Nach den Umbrüchen in der arabischen Welt wurde die Europäische Union für ihre bisherige, weitgehend bedingungslose Zusammenarbeit mit den dortigen autokratischen Regimes vielfach kritisiert. Daraufhin beschloss die EU, dem Prinzip der Konditionalität einen höheren Stellenwert beizumessen: Demnach gewährt Brüssel seinen Nachbarn umso mehr Unterstützung, je größer deren Reformeifer ist – es reduziert seine Hilfen hingegen, wenn die Nachbarn vereinbarte Reformen nicht anpacken. Dies wird in der überarbeiteten Version der Europäischen Nachbarschaftspolitik vom 25. Mai 2011 deutlich unterstrichen.
Neu ist dieser Ansatz freilich nicht. Sowohl die Erweiterungs- als auch die bisherige Nachbarschaftspolitik bauen darauf auf. Die dabei zugrunde liegende Logik lautet: Die EU ist das Modell, und die Nachbarländer versuchen, sich diesem Modell anzugleichen, um so in den Genuss der in Aussicht gestellten Anreize zu kommen. In der Erweiterungspolitik sowie, mit Abstrichen, in der östlichen Nachbarschaft der EU funktioniert dieser Ansatz. Er lässt sich jedoch nicht ohne weiteres auf die südlichen Anrainer übertragen. Dies liegt nicht nur an der mangelhaften Umsetzung oder Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten.
Die Anreize für die Partner sind zu gering
Für die östlichen Nachbarn der EU gab und gibt es einen sehr klaren und attraktiven Anreiz, Reformen durchzuführen: den Beitritt zur EU. Bis hin zu den Ländern des südlichen Kaukasus ist diese Option gegeben, selbst wenn sie (noch) keinen offiziellen EU-Kandidatenstatus besitzen. Verbunden mit finanziellen Hilfen ist dies für die meisten Nachbarn attraktiv genug, die Kosten für Reformen und Rechtsangleichungen auf sich zu nehmen. Deshalb kann Konditionalität gegenüber potenziellen Beitrittskandidaten gelingen.
Für die Staaten des südlichen und östlichen Mittelmeer-Raums gilt dies jedoch nicht, da ein Beitritt kein denkbares Szenario ist. Die einzigen echten Anreize bleiben somit finanzielle Hilfen, die Integration in den EU-Binnenmarkt sowie eine Liberalisierung der Visumsvergabe, kurz: Geld, Marktzugang und Mobilität. Aber diese Angebote reichen nicht aus, um daran weitgehende politische Bedingungen zu knüpfen.
Um Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten, bietet Brüssel seinen Nachbarn an, sogenannte vertiefte und umfassende Freihandelsabkommen auszuhandeln. Der Deal lautet: Die EU gewährt den Nachbarn eine teilweise Öffnung des Marktes, wenn diese ihre Rechtsvorschriften dem Europa-Recht angleichen. Das wäre ein interessantes Angebot, zumindest wenn die EU für die Nachbarn wichtige Bereiche wie den Agrarsektor stärker einbeziehen würde. Umgekehrt müssten die Nachbarstaaten natürlich ihre eigenen Märkte für europäische Produkte öffnen. Deren Volkswirtschaften wären somit der starken europäischen Konkurrenz ausgesetzt. Auch sind die finanziellen und politischen Kosten einer Rechtsangleichung sehr hoch. Die Nachbarstaaten müssten beispielsweise in den Umbau ihrer Verwaltung investieren und unpopuläre Reformvorgaben umsetzen, wie die Streichung von Lebensmittelsubventionen. In den Ländern, die eine Mitgliedschaft anstreben, wurden derartige Schritte gegenüber den Bürgern häufig damit gerechtfertigt, dass sie für einen EU-Beitritt nötig seien. Dies geht in den südlichen Nachbarstaaten nicht.
