supermacht zu werden und die USA zu überholen.
Auch die EU hat ihre Haltung seit der Verabschiedung ihrer China-Strategie im Mai 2019 geändert, in der China sowohl als Kooperationspartner als auch als wirtschaftlicher Konkurrent und Systemrivale bezeichnet wird. Diese Einschätzung trifft generell noch immer zu, doch müssen Deutschland und die EU unter anderem aufgrund von Chinas komplizenhafter Unterstützung des russischen Krieges gegen die Ukraine ihre Haltung gegenüber der Volksrepublik überdenken. Die Vertrauensbasis für eine Partnerschaft schwindet, während sich die Systemrivalität verschärft. So wäre ein ernsthafter Konflikt zwischen China und Taiwan ein geopolitisches Risiko mit schwerwiegenden politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen für die EU. Was die Zusammenarbeit zwischen der EU und China bei wichtigen globalen Themen wie dem Klimawandel und der Pandemieprävention angeht, waren die letzten Jahre schwierig.
Die EU hat mehrere unilaterale Instrumente entwickelt, um mit China als „unfairem“ wirtschaftlichen Konkurrenten umzugehen und in wirtschaftlicher Hinsicht gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Im Bereich des Handels hat die EU mehrere sogenannte autonome Maßnahmen eingeführt, um den negativen Auswirkungen des chinesischen Wirtschaftsmodells – insbesondere der dominanten Rolle des Staates und konkret der KPCh – entgegenzuwirken. Dazu gehören die Einführung einer europäischen Investitionsprüfung, Antisubventionsmaßnahmen und ein internationales Beschaffungsinstrument (IPI). Die EU entwickelt zudem ein Instrument zur Verhinderung von Zwangsmaßnahmen, um gegen Chinas Sanktionsspraxis vorzugehen, wie sie kürzlich im Streit mit Litauen angewandt wurde, nachdem Litauen Taiwan die Eröffnung einer eigenen Vertretung in Vilnius erlaubt hatte.
Darüber hinaus zeigen die Stärkung der EU-Handelspolitik mit Schwerpunkt auf Durchsetzungsfähigkeit (Februar 2021), eine koordinierte EU-Industriepolitik (z. B. das Europäische Chip-Gesetz von Februar 2022), die Konnektivitätsstrategie und die digitale Strategie, dass sich die EU im Wettbewerb mit China besser positionieren will.
Geschätztes Ausmaß eines Handelskriegs mit China: Konzentrierte Risiken und dynamische Auswirkungen
Da die geopolitischen Risiken zunehmen, haben Expertinnen und Experten versucht, in mehreren Studien die potenziellen Kosten eines Handelskriegs mit China beziehungsweise einer Abkopplung von der Volksrepublik für Deutschland und die EU abzuschätzen. Die Standardhandelsmodelle kommen auf Kosten von 0,5 bis 1,5 Prozent des BIP. Dies wäre zwar deutlich höher als die Kosten von Handelshemmnissen infolge des Brexits, würde aber nicht zu einem katastrophalen Zusammenbruch der deutschen und der EU-Volkswirtschaft führen. Es gibt drei einfache Gründe für diese eher zurückhaltende Einschätzung der Gesamteffekte auf den Handel:
Erstens berücksichtigen Handelsmodelle die Umlenkung des Handels auf andere Handelspartner. Wenn der Handel mit China durch einen Handelskonflikt beeinträchtigt wird, können sich Unternehmen im Laufe der Zeit anpassen und Handel mit Nachbarländern wie etwa aus der ASEAN-Region treiben.
Zweitens können Handelsmodelle Störungen in den Wertschöpfungsketten, die sich aus der Konzentration von Risiken auf bestimmte, spezialisierte Produkte ergeben, nur schwer erfassen. Bei einer Konfrontation wegen Taiwan würden die Lieferketten für einige wichtige Produktionsmittel erheblich beeinträchtigt werden. Das taiwanesische Unternehmen TSMC hält beispielsweise zusammen mit dem südkoreanischen Unternehmen Samsung ein Duopol für die Herstellung von High-End-Chips. Eine mögliche Unterbrechung der weltweiten Versorgung würde sich auf wichtige Wertschöpfungsketten auswirken, in denen Chips von entscheidender Bedeutung sind und nur sehr schwer ersetzt werden können. Die daraus resultierenden gesamtwirtschaftlichen Kosten könnten daher höher sein.
