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09. Jan. 2025

Nur eine starke europäische Armee hält Putin auf Distanz

Die deutsche Bundeswehr
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Wenn es um Europas Verteidigung geht, herrscht fatale Kleinstaaterei. Der Kontinent muss seine Sicherheitsstruktur aber neu ausrichten. Ein paar gute Ansätze gibt es schon. Unser Gastautor, der ehemalige Wehrbeauftragte, skizziert die notwendige Neuaufstellung.

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Von allen Seiten kommen die Einschläge näher. Die Friedensdividende-Zeit ist unwiderruflich vorbei. Europa muss wieder wehrhaft werden. Nur echte militärische Stärke schreckt Wladimir Putins Russland ab, hilft der Ukraine und hält im Übrigen die USA verlässlich im Bündnis. Deshalb braucht europäisches Militär moderne Ausrüstung, eine leistungsfähige Rüstungsindustrie, zusätzliche Soldaten und Reservisten – aber auch eine bessere Organisation der vielfältigen nationalen Beiträge. Damit bleibt das Thema „Europäische Armee“ auf der Tagesordnung.

Über 1,5 Millionen Soldatinnen und Soldaten gibt es in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 1,4 Millionen dieser „EU-Soldaten“ sind gleichzeitig auch „Nato-Soldaten“. EU-Europa und Nato-Europa konkurrieren nicht miteinander, sondern sind ziemlich deckungsgleich: der europäische Pfeiler der transatlantischen Allianz. Die USA verfügen über Streitkräfte mit 1,3 Millionen Soldaten, es ist nur eine Armee. Europa unterhält gleichzeitig 32 verbündete Armeen (wenn man zu den 27 EU-Nationen noch die Nur-Nato-Mitglieder Albanien, Montenegro, Norwegen, Nordmazedonien und Großbritannien zählt). Dabei ist eine Armee kleiner als die andere. Deutschland hat 180.000, Finnland 24.000 und Slowenien 6.000 aktive Soldaten. Das deutsche Fachwort dafür lautet Kleinstaaterei. 

Im Kalten Krieg betrug die Sollstärke der Bundeswehr 495.000 Soldaten. Mobil gemacht wären es mit den Reservisten 1,3 Millionen gewesen. Und das Niveau der Zusammenarbeit in Westeuropa war damals wesentlich höher, als es in der Allianz von heute ist. Denn die existenzielle Gefahr eines Dritten Weltkrieges ließ nationale Vorbehalte an Bedeutung verlieren. Nach 1990 aber schien die Uhr rückwärtszulaufen. In West und Ost stand einer souveränen Re-Nationalisierung wenig im Wege. Jedes Bündnismitglied sparte, wo es das für richtig hielt und vertiefte Fähigkeitslücken, die andere schon aufgerissen hatten.

Im Weißbuch „Zur Lage und Entwicklung der Bundeswehr“ von 1985 ist eine Karte abgedruckt, sie zeigt die Gefechtsstreifen aller in der Bundesrepublik stationierten alliierten Großverbände entlang der innerdeutschen Grenze. Es beginnt im Norden mit einem deutsch-dänischen Korps, südlich der Elbe geht es weiter mit einem niederländischen, einem deutschen, einem britischen, einem belgischen, dann wieder einem deutschen Korps, dann kommen zwei amerikanische und schließlich ein deutsches Korps – jedes Korps mindestens 50.000 Soldaten stark. In Reserve dahinter: Franzosen und Kanadier. So sah die westdeutsche Landesverteidigung, die gleichzeitig Bündnisverteidigung war, damals aus.

Alles spricht dafür, Streitkräfte am besten von Anfang an so aufzustellen, wie sie im Ernstfall tatsächlich eingesetzt werden sollen. Krisenbewältigung „out of area“? Immer multinational! Landes- und Bündnisverteidigung? Immer multinational! Doch den Grundbetrieb und die Streitkräftestruktur gestaltet man bisher immer noch streng national, als ob genau das den eigentlichen Kern der staatlichen Souveränität darstellt.

