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05. Aug. 2013

Machtkampf in Tunesien

Islamisten und Säkulare ringen um die neue Verfassung, Bürger protestieren gegen die politische Gewalt

Das Mutterland des „Arabischen Frühlings“ kommt nicht zur Ruhe. Während die Politik über den Rang der Religion in der Verfassung streitet, macht die Bevölkerung ihrem Unmut über die prekäre soziale Lage, schleichende Islamisierung und politische Gewalt Luft. Der zweite Mord an einem Oppositionspolitiker führte erneut zu Großdemonstrationen gegen die Regierung. Deren Zukunft hängt letztlich davon ab, wie vehement die Forderung nach Veränderung auf den Straßen artikuliert wird.

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Wer waren die getöteten Politiker Mohamed Brahmi und Chokri Belaid und was weiß man über die Täter?

Mohamed Brahmi und Chokri Belaid waren Führungsmitglieder links-nationaler Oppositionsparteien und scharfe Kritiker der derzeitigen, islamistisch geführten tunesischen Regierung. Brahmi war zudem Abgeordneter der Verfassungsgebenden Versammlung (ANC). Beide gehörten dem säkularen Lager an. Damit können sie sich sowohl radikale Islamisten als auch Vertreter des alten Regimes, die den demokratischen Transformationsprozess torpedieren wollen, zum Gegner gemacht haben.

Was die Attentäter angeht, blühen auf den Straßen von Tunis, in Blogs und auf Facebook weiter die Spekulationen, obwohl das tunesische Innenministerium bereits einen Tag nach dem Anschlag eine Gruppe radikalislamischer Terroristen als Täter präsentiert hat. Die große Mehrheit der Demonstranten macht letztendlich die islamistische Regierungspartei Ennahda für beide politischen Morde verantwortlich und fordert eine transparente Untersuchung der Anschläge. Zwar hat sich der Vorsitzende der Ennahda, Rachid Ghannouchi, mit klaren Worten von den Attentaten distanziert, doch werfen ihm die Demonstranten vor, eine wirkliche Aufklärung des Mordes an Chokri Belaid im Februar dieses Jahres bislang verhindert zu haben.

Wogegen richten sich die aktuellen Proteste?

Die Großdemonstrationen der letzten zwei Wochen, vor allem anlässlich der Beerdigung Mohamed Brahmis am 27. Juli und des nun genau sechs Monate zurückliegenden Mordes an Chokri Belaid am 6. August, richten sich gegen diesen mangelnden Aufklärungswillen der Regierung und gegen Gewalt als Form des politischen Machtkampfs. Vor allem aber entlädt sich in den Protesten eine seit Monaten aufgestaute Spannung, die sich auch durch die Kabinettsumbildung nach den Massenprotesten gegen den ersten Mordanschlag nicht gelöst hatte. Die Menschen sind unzufrieden mit der Entwicklung des Landes seit dem Sturz des alten Regimes, sie sehen keine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation und keine Fortschritte im Kampf gegen die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere unter Jugendlichen.

Außerdem sind viele Tunesier enttäuscht vom Prozess der Verfassungsgebung, der eigentlich schon im Oktober 2012 hätte abgeschlossen sein sollen, und den chaotischen Zuständen im ersten frei gewählten Gremium seit dem Sturz des alten Regimes. Die Verfassungsgebende Versammlung wurde vor allem in der Anfangsphase von Machtkämpfen, Aus- und Übertritten von Abgeordneten und Neugründungen von Fraktionen beherrscht. Und der Kampf um die Ausrichtung der neuen Verfassung gestaltet sich zäh.

Wo verlaufen die politischen Fronten in der Verfassungsgebenden Versammlung?

Wichtige Streitpunkte sind der Stellenwert bürgerlicher Freiheiten, das Verhältnis von Mann und Frau und die künftige Machtverteilung zwischen dem Präsidenten und dem Regierungschef. Im Zentrum der Auseinandersetzung aber steht die Frage, welche Rolle die Religion im künftigen Staatsentwurf spielen soll.

Mit den Islamisten, die mit etwa 40 Prozent der Stimmen die Wahlen im Oktober 2011 klar gewonnen haben, und dem säkularen Lager aus vielen unterschiedlichen Parteien stehen sich dabei Vertreter zweier schwer vereinbarer Positionen gegenüber. Beide Lager ringen seit Monaten erbittert um die Grundzüge der neuen Verfassung.

