Policy Brief

31. Juli 2022

Kein Grund zur Panik!

Eine strategische Basis für Deutschlands Krisenmanagement
WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus und Olaf Scholz
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Krisen sind nicht vorhersehbar. Doch das ist keine Entschuldigung für fehlende Vorbereitung. Eine Analyse früherer Krisen kann das künftige Krisenmanagement von Regierungen verbessern und strategisch unterfüttern. Der folgende Policy Brief stellt Reformen vor, die auf vergangenen Erfahrungen basieren, und zeigt, wie sie in Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) integriert werden können. Er überdenkt das Verhältnis zwischen Krisenreaktion und Strategie.

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Krisenreaktion und Strategieentwicklung werden oft als getrennte, sogar gegensätzliche Prozesse betrachtet. Einen Fokus auf Krisenmanagement sehen viele als Beweis dafür, dass Strategien sinnlos sind. Doch das zeugt nur davon, dass Staaten das Vertrauen in ihre Krisenreaktionsfähigkeit verloren haben.  
Krisenreaktion kann verbessert und zur Routine werden: mit einigen einfachen Reformen, die Staaten dabei helfen, strategischer vorzugehen. Diese können beweisen, dass Krisen weder stressintensiv noch destruktiv oder aktionistisch sein müssen.  
Strategieentwicklung und Krisenmanagement können sich gegenseitig stärken: Sie widmen sich beide der Frage, wie sich internationale Abhängigkeiten und geopolitische Rivalitäten auf verschiedene Angelegenheiten auswirken, die früher als streng national, lokal und fachspezifisch angesehen wurden.  
Die NSS könnte die falsche Dichotomie zwischen Krisenmanagement und Strategieentwicklung überwinden, indem sie ihre Aufmerksamkeit darauf richtet, nationale Krisen vorherzusehen, die sich aus geopolitischen Verschiebungen ergeben.  

Aus Krisen lernen - schwierig, aber wichtig

In der öffentlichen Wahrnehmung sind Krisen in der Regel durch soziale Unruhen, eine wirtschaftlich angespannte Lage und politische Improvisation gekennzeichnet. Für Durchschnittseuropäerinnen und -europäer bedeutet Krise heutzutage ein gemeinsames Stressgefühl. Dies könne verhindert werden, wenn Staaten besser vorbereitet wären. Zwar zeigt die Erfahrung, dass jede noch so gute Planung die erste Phase einer Krise meist nicht überlebt. Und dennoch sind Krisenvorsorge und -management möglich. Ohne eine solche Vorsorge ist die erste offizielle Reaktion auf eine Krise fast immer keine Reaktion, sondern eher ein Zustand der Lähmung. Dazu sagt Dr. Michael Ryan, Generaldirektor des WHO Health Emergencies Programm:

Wie bei einem Autounfall wissen Sie nicht genau, was mit Ihnen passiert. Dieser Schock kann lähmend wirken. Deshalb ist es so wichtig, diese Art von Situationen zu proben. Feuerwehrleute, Soldatinnen und Soldaten, Sanitäterinnen und Sanitäter: Sie alle trainieren dafür, dass sie im Ernstfall nicht erst noch nachdenken müssen.

Diese anfängliche Untätigkeit weicht bald dem Gegenteil: panischem Handeln um des Handelns willen. Statt kühl und sachlich zu reagieren, versuchen Staaten, den Eindruck zu erwecken, dass sie die Situation in den Griff bekommen. Verschiedene Gremien unterbreiten Vorschläge für neue Maßnahmen, Einrichtungen und Strukturen, ohne jedoch die tatsächliche Nützlichkeit der Vorschläge zu prüfen. Natürlich sind funktionierende Strukturen und Einrichtungen wichtig und wo sie fehlen, müssen sie geschaffen werden. Doch die Einführung von Parallelstrukturen mitten in einer Krise ist oft ein Zeichen von Panik. Und genau das charakterisierte das europäische Krisenmanagement der letzten Zeit. In Anbetracht der Tatsache, dass internationale Krisen heute oft alle Regierungsebenen und Politikbereiche betreffen, ist das Potenzial für das Entstehen von Parallelstrukturen enorm.