Zwietracht in Europa würde Moskau feiern

Ist jetzt also schon der Zeitpunkt gekommen, die vielen militärischen Einzelteile in Europa zu einem kompletten Ganzen zusammenzufügen? Zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürften Verhandlungen über die Gründung einer europäischen Armee eher Zwietracht und Verhärtungen hervorrufen. Moskau würde feiern.

Nicht, dass man sich prinzipiell nicht einigen könnte. Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg hatten 1952 schon einmal einen Vertrag zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft geschlossen. Da war alles geregelt, von der Herauslösung nationaler Kontingente etwa für Aufgaben in den französischen Kolonien über die einheitliche Uniform bis hin zur Schiedsgerichtsbarkeit. Aber die Pariser Nationalversammlung stellte sich am Ende mit neuen Mehrheiten quer. Und so kam es wenig später zur Gründung der Bundeswehr.

Eine europäische Armee wäre ein Generationenprojekt

Europa kann nationale Souveränitätsrechte auf höherer Ebene zusammenfassen. Nicht alle müssen dabei mitmachen. Die Einführung des Euro ist ein Beispiel dafür. Aber wie bei der Währung, deren Vereinheitlichung in den 1970er-Jahren startete, um dann 2002 zu richtigem Geld zu werden, dürfte auch die Entwicklung hin zur gemeinsamen europäischen Armee ein Generationenprojekt sein. In der Praxis führt das erst einmal zu „Inseln funktionierender Kooperation“. Aus rein nationalen Fähigkeiten müssen nach und nach multinationale Inseln der Kooperation werden. Lieber klein und gut als groß und dysfunktional. Schrittweise Weiterentwicklung, Umgliederung und Integration finden gleichzeitig statt.

So wachsen, wenn es gut geht, die Inseln funktionierender Kooperation, sie werden größer, es werden mehr, manche wachsen zusammen. Nach und nach bilden sie Festland. Dieses Bild könnte für genau das stehen, was in Europa seit etwa zehn Jahren tatsächlich passiert. Wir erleben so etwas wie die normative Kraft des Faktischen. Das fortgeschrittenste Insel-Modell ist die Zusammenarbeit mit den Niederlanden. Die teilen sich schon seit 1996 mit Belgien ein gemeinsames Marinehauptquartier. Und sie fusionieren jetzt ihre kompletten Landstreitkräfte mit dem deutschen Heer. Auch mit Litauen gibt es, nicht erst seit der Entscheidung zur Stationierung einer deutschen Kampfbrigade dort, weitreichende Projekte der Heereszusammenarbeit. Norwegen und Deutschland wollen ihre U-Boot-Waffe bündeln (mit dann zusammen zwölf hochmodernen Brennstoffzellen-Booten).

Auf gutem Weg ist der Aufbau einer eigenen europäischen Luftbetankungsflotte in Eindhoven und Köln. Und lange schon gibt es sogar einen ganz und gar vergemeinschafteten Verband: das Nato-eigene Awacs-Geschwader in Geilenkirchen. Ein anderes Integrations-Thema hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Europarede in Prag 2023 angesprochen: Er forderte dort erneut ein „echtes europäisches Hauptquartier“. Denn eigene europäische Führungsfähigkeiten könnten existenziell werden, wenn es in der 32-Nationen-Nato im Ernstfall keine Einstimmigkeit zur Feststellung des Bündnisfalls geben und gleichzeitig die parallele US-Kommandostruktur in Europa nicht zur Verfügung stehen sollte.

Wenn mehr Festland gewonnen ist und das zusammengewachsene neue Land auch wirklich stabilen Grund bietet, wird irgendwann der Zeitpunkt kommen, an dem es effektiver sein wird, das Ganze nicht mehr nach den Rationalitäten der Inseln, sondern nach einem einheitlichen Regelwerk Europas zu organisieren und zu führen. Dies wäre dann der Punkt ist, an dem Quantität in Qualität umschlägt. Es käme zur feierlichen Gründung der europäischen Armee, in der 20 oder 30 nationale Armeen planvoll aufgehoben und verschmolzen wären.

Bibliografische Angaben

Bartels, Hans-Peter. “Nur eine starke europäische Armee hält Putin auf Distanz.” German Council on Foreign Relations. January 2025.

Dieser Beitrag ist erstmals bei der Welt am 07. Januar 2025 erschienen.

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