Die EU stellt ihren Nachbarn zudem sogenannte »Mobilitätspartnerschaften« in Aussicht. Diese Abkommen zielen darauf, Migranten bessere Anreize zur Heimkehr zu bieten, zeitlich befristete Arbeits- und Ausbildungsvisen zu gewähren und gemeinsam die illegale Migration zu bekämpfen. Doch selbst wenn die EU auf kostenintensive Bedingungen wie die Rückübernahmeabkommen verzichten würde, wäre der Nutzen dieser Partnerschaften für die Nachbarstaaten gering. Eine Lockerung der Visapolitik für einige Berufsgruppen, für die in der EU Bedarf besteht, würde die angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt der Nachbarländer kaum lindern. Möglicherweise würden auch gerade die Fachkräfte, an denen die EU Interesse hat, in den Partnerländern selbst gebraucht.
Der interessanteste Anreiz, den Brüssel zu bieten hat, sind Finanzhilfen. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage und erheblicher Budgetdefizite werden einige der südlichen Nachbarn in den nächsten Jahren auf externe Hilfszahlungen angewiesen sein. Seit Beginn der Umbrüche in der arabischen Welt hat die EU ihre Mittel leicht erhöht. Aber angesichts der Summen, die etwa aus den USA und insbesondere aus den Golf-Staaten in die Region fließen, wird klar, dass die EU-Mittel nicht ausreichen. So gewährten im Juli 2013 beispielsweise Saudi-Arabien, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate innerhalb weniger Tage Kredite und Hilfszahlungen im Umfang von über neun Milliarden Euro an Ägypten.
Die Angebote in allen drei genannten Feldern reichen nicht aus für eine Politik, die auf dem Ansatz beruht, Unterstützung an Bedingungen zu knüpfen. Tatsächlich ist die EU in einigen Bereichen wie der Migration, der Energieversorgung oder der Terrorbekämpfung sogar stärker auf die Kooperation mit ihren Nachbarn angewiesen als die EU-Anrainer auf Brüssel. Damit wird das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der EU und ihren Partnern teilweise auf den Kopf gestellt.
Privatinvestitionen und Tourismus sind Bereiche, die zumindest für einige der südlichen Nachbarn von entscheidender Bedeutung sind. Sie taugen jedoch nur sehr bedingt als Anreiz im Sinne der politischen Konditionalität, ist die Konditionalisierungspolitik doch ein Instrument für die Zusammenarbeit von Regierungen. Trotz gelegentlicher anders lautender Beteuerungen: Touristen und Wirtschaftsunternehmen haben ein Interesse an Stabilität und Sicherheit. Die Regierungsform und die Einhaltung von Menschenrechten spielt für sie, wenn überhaupt, nur eine zweitrangige Rolle.
Die EU ist nur ein Akteur unter vielen
Neben einem ausreichenden Anreiz fehlt auch die zweite Voraussetzung, damit Konditionalität funktionieren kann: Die EU wird in ihrer südlichen Nachbarschaft nur bedingt als Modell gesehen. Als die Menschen in Kairo und Tunis auf die Straße gingen, hatten sie keine Demokratie nach europäischem Vorbild im Sinn. Anders als bei den Farbrevolutionen in Osteuropa wurden keine EU-Flaggen geschwenkt. Zwar sind viele der Forderungen der Demonstranten wie Rechtsstaatlichkeit, Abschaffung von Folter oder Einführung eines Parteienwettbewerbs zentrale Elemente westlicher Demokratie. Gleichzeitig betonen jedoch alle politischen Kräfte, dass sich in den arabischen Staaten eine eigene Form der Demokratie entwickeln müsse, die den lokalen, kulturellen und religiösen Besonderheiten gerecht werde.