Drittens werden Investitionsbestände und damit verbundene Produktionskapazitäten in den Handelsmodellen nicht erfasst, sind aber für Unternehmen wichtig. Viele große deutsche Unternehmen der Automobilindustrie (insbesondere Volkswagen, BMW und Daimler) exportieren nicht nur, sondern haben auch große Produktionsstätten in China (siehe Abschnitt über die wirtschaftlichen Verflechtungen). Auch wenn das BIP weniger anfällig für Investitionsrisiken ist, würden Aktionärinnen und Aktionäre von Unternehmen im Falle eines größeren Konflikts mit Sicherheit Verluste erleiden. Solche möglichen Verluste sollten jedoch bereits in den Aktienmärkten eingepreist sein.
Schließlich werden die dynamischen Vorteile, die sich aus dem Handel über Innovationsprozesse ergeben, von statischen Handelsmodellen nicht erfasst.
Insgesamt sind die Risiken für die Wertschöpfung in Europa und Deutschland möglicherweise größer, als es die Handelsmodelle vermuten lassen, da die Wertschöpfungsketten, wenn es kaum alternative Lieferanten gibt, unter Umständen gefährdet werden könnten.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen einer möglichen geopolitischen Eskalation wären für China jedoch nicht gravierend, da die EU im Jahr 2021 nur 15,4 Prozent der Exporte Chinas ausmachte (USA: 17,1 Prozent). Politische Verantwortliche sollten sich daher von der Illusion verabschieden, dass China von einer wichtigen geopolitischen oder sicherheitspolitischen Entscheidung absehen würde, um wirtschaftlichen Schaden zu vermeiden.
Handlungsempfehlungen
Die Bundesregierung muss mit EU-Partnerländern bereits vor dem Besuch von Olaf Scholz in China ihre Haltung gegenüber der Volksrepublik grundlegend überdenken und sich positionieren. Ein geschlossenes Auftreten der Union sollte oberste Priorität haben. Bisher wurden immer wieder Besuche einzelner Regierungsoberhäupter von China genutzt, um die europäische Einheit zu schwächen. Seit dem Vertrag von Lissabon hat die EU die ausschließliche Zuständigkeit sowohl für den Handel als auch für Direktinvestitionen, sodass der Bundeskanzler keine internationalen Handels- und Investitionsverträge aushandeln kann. Olaf Scholz sollte sich deutlich von seiner Vorgängerin Angela Merkel distanzieren und die EU-Partner in dieser Hinsicht beruhigen. Um dies zu erzielen, sollte die Bundesregierung Folgendes berücksichtigen:
Besseres Risikomanagement von Unternehmen durch klare Botschaften der Regierung
Lieferketten werden von Unternehmen, nicht von Regierungen gestaltet. Regierungen können nur die Rahmenbedingungen für Unternehmen schaffen und Anreize bieten, damit sie sich der geopolitischen Risiken stärker bewusst werden. Dazu bedarf es eindeutiger politischer Botschaften auf höchster Ebene – unter anderem, wenn Unternehmensvorstände an Regierungsreisen nach China teilnehmen –, dass die Folgen geopolitischer Risiken bei Aktien von den Aktionärinnen und Aktionären getragen werden müssen. Genau das war der wesentliche Grund dafür, dass sich mehr als 1.000 internationale Unternehmen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine aus Russland zurückgezogen haben. Der große Unterschied zu China besteht jedoch darin, dass die Bilanzrisiken für einige Unternehmen erheblich größer sind als in Russlands Fall.
Neben der Bewältigung von Bilanzrisiken, die sich aus der direkten Exposition ergeben, müssen Unternehmen im Falle eines größeren geopolitischen Konflikts die Kontinuität ihrer Geschäftstätigkeit sicherstellen. Dazu müssen häufig wesentliche Teile der Wertschöpfungsketten dupliziert werden.