Der Staatsapparat allein ist nicht in der Lage, die komplexen Krisen von heute zu bewältigen. Ein offensichtliches Mittel gegen das überstürzte Handeln ohne Strategie ist daher das Engagement der Zivilgesellschaft und des Privatsektors, sei es bei der Aufnahme von Geflüchteten oder bei der Beschaffung nützlicher Güter zur Deckung des Grundbedarfs. Dieses Engagement ist oft der Schlüssel zur Widerstandsfähigkeit eines Landes in Zeiten der Krise. Es hilft den Menschen, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit zu bekämpfen, und wirkt einem eventuellen Aufstand der Bevölkerung gegen den Staat entgegen, indem soziale Unruhen und wirtschaftlicher Stress gedämpft werden. Für Staaten ist es jedoch schwierig, den guten Willen und das Engagement der Gesellschaft effektiv zu nutzen, und obwohl viele Regierungen tatsächlich verstärkt mit der Zivilgesellschaft und dem Privatsektor zusammenarbeiten, gibt es noch viel Luft nach oben.

Stattdessen haben Entscheidungsträgerinnen und -träger in Europa zu oft versucht, ihr improvisiertes Krisenmanagement mit dem „Krise-als-Chance“-Narrativ zu entschuldigen. Kaum haben sie im Krisenfall ihre anfängliche Lähmung überwunden, neigen sie dazu, die jeweilige Situation als Chance darzustellen, um weitreichende Maßnahmen zu ergreifen, die in normalen Zeiten aufgrund der politischen Umstände schwer durchzusetzen wären. Einzelne Menschen und Unternehmen folgen ihrem Beispiel und nutzen die Krise zu ihrem persönlichen Vorteil, wie Gerhard Schindler, ehemaliger Präsident des Bundesnachrichtendiensts, beklagt. Dieser Egoismus hat negative Auswirkungen – nicht nur auf die innere Widerstandsfähigkeit, sondern auch auf die Außenbeziehungen, sei es in Form von Engpässen in der medizinischen Versorgung oder einer Verschlechterung der Ernährungssituation durch Fluchtbewegungen oder kriegsbedingte Zerstörungen.

Schlechte Kommunikation verstärkt schlechtes Krisenmanagement

Für die europäischen Gesellschaften kann dieser Kreislauf aus Lähmung und hektischer, unkoordinierter Aktivität anstrengend sein – und in der Tat endete jeder Krisenzyklus des letzten Jahrzehnts in Erschöpfung und Selbstzufriedenheit. Das sich wiederholende Muster des Nichtstun gegenüber dem „Handeln um des Handelns willen“ wird durch eine mangelhafte, oft schrille Kommunikation noch verschärft. Im Lärm der alles überschattenden Krise gehen die leiseren, aber differenzierten Nuancen verloren. „Was dabei auf der Strecke bleibt, ist die Komplexität der Herausforderungen, vor allem ihre Verflechtung“, schreibt Wolfgang Schäuble, ehemaliger Bundesfinanz- und Bundesinnenminister. Oft sind aber genau diese subtilen Aspekte entscheidend für das Verständnis des Gesamtbildes. Ohne sie ist ein umfassender Blick und damit eine Lösung nicht möglich.

Eine mangelhafte Kommunikation hat wiederum gesellschaftliche Nachteile und bereitet den Boden für Fake News, Verschwörungstheorien und Gegenreaktionen der Bevölkerung gegen den Staat. Die Bereitstellung zuverlässiger öffentlicher Informationen ist jedoch eine vertrauensbildende Maßnahme und eine der wirksamsten Möglichkeiten, die Energie der Öffentlichkeit und die internationale Zusammenarbeit zu bündeln. Oft gelingt das, indem immer wieder über eine positive Zukunft und die Fähigkeit des Landes, diese zu erreichen, gesprochen wird. Hier ist allerdings Mäßigung gefragt, denn übertriebene und aufsehenerregende Mitteilungen oder auf Selbstdarstellung ausgerichtete Pressekonferenzen können zu einer Übersättigung der öffentlichen Debatte führen. Zuhören gehört zu einer verlässlichen Regierungskommunikation ebenso dazu wie eine gute Mitteilungsstrategie. Die Unfähigkeit zum aufmerksamen Zuhören macht ein gutes Krisenmanagement unmöglich.

