In den ersten Wochen nach seiner Inthronisierung gerierte sich der neue saudische König Salman, Nachfolger des am 23. Januar 2015 verstorbenen Abdullah, als Bewahrer der traditionellen saudischen Politik: Er versprach Kontinuität, verteilte Milliardensummen an Bedienstete des öffentlichen Dienstes und suchte den Dialog mit möglichen regionalen Rivalen wie Katar und der Türkei. Intime Kenner des saudischen Machtapparates beurteilten seine Strategie als pragmatischere Fortsetzung der manchmal emotionalen Politik Abdullahs. Saudi-Arabien schien der verlässliche, konstante Partner zu bleiben, der er in der Vergangenheit gewesen war: Ein Garant regionaler Stabilität, zwar strebend nach Hegemonie am Golf, aber auch interessiert an einer Stabilisierung innerhalb der Region.
Immerhin sieht sich das Königreich seit dem Ausbruch der Aufstände vor mehr als vier Jahren mit mannigfaltigen Herausforderungen konfrontiert: Die instabile Lage in Bahrain, der Bürgerkrieg in Syrien, der wachsende Einfluss des „Islamischen Staates“ (IS) in Irak sowie die Destabilisierung des wichtigsten Partners in der Region, Ägypten. Darauf versuchte das Königshaus, auf seine eigene Art zu reagieren, indem es Kontrahenten gegeneinander ausspielte, die religiös-wahhabitische Führungsposition betonte, diplomatische Ränkespiele betrieb, Milliarden an Entwicklungshilfe zahlte und im Zweifel möglichst loyale Klienten förderte.
Doch dann eroberten die zaiditischen Huthis im benachbarten Jemen mit Hilfe loyaler Militäreinheiten des abgesetzten ehemaligen Präsidenten Ali Abdullah Salih innerhalb weniger Monate zuerst die Hauptstadt Sanaa im September 2014, vertrieben den durch Riads Gnaden eingesetzten Nachfolger Salihs, Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi, nach Aden und begannen ihren militärischen Siegeszug gen Süden. Mittlerweile ist Hadi in die saudische Hauptstadt geflohen.
Riads Reaktion erfolgte in eher untypischer saudischer Weise: Innerhalb kürzester Zeit schmiedete die Regierung mit dem Wohlwollen der USA eine sunnitische Allianz gegen den Vormarsch der Huthis. Neben sieben arabischen Staaten (darunter alle Mitglieder des Golfkooperationsrates bis auf Oman) integrierte die Anti-Huthi-Koalition auch nicht-arabische muslimische Partner Saudi-Arabiens, so etwa Pakistan. Daraufhin marschierten 150 000 saudische Truppen an der Grenze zu Jemen auf, Kampfflieger rückten regelmäßig zu Luftschlägen gegen Huthi-Stellungen aus, bei denen bisher auch schon Dutzende Zivilisten ums Leben gekommen sind.
Saudi-Arabien betrachtet Jemen traditionell als potenziellen Unruheherd, als Bedrohung der eigenen Stabilität und daher eher als Teil des Königreichs denn als eigenständiges Nachbarland. Ziel der saudischen Jemen-Politik war es daher in der Vergangenheit, die eigenen Interessen bei der politischen Elite Jemens vertreten zu sehen. Es geht Saudi-Arabien nicht um eine langfristige Befriedung beziehungsweise Entwicklung des Landes oder gar um eine Konsolidierung des demokratischen Aussöhnungsprozesses, sondern um die Wahrung des eigenen Einflusses. Jemen soll in wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeit zu Riad stehen, dessen Regierung wohlwollend agieren und die Funktion als saudischer Hinterhof erfüllen. Durch den Vormarsch der Huthis werden diese Ziele bedroht. Mit Hadi musste einer der wenigen saudischen Klienten das Land verlassen. Mittlerweile haben die saudischen Machthaber die Kontrolle und den Einfluss auf Jemens politische Elite weitgehend verloren. Der saudische Botschafter musste Sanaa gen Aden verlassen, die milliardenschwere finanzielle Unterstützung wurde eingestellt.