Eine kritische Überprüfung der derzeitigen Finanzgarantien, die unter Umständen Anreize für eine übermäßige Risikobereitschaft von Unternehmen schaffen, wäre somit eine unmissverständliche Botschaft der Regierung. Dazu gehören auch strengere Bedingungen für externe Investitionsgarantien wie sie das deutsche Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz in Erwägung zieht. Die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sollten daher staatliche Investitionsgarantien für Geschäfte in China und anderen Ländern abschaffen. Die Bewertung des geopolitischen Risikos wäre umso dringlicher, wenn die Unternehmen dem wirtschaftlichen Zwang durch China ausgesetzt wären.
Regierungen sind ebenfalls in der Lage, den Handel mit Autokratien einzuschränken, die die Menschenrechte missachten. Zu den bestehenden Maßnahmen der EU gehören das Importverbot für Produkte aus Zwangsarbeit (September 2022) und die Sorgfaltspflichtverordnung.
Die wirksamste Antwort auf eine hohe Anfälligkeit gegenüber China ist Diversifizierung. Australische Unternehmen, die direkt chinesischem Druck ausgesetzt sind, haben diesen Weg bereits eingeschlagen. Sie verfolgen zunehmend eine „China Plus One“-Strategie, also die Ausweitung von Geschäftstätigkeiten und Lieferketten auf alternative Zielländer jenseits von China. Darüber hinaus schaffen australische Unternehmen neue Industriekapazitäten, die nicht von chinesischen Importen abhängig sind. Europäische Unternehmen können von diesem Ansatz lernen.
Regierungen können die Unternehmensvorstände bei der Diversifizierung von Handel und Produktion unterstützen, indem sie ehrgeizige zusätzliche EU-Handelsabkommen aushandeln und umsetzen. Solche Abkommen erleichtern den bilateralen und regionalen Handel durch den Abbau von Handelsschranken und den verbesserten Zugang zu Märkten für Handel und Investitionen. Nach Angaben der Europäischen Kommission vom Oktober 2022 haben die EU-Exporte im Rahmen von Freihandelsabkommen im Jahr 2021 die Marke von einer Billion Euro überschritten. Darüber hinaus stiegen die europäischen Exporte zu den präferierten Handelspartnern (ohne das Vereinigte Königreich) zwischen 2020 und 2021 stärker (16 Prozent) als die europäischen Exporte zu allen Handelspartnern (13 Prozent).
Es sollte daher für Deutschland oberste Priorität sein, die EU bei dem Abschluss von Freihandelsabkommen zu unterstützen. Der nächste Schritt für die EU-Handelspolitik sollte die schnelle Ratifizierung des umfassenden Wirtschafts- und Handelsabkommens (CETA) der EU mit Kanada (durch Deutschland) sein, damit das Abkommen vollumfänglich zum Einsatz kommen kann. Gleichzeitig sollten zügig Modernisierungsabkommen mit Chile und Mexiko sowie neue Freihandelsabkommen mit Australien und Neuseeland abgeschlossen beziehungsweise ratifiziert werden. Weitere geopolitisch und wirtschaftlich wichtige Handelspartner der EU sind Indonesien und die Mercosur-Staaten.
Wichtig wäre es in diesem Zusammenhang auch, Anreize für die Partnerländer zu schaffen, neue Industriecluster zu bilden, damit sie miteinander verknüpfte Lieferketten entwickeln. Dies ist in China häufig der Fall und sollte auch in anderen Partnerländern aufgebaut werden, um die Diversifizierung zu erleichtern. Bei der Aushandlung von Handelsabkommen sollte die EU bereit sein, ihre Märkte weiter zu öffnen, auch für fortgeschrittene Produkte, um Handelsabkommen für Entwicklungsländer attraktiver zu machen.