Zu erwähnen ist ebenso, dass politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger oft zu vergessen scheinen, dass eine Krise ein langwieriges Ereignis ist, das durch Fort- und Rückschritte gekennzeichnet ist. Sobald sie in ihrer Kommunikation ein hohes Tempo vorgelegt haben, fühlen sich Regierungen oft verpflichtet, es beizubehalten. Die Covid-19-Pandemie hat dies besonders gut veranschaulicht. Das bekannte Muster von Überkommunikation und Ermüdung („Panik und Vernachlässigung“ laut Elhadj As Sy, dem ehemaligen Generalsekretär des Internationalen Roten Kreuzes, IFRC) hat sich bewahrheitet: Der zweijährige Pandemie-Marathon ist in eine neue Krise übergegangen – den russischen Krieg gegen die Ukraine – und die Selbstzufriedenheit weicht erneut Lähmung. Der öffentliche Diskurs konzentriert sich jetzt fast ausschließlich auf die neue Herausforderung und die Kommunikation zur Covid-19-Pandemie verstummt zusehends.

Erfahrungen aus den jüngsten Krisen: Krisenmechanismen und Maßnahmen

Jetzt ist es an der Zeit, nicht nur die Covid-19-Krise zu beenden, sondern sich auch auf künftige Krisen in verschiedenen Bereichen vorzubereiten, nicht zuletzt auf neue Pandemien. Leider wird dies durch die Enttäuschung über die Fähigkeit der Regierungen, die nächste Krise zu antizipieren, erschwert. Vor der Covid-19-Pandemie und nach der Flüchtlingskrise 2015 forderten viele Expertinnen und Experten eine bessere Krisenvorsorge und vorausschauendes Handeln. Mit dem Instrument der „strategischen Vorausschau“ waren sie in der Lage, relativ detaillierte Zukunftsszenarien zu entwerfen und deren Auswirkungen zu analysieren. Einige dieser Szenarien sahen bereits vor dem Ausbruch von Covid-19 Pandemien voraus. Allerdings haben nur die Regierungen, die in der Vergangenheit mit Epidemien konfrontiert waren, tatsächlich nach diesen Szenarien gehandelt. Dieses empfundene Versagen ist die Ursache für die Desillusionierung der Öffentlichkeit.

 

„Jetzt ist es an der Zeit, sich auf künftige Krisen in verschiedenen Bereichen vorzubereiten“

 

Diese Erfahrung bedeutet jedoch nicht, dass es unmöglich ist, sich auf Krisen vorzubereiten. Vorausschau ist, selbst wenn sie zu präzisen Szenarien führt, noch immer nicht dasselbe wie Vorhersage. Strategische Vorausschau kann uns immer nur auf kommende Herausforderungen hinweisen. Und wenn wir nach einem Wegweiser für die Zukunft suchen, ist es erstaunlich, wie wenig wir geneigt sind, in die Vergangenheit zu schauen. Bei allen offensichtlichen Unterschieden weisen die internationalen Krisen der letzten Jahre viele Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Mechanismen und Maßnahmen zu ihrer Bewältigung auf. Ob Pandemie, ungeordnete Massenmigration, islamistischer Terrorismus, Umweltkatastrophen wie das Hochwasser im Ahrtal im Jahr 2021, Cyberangriffe oder militärische Herausforderungen – die folgenden Maßnahmen hätten die Bereitschaft auf breiter Front verbessert:

  • Einstellung von Personal, das in der Lage ist, verschiedene Krisenarten zu bewältigen. Hierfür muss eine Personalreserve geschaffen werden, insbesondere zur Aufstockung des zivilen Personals. Darüber hinaus bedarf es eines verstärkten Informationsaustauschs zwischen den häufig im Zentrum der deutschen Krisenbewältigung stehenden Institutionen (THW oder Verteidigungsministerium) und der Einführung neuer Schulungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. So hat beispielsweise das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) die Bundesakademie für Bevölkerungsschutz und Zivile Verteidigung (BABZ) (ehemals Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz, AKNZ) geschaffen.
  • Übungen und Simulationen, d.h. Training von spezifischen Krisensituationen und regelmäßiges Üben von Krisenmanagement und -reaktion. Die Ergebnisse und Erfahrungen aus diesen Übungen müssen in die weitere Planung einfließen. Auch wenn oft unmittelbar nach Krisen Evaluierungen des Krisenmanagements und der Krisenbereitschaft stattfinden, werden die jeweiligen Empfehlungen häufig nicht berücksichtigt.
  • Spezifische, krisenrelevante Güter (z. B. medizinische Ausrüstung). Bei der Vorbereitung auf Krisen sollten als erste Schritte unbedingt die Vorratshaltung, die Versorgungsbereitschaft und die Reserven, das heißt die Sicherstellung der Verfügbarkeit kritischer Güter, gewährleistet werden. Zunächst müssen die benötigten Materialien ermittelt werden. Dann muss geklärt werden, was, wenn überhaupt, in Europa produziert oder gelagert werden kann. Schließlich müssen die Lieferketten diversifiziert werden.
  • Mechanismen zur Krisenerkennung wie Frühwarnsysteme. Monitoring und Beobachtung ziehen sich wie ein roter Faden durch alle krisenbezogenen Entwicklungen. Hier lohnt sich der verstärkte Einsatz von KI-gestützten Systemen. Eine bessere Vernetzung und der Einsatz von Frühwarn-Apps könnten helfen, frühzeitig auf Überschwemmungen und wetterbedingte Notfälle zu reagieren. Das Bundesministerium des Innern und für Kommunales (BMI) beobachtet beispielsweise aufgrund der Migrationserfahrungen von 2015 heute verstärkt Entwicklungen in Krisenregionen, die zu einer Massenmigration führen könnten.
  • Ein zentrales, umfassendes Lagebild für alle Gefahren. Die verschiedenen Dimensionen der Sicherheit müssen gemeinsam betrachtet werden: innen und außen, wirtschaftlich und sozial. Für diese wichtige Feststellung fehlt derzeit In Deutschland eine zentrale Stelle. Laut dem Inspekteur der Streitkräftebasis der Bundeswehr, Generalleutnant Martin Schelleis, fehlt es „.... derzeit an Personal (...), das ein übergeordnetes oder gesamtstaatliches Lagebild erstellen und entsprechende Maßnahmen planen und umsetzen kann.“
  • Verlässliche Informationen und umfassende, aktuelle Daten. Der Mangel an Daten verhindert einen klaren Blick auf die Situation. Dies gilt sowohl für die Phase der Krise selbst als auch für die Krisenvorsorge. Das Auswärtige Amt hat deshalb mit dem „PREVIEW“-System ein KI-basiertes Prognose-Tools entwickelt.

Und schließlich erfordert das Risiko mehrerer gleichzeitiger Krisen, dass wir Vorkehrungen für komplexe Situationen treffen. Aufgrund der globalen Verflechtung werden Krisen nicht nur häufiger auftreten, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen den Herausforderungen werden zunehmen und die Auswirkungen auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft verstärken. Hybride Bedrohungen und Versuche feindlicher Staaten, diese Interdependenzen als Waffe zu nutzen, werden die Lage weiter verschärfen. Umso mehr gilt es, mit vernetzten Ansätzen auf solche Krisen zu reagieren. Ein systematisches, ressortübergreifendes, regelmäßiges Monitoring von (internationalen) Entwicklungen im Rahmen der strategischen Vorausschau sollte Teil einer Sicherheitsstrategie und daraus resultierender verbesserter Strukturen sein.

Das Krisenmanagement auf eine strategische Grundlage stellen

Mithilfe einiger konkreter Schritte kann das Krisenmanagement vorausschauender werden, damit Staaten sich besser vorbereiten können. Ein gutes Krisenmanagement kann zudem die Erfahrung von Krisen verändern. Es kann die Kommunikation und das gesellschaftliche Engagement verbessern und den Regierungen den Vorwurf ersparen, sie hätten es versäumt, Krisen zu verhindern oder vorherzusehen. Und es kann den Umgang mit Krisen von einer Störung oder einer Belastung in etwas Routinemäßiges verwandeln, ohne dass der eingeschlagene Weg verlassen werden muss. Doch ist es überhaupt möglich, eine strategische Grundlage für das Krisenmanagement zu schaffen? Die Beantwortung dieser Frage drängt: Die deutsche Regierung arbeitet derzeit an einer Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS), auch als Gegenmittel zu einem Jahrzehnt der krisengetriebenen, exekutivlastigen Maßnahmenimprovisation.

Gegenwärtig werden Krise und Strategie oft als Gegensätze betrachtet: Das Wiederauftreten von Krisen wird sogar als Beweis für das Scheitern oder sogar die Unmöglichkeit strategischen Verhaltens angesehen. Dies liegt jedoch daran, dass das Krisenmanagement in Europa in der Vergangenheit häufig mangelhaft war, und schlechtes Krisenmanagement schadet jeglichen strategischen Überlegungen. Wie wir in den letzten 15 Jahren gesehen haben, führt ein unzureichendes Krisenmanagement dazu, dass Regierungen auf internationale Entwicklungen reagieren und ihre umfassenderen strategischen Dokumente und Ziele zunichtemachen. Es hat in der Tat keinen Sinn, dass eine Regierung eine Sicherheitsstrategie wie die NSS verfasst, wenn sie nicht in der Lage ist, mit einer unerwarteten Krise umzugehen – vor allem, wenn sie versucht, die NSS als Alternative zur Krisenreaktion und zur Vorhersage künftiger Schocks zu nutzen.