Stattdessen werden die Huthis in der saudischen Propaganda und im öffentlichen Diskurs nicht als unabhängiger Akteur, sondern als Instrument des regionalen Rivalen Iran gesehen, das Jemen destabilisieren soll, um damit Saudi-Arabien zu schwächen. Längst hat sich in der saudischen politischen Kultur ein Gefühl der „Iranoia“ manifestiert, die davon geprägt ist, die externen Konfliktherde per se einer iranischen Einflussnahme zuzuschreiben. Die Dämonisierung Irans hat in den letzten Jahren groteske Züge angenommen, indem jeglicher schiitischer Gruppierung eine enge Anbindung an den zwölferschiitischen Iran zugeschrieben wird. Dabei sind die fünferschiitischen Huthis für Iran zwar strategische Partner, aber wohl keine religiösen Brüder, die man um jeden Preis unterstützen wird.
Mangelnde Iran-Expertise und paranoide Hybris untergraben eine realistische Analyse in Riad
Diese von Saudi-Arabien initiierte Konfessionalisierung der regionalen Konfliktherde in Bahrain, Irak, Syrien und gegenüber der eigenen schiitischen Bevölkerung in der Ostprovinz hat den schiitisch-sunnitischen Konflikt angeheizt. Mittlerweile fürchtet Saudi-Arabien, von iranischen Marionetten umzingelt zu sein. Allerdings werden die strategischen Interessen und Kapazitäten Irans aufgrund mangelnder Iran-Expertise innerhalb Saudi-Arabiens und paranoider Hybris massiv überschätzt. Dies zeigt sich in riskanter Weise vor allem in Jemen, wo Saudi-Arabien zum ersten Mal seit 2011 selbst aktiv militärisch eingreift. Während in Bahrain 2011 die zur Niederschlagung der schiitischen Demonstrationen abgesandten saudischen Soldaten nur das Vorgehen der bahrainischen Sicherheitskräfte sicherten, agieren sie in Jemen nun als offensive Militärmacht, für die sogar eine Bodeninvasion nicht ausgeschlossen ist, sollte dies den saudischen Zielen nützen.
Diese Ziele beschränken sich allerdings keineswegs nur auf die Eindämmung Irans in Jemen und die Ausschaltung der Huthis als politischer und militärischer Machtfaktor. Zuerst einmal ging es Salman darum, als neuer König Handlungsstärke und Konsequenz zu zeigen. Gemeinsam mit seinem frisch ernannten Verteidigungsminister – sein Sohn Muhammad bin Salman – und dem designierten Vize-Thronfolger Muhammad bin Naif geriert er sich als zupackender Macher, der in Zeiten des Chaos nicht zaudert, sondern handelt.
Der 79-jährige Salman, dem vor allem im Westen nachgesagt wurde, aufgrund seines Alters, seiner angeblichen Demenz und den Folgen eines Schlaganfalls nicht regierungsfähig zu sein, zeigt mit seiner kompromisslosen Haltung, dass er sehr wohl der starke Mann sein kann. Die beiden Muhammads stammen dagegen aus der Enkelgeneration des Staatsgründers, könnten also in Zukunft die Nachfolge Salmans auf dem Thron antreten. Auch sie müssen beweisen, dass sie in der Lage sind, riskante Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen.
Das Vorgehen in Jemen ist also einerseits ein Experimentierfeld für die zukünftige Eignung der Enkel, das Land als König zu führen, andererseits dient es aber auch als Ablenkungsmanöver von internen Problemen: Der jahrzehntelange Alimentierungscharakter des Staates gerät an seine Grenzen, die Arbeitslosigkeit steigt ebenso wie die Frustration der Jugend, während gleichzeitig die Öleinnahmen wegen des Preisverfalls seit Herbst 2014 sinken. So schrumpfen auf lange Sicht auch die Möglichkeiten des Königshauses, die Loyalität der Bevölkerung mit Geldgeschenken in Zukunft zu erkaufen. Das Vorgehen in Jemen dient daher auch dazu, von diesen Problemen abzulenken sowie den Patriotismus zu beschwören.
Katar, Ägypten und die Türkei sollen die alten Gräben unter saudischer Führung überwinden
Weiterhin ist es Salman bislang gelungen, innersunnitische Verwerfungen und Rivalitäten mit dem gemeinsamen Vorgehen gegen die Huthis zu übertünchen: Die Partizipation Katars in und die wohlwollende Haltung der Türkei für die Operation „Entscheidungssturm“ ist ein Indikator dafür, dass Salman daran gelegen ist, die alten Divergenzen mit beiden Ländern um die Haltung zu den Muslimbrüdern zu überwinden und eine geeinte Partnerschaft zu schmieden. Dafür musste mit den Huthis ein gemeinsamer Feind gefunden werden.