Stärkung der Lieferketten durch die Überprüfung nationaler Sicherheitsrisiken und übermäßig konzentrierter Risiken
Die wichtigste politische und wirtschaftliche Aufgabe besteht darin, sich trotz des schwierigen geoökonomischen Umfelds weiterhin für ein offenes und globales Welthandelssystem einzusetzen. Denn ein zunehmend fragmentiertes Handelssystem bedeutet mehr Unsicherheit, eine geringere Fähigkeit, Schocks aufzufangen, und möglicherweise eine weltweite Rezession. Das wiederum heißt, dass wir robuste globale Regeln und starke globale Institutionen wie die WTO brauchen, um den Handel zu erleichtern und globale Handels- und Investitionskonflikte zu entschärfen. Das stärkt auch die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten.
Dennoch ist eine gewisse Entkopplung aus Gründen der nationalen Sicherheit gerechtfertigt. Dual-Use-Technologien müssen geschützt werden. Außerdem müssen Sicherheitsrisiken, die sich aus der wirtschaftlichen Integration ergeben, beispielsweise im Zusammenhang mit der IT-Infrastruktur oder dem Datenmanagement, direkt in Angriff genommen werden. Dazu bedarf es jedoch einer genauen Justierung, denn Entkopplung und Blockbildung führen zu Effizienzverlusten, verringern die Innovation und schaffen neue Spaltungen. Eine Fragmentierung sollte somit soweit wie möglich vermieden werden.
Darüber hinaus muss die EU konzentrierte Risiken kritisch bewerten. Sie muss durch Diversifizierung die übermäßige Abhängigkeit von bestimmten zentralen Produkten in der Wertschöpfungskette beheben, die im „Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen über Strategische Abhängigkeiten und Kapazitäten“ von Mai 2021 (aktualisiert 2022) genannt werden.
Zu diesen kritischen Produkten, die sechs Prozent der europäischen Importe ausmachen, gehören unter anderem Halbleiter und bestimmte seltene Erden und Rohstoffe, die für den grünen Wandel der Wirtschaft wichtig sind. Auf einigen dieser Märkte hält China derzeit Marktanteile von über 80 oder sogar 90 Prozent. Das stellt eine große Schwachstelle für die Weltwirtschaft dar, die dringend behoben werden muss.
Solarmodule sind ein weiteres Beispiel für ein konzentriertes Risiko, denn der Großteil der weltweiten Produktion befindet sich in China. Laut Eurostat entfielen im Jahr 2020 75 Prozent der europäischen Einfuhren von Solarmodulen auf China (siehe Abbildung 3).
Diese Abhängigkeiten stellen die EU vor ein weiteres Problem: Die chinesische Solarmodulindustrie ist auf wichtige Komponenten angewiesen, die in der Region Xinjiang unter Einsatz von uigurischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern hergestellt werden. Die EU steht daher vor dem Dilemma, entweder weiterhin billige Importe von Solarmodulen zu beziehen, die den Grünen Deal ermöglichen, und dafür massive Menschenrechtsverletzungen zu dulden oder gegen letztere vorzugehen und durch den Boykott von Solarmodulen aus der Region selber Nachteile zu erleiden. Unabhängig davon könnte nun ein von der EU im September 2022 vorgeschlagenes Verbot von Produkten (Verkauf, Ein- und Ausfuhr), die unter Einsatz von Zwangsarbeit hergestellt wurden, auch die Einfuhr chinesischer Solarmodule betreffen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die genannten Anfälligkeiten nur wenige Produkte betreffen. Auch wenn diese besonders wichtig sind, sollte die EU deswegen nicht ihre gesamte Handelsstrategie ändern. Stattdessen braucht sie eine maßgeschneiderte Handels- und Investitionsstrategie für diese Produkte. Auf der Handelsseite sollte die EU alle Einfuhrschranken für Rohstoffprodukte abbauen, bei denen sie zu sehr von einzelnen Lieferanten aus China abhängig ist. Zudem sollte sie für europäische Hersteller den Marktzugang in Ländern aushandeln, in denen die heimischen Abbaukapazitäten für Rohstoffe begrenzt sind.