Doch es gibt noch viel mehr Gründe, warum eine gute Krisenvorsorge und eine gute Strategieentwicklung sich gegenseitig verstärken können. Strategieentwicklung und Krisenmanagement sind natürlich zwei unterschiedliche Dinge. Sie finden auf zwei verschiedenen Abstraktions- und Handlungsebenen statt, können aber wirksam miteinander verknüpft werden. Der Prozess der Ausarbeitung einer Strategie (und der Sicherstellung ihrer Umsetzung) ist eng mit dem der Vorbereitung auf große Systemkrisen verbunden - von der Phase des Lernens aus der Vergangenheit bis hin zur effektiven Kommunikation eines nationalen Narrativs für die Zukunft. Ebenso können die aktuellen Reformen der deutschen Krisenvorsorge dazu beitragen, den Strategieprozess von der Ausarbeitung über die Umsetzung bis zur Überprüfung zu stärken:

Eine föderale Strategie: Fast alle staatlichen Maßnahmen haben heutzutage den Anspruch, „umfassend“ zu sein. Aber umfassend aus der Perspektive welcher Behörde oder Regierungsebene? Die Erstellung einer nationalen Sicherheitsstrategie beantwortet diese Frage. Die NSS wird versuchen, die deutschen Interessen zu definieren, nationale Prioritäten zu setzen und Vorschläge zu unterbreiten, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten, um den sicherheitspolitischen Herausforderungen für Deutschland zu begegnen. Dieser nationale Blickwinkel mag wie die Art von „Selbstfokussierung“ erscheinen, vor der wir oben gewarnt haben und die in einem globalen Kontext negative Auswirkungen auf das Krisenmanagement hat. Internationale Krisenvorsorge und -prävention sind jedoch umso erfolgreicher, wenn sie Teil eines landesweiten und „regierungsübergreifenden“ Ansatzes sind. Von der NSS wird erwartet, dass sie im Krisenfall Orientierung bietet – sowohl nach innen als auch nach außen –, und sie sollte die Grundsätze einer guten Zusammenarbeit enthalten.

„Internationale Krisenvorbereitung und -prävention sind dann erfolgreich, wenn sie Teil eines landesweiten und „regierungsübergreifenden“ Ansatzes sind“

 

Eine vernetzte Strategie: Aufgrund der zunehmenden globalen Komplexität sind an fast allen staatlichen Maßnahmen eine Vielzahl von Behörden und Interessengruppen beteiligt. Daher ist bei der Strategieentwicklung eine klare Zuweisung der nationalen Zuständigkeiten erforderlich. Das ist jedoch leichter zu erreichen, wenn die Behörden bereits gelernt haben, gemeinsam zu denken. Die Krisenvorsorge zwingt sie dazu. Die Durchführung von Krisenübungen (mit der Beteiligung der Regierung, Zivilgesellschaft und dem Privatsektor) und Simulationen von Notfällen können wertvolle Einblicke in mögliche Unzulänglichkeiten der mit der Krisenreaktion beauftragten Stellen liefern. Durch solche Simulationsübungen könnte sich eine Interessengemeinschaft herausbilden, um zu verhindern, dass einzelne Beteiligte „Wunschlisten“ für die NSS erstellen, die zur Schaffung neuer Strukturen und Maßnahmen führen könnten. Normalerweise nehmen die Verfasserinnen und Verfasser von Strategien nicht an solchen Übungen teil – dies sollte jedoch geändert werden.

Eine vorausschauende Strategie: Sowohl die Krisenvorsorge als auch die Strategieentwicklung sehen sich mit dem Unvorhersehbaren und mit vielen Unbekannten konfrontiert. Wie wir gesehen haben, besteht der erste Schritt zu einer besseren Krisenreaktion oft darin, einen schonungslosen Blick auf vergangene Herausforderungen und deren Bewältigung zu werfen und potenzielle neue Herausforderungen und Risiken zu ermitteln. Dies ist auch die Grundlage für die ersten vorbereitenden Schritte für die NSS. Doch die aus Krisen gezogenen Lehren führen in der Regel nur zu technischen Verbesserungen und fließen nur selten in strategische Prozesse ein. Die Erstellung der NSS wäre der richtige Zeitpunkt, um genau das zu ändern und dafür zu sorgen, dass die Lehren aus den Misserfolgen des Krisenmanagements der Vergangenheit in die neue Strategie einfließen. Darüber hinaus bedeutet eine vorausschauende Strategie nicht nur zeitliches, sondern auch räumliches Vorausschauen, so dass es ebenso wichtig ist, die Wechselwirkungen zwischen Innen- und Außenpolitik zu betrachten.