Hinzu kommt, dass die EU in den südlichen Nachbarländern nur ein Akteur unter vielen ist und noch immer vorrangig als wirtschaftlicher Akteur betrachtet wird, mit dem man zwar gerne Handel treibt, dessen politischer Einfluss jedoch als gering eingeschätzt wird. An der östlichen Peripherie wurde die EU nicht zuletzt deshalb als Modell angesehen, weil die Hinwendung nach Europa die einzige Alternative zur Abhängigkeit von Russland zu sein schien. Im südlichen und östlichen Mittelmeer-Raum jedoch konkurrieren zahlreiche Länder um wirtschaftlichen und politischen Einfluss: die Golf-Staaten, die USA, die Türkei, der Iran oder Russland. Dies hat sich seit den Umbrüchen von 2011 noch verstärkt, da viele Regierungen in der Region über etablierte Beziehungen hinaus nach neuen Partnern Ausschau halten.
Als beispielsweise die Gespräche über einen Kredit zwischen Ägypten und dem Internationalen Währungsfonds ins Stocken gerieten, sprangen kurzerhand die Golf-Staaten mit Milliardenzahlungen ein. Als sich die Beziehungen zwischen Washington und Kairo verschlechterten und die USA ihre Militärhilfe zurückschraubten, bot Russland militärische Zusammenarbeit an. Marokko und Jordanien wiederum wurde eine Mitgliedschaft im Golf-Kooperationsrat angeboten.
Was ist die Alternative?
So edel die Absichten hinter dem Konditionalitätsansatz sein mögen und so wünschenswert ein Gelingen ist, muss die EU sich doch eingestehen, dass er in der südlichen Nachbarschaft nicht funktioniert: die Angebote Brüssels reichen nicht aus, die EU besitzt nur einen bedingten Modellcharakter, eine echte Abhängigkeit ist nicht gegeben, und die EU konkurriert mit zahlreichen anderen Akteuren. Brüssel muss erkennen, dass die nichtdemokratischen Regime in der Region mit dem Mechanismus der Konditionalität nicht zu Reformen zu bewegen sind und der politische Einfluss Europas sehr begrenzt ist. Gleichzeitig muss die EU sich vor Augen führen, was passiert, wenn Brüssel seine Kooperation mit den nordafrikanischen und nahöstlichen Staaten als Folge der Konditionalität zurückfährt. Dann werden andere Länder an die Stelle der Europäer treten: Ist es besser, wenn die Golf-Staaten Finanzierungshilfen im Bildungsbereich übernehmen? Sollten lieber China und Russland im Sicherheitsbereich mit den nordafrikanischen Staaten zusammenarbeiten?
Die Konditionierungspolitik der EU soll dazu dienen, die Normen und Werte der EU in den Nachbarländern durchzusetzen. Eine Abkehr von diesem Ansatz sollte gleichwohl nicht bedeuten, dass fortan jegliches normative Moment aus der europäischen Außenpolitik verschwindet. Die EU darf mit Autokraten nicht genauso umgehen wie mit demokratischen Regierungen. Dass es nicht ratsam ist, Waffen an Regimes zu liefern, die damit die Opposition unterdrücken, versteht sich von selbst. Es bedarf keiner programmatischen Konditionalität, um Kritik an Fehlentwicklungen zu üben und beispielsweise Regierungstreffen abzusagen oder Botschafter einzubestellen. Brüssel muss darauf achten, dass die Finanzmittel nicht als Budgethilfen für autoritäre Herrscher dienen, sondern der Bevölkerung zugute kommen. Dies sollten normative Komponenten einer verantwortungsvollen, ehrlichen und gleichzeitig realistischen Außenpolitik sein, die auch ohne Konditionalitätsprinzip für ihre Werte einsteht.
Die Schwerpunkte Geld, Marktzugang und Mobilität können auch außerhalb des Konditionalitätsansatzes als Kooperationsfelder bestehen bleiben. Wenn es Brüssel jedoch tatsächlich darum geht, seine Nachbarn zu unterstützten, dann sollte dringend geprüft werden, welche Angebote diesen wirklich zu Gute kommen. Die bisherigen Themen und Instrumente sind jedenfalls zu sehr auf die europäischen Bedürfnisse zugeschnitten.
Der Beitrag ist in gekürzter Form auch bei Cicero Online erschienen.