Darüber hinaus zeigt Saudi-Arabien seinem wichtigsten Partner Ägypten, dass es noch gebraucht wird, wenngleich es sich militärisch, wirtschaftlich und politisch nach wie vor in einer fragilen Lage befindet. Die ägyptische Beteiligung an der Militäroffensive befriedigt das ägyptische Bedürfnis, noch immer ein bedeutsamer, unverzichtbarer regionaler Akteur zu sein, obwohl es seit dem Sturz Hosni Mubaraks kontinuierlich an Einfluss verloren hat. Salmans Strategie in Jemen richtet sich also in erster Linie an sein Volk, dem er Stärke vermitteln, und an die sunnitische Staatengemeinschaft, die er unter saudischer Führung einen will.
Beides scheint derzeit zu gelingen: In saudischen und anderen arabischen Medien finden sich nur wenige kritische Stimmen gegen die Militäroffensive. Mit Hinblick auf die internationalen Verhandlungen um das iranische Atomprogramm, die von Saudi-Arabien sehr skeptisch verfolgt werden, scheint die militärische Operation in Jemen auch ein Zeichen an die internationale Gemeinschaft, insbesondere an die USA, zu sein, nicht um den Preis eines Erfolgs mit Iran die Interessen der arabischen Golfstaaten zu vergessen.
Saudi-Arabien fürchtet mit einer Rückkehr Irans in die internationale Staatengemeinschaft, dass seine Bedeutung als wichtigster Partner der USA im Nahen und Mittleren Osten zugunsten Irans reduziert würde. Mit der Jemen-Offensive, die von Washington unterstützt wird, zeigt Saudi-Arabien den USA, dass es auch in Zukunft bedeutsamer sein wird als Iran, der sich nach saudischer Argumentation mit der Unterstützung der Huthis wieder einmal als Destabilisierungsfaktor und damit als nicht-vertrauenswürdiger Verhandlungspartner geriert.
Die konzertierte Aktion gegen die Huthis steht im Widerspruch zum schleppenden Vorgehen gegen den IS
Saudi-Arabien verkennt jedoch ebenso wie in Irak und in Syrien die reale Gefahr, mit seinem Vorgehen in Jemen militante Dschihadisten von Al-Qaida oder dem IS zu stärken. Jemen ist in den letzten Jahren zu einer starken Bastion für „Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ (AQAP) avanciert. Mit dem militärischen Eingreifen und der weiteren Fragmentierung und Entstaatlichung Jemens könnte AQAP zusätzliche Operationsräume und Unterstützer gewinnen. Im Windschatten des Stellvertreterkrieges zwischen Iran und Saudi-Arabien könnten die Dschihadisten ihre Position konsolidieren oder sogar ausbauen.
Sollte Saudi-Arabien merken, dass die Offensive keinen nachhaltigen Erfolg zeitigt, wäre auch ein Szenario denkbar, den Dschihadisten Angebote zu machen, auf Seiten der Saudis gegen die Huthis zu kämpfen. Eine ähnliche Strategie verfolgte Saudi-Arabien auch in Syrien, als man 2011-2013 die Nusra-Front als Gegenpol zu Baschar al-Assad mitfinanzierte. Doch dieser Plan ging schief: Die damals noch als „Islamischer Staat in Syrien und im Irak“ bekannte Terrorgruppe hat auch durch die saudische Unterstützung massiven Aufschwung erfahren. In seiner Ideologie richtet sich der IS explizit gegen das als dekadent und verwestlicht denunzierte saudische Königshaus und fordert die Befreiung der beiden Heiligen Stätten Mekka und Medina von saudischer Besatzung. Ähnlich anti-saudisch argumentiert auch AQAP.
Eine direkte oder indirekte Stärkung der militanten Dschihadisten in Jemen könnte also mittelfristig die innersaudische Stabilität bedrohen, sowie das Risiko einer Einkesselung von Norden und Süden ebenso erhöhen wie die Gefahr von Terroranschlägen auf saudischem Territorium. Diese Möglichkeit scheint momentan von Saudi-Arabien unterschätzt zu werden. In diesem Zusammenhang ist es auch erstaunlich, dass es Saudi-Arabien und seinen Verbündeten innerhalb weniger Tage gelungen ist, eine schlagkräftige Allianz gegen die Huthis aufzubauen, während ein konzertiertes Vorgehen gegen den IS unter arabischer Führung weiterhin auf sich warten lässt – vielleicht am Ende die falsche Prioritätensetzung.