Der Islam wird im ersten Artikel der Verfassung als Religion Tunesiens festgeschrieben. Ein direkter Verweis auf die Scharia fehlt zwar im aktuellen, vierten Entwurf, doch sehen Kritiker nach wie vor großen Interpretationsspielraum, der eine schleichende Islamisierung des Landes auf der Basis der neuen Verfassung ermögliche.

Geht es bei der politischen Auseinandersetzung gar nicht um wirtschaftliche Aspekte?

Der Streit um den Stellenwert der Religion und die verfassungsmäßige Ausgestaltung des künftigen tunesischen Staates dominiert seit Monaten den politischen Diskurs. Dagegen wird kaum nach Lösungen für die drängenden sozialen und wirtschaftlichen Fragen gesucht. Dies ist umso erstaunlicher, als die prekäre wirtschaftliche Lage vieler Tunesier und die hohe Arbeitslosigkeit einer der zentralen Auslöser für die Proteste des Jahres 2011 war.

Obwohl sich jede künftig regierende Partei an ihren Erfolgen in diesem Bereich wird messen lassen müssen, haben die Parteien das Thema bislang in erstaunlicher Weise vernachlässigt. Viele Parteien des linken Spektrums und vor allem die einflussreiche Großgewerkschaft UGTT haben sich lange Zeit in internen Flügelkämpfen verstrickt und dabei verpasst, das Thema zu besetzten.

Erst langsam beginnen einzelne Parteien, wirtschafts- und sozialpolitische Programme zu erarbeiten, darunter die sozialdemokratische Partei Ettakatol, die damit im kommenden Wahlkampf eigene Akzente setzen und verlorenes Vertrauen durch ihre Regierungsbeteiligung an der Seite der islamistischen Ennahda zurückgewinnen will.

Hält die Regierung bis zu den regulären Wahlen durch?

Bevor Wahlen stattfinden können, muss zunächst eine neue Verfassung verabschiedet werden. Nach zähem Ringen liegt der vierte Entwurf nun dem Plenum der ANC zur Abstimmung vor. In Reaktion auf den Mord an Mohamed Brahmi und die Großdemonstrationen sind allerdings bislang etwa 70 Abgeordnete der Opposition zurückgetreten und der Vorsitzende der ANC hat bis zum Beginn eines nationalen Dialogs die Arbeit der Versammlung ausgesetzt.

Sollten die Proteste anhalten, erscheint auch ein Sturz der Regierung nicht unmöglich. Der politische Druck der Straße könnte die Risse in der Regierungskoalition vertiefen und die beiden kleinen Koalitionspartner der Ennahda dazu bringen, die Troika zu verlassen. Möglich wäre dann die Ernennung eines Expertengremiums zur Erarbeitung einer Verfassung, wie es Viele auf den Straßen Tunesiens inzwischen fordern, obwohl der Prozess der  Verfassungsgebung durch eine gewählte Versammlung bislang als wichtiger Schritt bei der demokratischen Transformation galt. Dies könnte die Erarbeitung einer neuen Verfassung zwar deutlich beschleunigen, würde jedoch die Frage der demokratischen Legitimation eines solchen Gremiums aufwerfen.

Zudem fordert die Opposition die Einsetzung einer unabhängigen, von allen Seiten anerkannten Übergangsregierung. Die Regierungspartei Ettakatol hat sich inzwischen für diese Lösung offen gezeigt. Doch die islamistische Ennahda hält an der aktuellen Regierung unter ihrer Führung fest, hat aber in Reaktion auf die anhaltenden Proteste Wahlen für Mitte Dezember angekündigt. Aktuellen Umfragen zufolge hätten bei diesen Wahlen die neue säkulare Sammlungsbewegung Nidaa Tounes, aber auch eine vereinte linke Opposition Chancen, die Islamisten herauszufordern.

Die Zukunft der Regierung hängt letztendlich jedoch davon ab, wie sich die Situation auf den Straßen des Landes entwickelt und wie vehement die politische Forderung nach Veränderung artikuliert wird. Eine Situation wie in Ägypten und ein Eingreifen des Militärs auf Seiten der Demonstranten ist allerdings in Tunesien nicht zu erwarten. Anders als im ehemaligen Militärstaat Ägypten spielt die Armee in Tunesien traditionell keine politische Rolle.

Bibliografische Angaben

Sold, Katrin. “Machtkampf in Tunesien .” August 2013.

Fünf Fragen, 29. Juli 2013

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