Modernisierung der europäischen Industriepolitik
Auch für die deutsche und europäische Industrie stellt die Rivalität mit China eine Herausforderung dar. China entwickelt sich zu einem großen Konkurrenten in den Hightech- und Wachstumsbranchen und versucht mit seiner „Made in China 2025“-Strategie durch gezielte Industriepolitik größere Teile der Wertschöpfungskette zu erobern. Das stellt die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in der EU und in Deutschland vor Schwierigkeiten. Denn der Ansatz der EU bestand in der Vergangenheit darin, gleiche Wettbewerbsbedingungen auf dem Binnenmarkt zu gewährleisten und zu verhindern, dass nationale Subventionen diesen verzerren. Die EU-Institutionen sowie politischen Verantwortlichen aus den Mitgliedstaaten wie zum Beispiel der ehemalige deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier haben die Herausforderung erkannt, die sich aus diesen großen Unterschieden in den Wirtschaftsmodellen ergibt. So reagierte die EU darauf mit verschiedenen neuen Ansätzen wie dem „Important Project of Common European Interest“ (IPCEI), den sogenannten wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse. Dennoch bleibt die Gesamtstrategie unklar.
So sollten unter anderem durch eine gezielte (und nicht ausufernde) Industriepolitik neue Märkte und Produkte erschlossen werden, bei denen Europa führend ist. Auch China und die USA haben ihre staatlichen Fördermaßnahmen zur Entwicklung und zum Wachstum von Industrien wie grünem Wasserstoff, Chip-Produktion und anderen verstärkt. Doch ein bloßes Kopieren des chinesischen Ansatzes
würde den Stärken Deutschlands und Europas nicht gerecht werden. Auch die von Altmaier vorgeschlagene industriepolitische Strategie war nicht geeignet und wurde zu Recht weithin als unvereinbar mit der Marktwirtschaft sowie als Nachteil für die inländischen Verbraucherinnen und Verbraucher kritisiert. Daher braucht es einen neuen industriepolitischen Ansatz. Grundlagenforschung, Bildungspolitik, verbesserte Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Entwicklung von Risikokapitalmärkten müssen ein zentraler Bestandteil dieser Strategie sein.
Ungeachtet der hier skizzierten Lage, gibt es keinen Grund zur Verzweiflung. Chinas Wirtschaftswachstum war in den letzten Jahrzehnten wahrlich beeindruckend, doch die Anzeichen mehren sich, dass die Ära des großen chinesischen Wachstums zu Ende geht. Die Erwerbsbevölkerung der Volksrepublik schrumpft und wird in den nächsten Jahrzehnten aufgrund des demografischen Wandels weiter erheblich zurückgehen. Kapitalinvestitionen waren in letzter Zeit eher unproduktiv, wobei die Probleme im Immobilienbereich nur ein Zeichen dafür sind. Der Erfolg von Chinas Technologiepolitik ist zwar in aller Munde, wird aber möglicherweise überschätzt.
Fazit
Anstatt die wirtschaftliche Integration generell zu verringern, sollten die Bundesregierung und ihre EU-Verbündeten eine Vertiefung der globalen wirtschaftlichen Integration mit Ländern außerhalb Chinas anstreben. Eine solche Diversifizierung würde das Wirtschaftssystem und die Lieferketten gegenüber geopolitischen Schocks widerstandsfähiger machen und neue Wachstumsvorteile schaffen.
Deutschland und die EU sehen sich mit steigenden Kosten und Unsicherheiten im Umgang mit China konfrontiert. Wir sind überzeugt davon, dass sich Unternehmen mit den operativen Risiken befassen sollten, die sich aus der geopolitischen Fragmentierung ergeben. Unternehmensvorstände müssen der Geschäftskontinuität in Worst-Case-Szenarien höchste Priorität einräumen. Regierungen sollten Diversifizierungsstrategien mit neuen Handelsabkommen unterstützen und gleichzeitig finanzielle Anreize und Versicherungsleistungen für Aktivitäten in China vermeiden. Eine Entkopplung in sicherheitssensiblen Bereichen ist wichtig. Schließlich sollte verstärkt über die Entwicklung einer gezielten, jedoch nicht ausufernden industriepolitischen Strategie diskutiert werden. Um der chinesischen Konkurrenz die Stirn bieten zu können, sind ein gestärkter Binnenmarkt, Innovation und verbesserte inländische Investitionsbedingungen für die EU von entscheidender Bedeutung.