Eine handlungsorientierte Strategie: Einem schlechten Krisenmanagement geht oft ein Gefühl der Lähmung voraus. Obwohl sich die Regierungen dessen bewusst sind, tun sie sich schwer damit, das zu ändern. Denn dies erfordert nicht nur technische Anpassungen, sondern auch bestimmte strategische Entscheidungen, die im Voraus festgelegt und beschlossen werden müssen. Die NSS könnte „Auslöser“ identifizieren, die automatisch zu bestimmten Maßnahmen führen. Die deutsche Regierung hat Einrichtungen geschaffen, die im Krisenfall handeln sollen – die Krisenstäbe des Bundesinnenministeriums (für innere Angelegenheiten) und des Auswärtigen Amtes (für internationale Krisen). Im Rahmen der NSS könnte ein Nationaler Sicherheitsrat mit Sitz im Bundeskanzleramt eingerichtet werden, um Maßnahmen zu erarbeiten, die unter der Leitung des thematisch federführenden Ministeriums durchgeführt werden (z.B. Gesundheit, wenn es sich um eine Seuchenausbreitung auf nationaler Ebene handelt usw., Auswärtiges Amt gemeinsam mit dem Innenministerium, wenn es sich um grenzüberschreitende Notfälle in Europa handelt; all dies jedoch immer unter Einbeziehung von Fachleuten aus allen relevanten Bereichen).

Eine gut kommunizierte Strategie: Eine schnelle Informationsweitergabe und -analyse sind Markenzeichen einer guten Krisenkommunikation. Deutschland ist auf technischer Ebene zunehmend gut dafür gerüstet. Aber die Schaffung eines übergreifenden, regierungsweiten Lagebildes und Krisennarrativs erfordert wiederum strategische Entscheidungen. Dies gilt auch für das Bemühen, dem Aufbau neuer Strukturen für die Öffentlichkeitsarbeit in einer Krise entgegenzuwirken – ebenso wie für die Verbesserung bestehender staatlicher Strukturen, um die für eine gute Kommunikation notwendigen Akteure (einschließlich der Zivilgesellschaft und des Privatsektors) einzubeziehen. Eine Möglichkeit dazu sind regelmäßige, sektorübergreifende Lagebeurteilungen, die Einschätzungen und unterschiedliche Perspektiven liefern können (sektorübergreifend, um Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Sektoren zu berücksichtigen). Die Ergebnisse müssen in die NSS einfließen.

Eine Routinestrategie: Die Mechanismen des Krisenmonitorings und der Krisenbeobachtung funktionieren eher in „Echtzeit“ als über einen längeren Zeitraum, der für die Verfasserinnen und Verfasser der NSS eher nützlich wären. Aber diese Mechanismen bleiben relevant und können in regelmäßige Strategieüberprüfungen und sogar in die Schaffung einer deutschen „Strategiekultur“ einfließen. Zwischen den Krisengipfeln fehlt in Deutschland immer noch ein Mechanismus, der eine regelmäßige Diskussion über Entwicklungen gewährleistet, die zu Krisen führen könnten. Unter konkreten thematischen Schwerpunkten können Lagevergleiche durchgeführt werden, aber es ist wichtig, dass alle relevanten Abteilungen beteiligt sind und dass ihre Ergebnisse an einer zentralen Stelle zusammengeführt werden (auch hier vielleicht durch einen Nationalen Sicherheitsrat). Die Mechanismen des Krisenmonitorings und der Krisenbeobachtung – in enger Vernetzung mit nationalen, regionalen und globalen Akteuren – sowie die Krisenfrüherkennung des Auswärtigen Amtes sollten besser genutzt und ausgebaut werden.

Schlussfolgerung

Im Laufe des Jahres werden wir uns sehr wahrscheinlich mit neuen, gleichzeitig auftretenden Krisen auseinandersetzen müssen. Schließlich nimmt die Zahl der Krisen unterschiedlicher Art zu: Die Welt sieht sich nicht nur mit dem Krieg in der Ukraine konfrontiert, sondern auch mit einer Nahrungsmittelkrise, einer Energiekrise, einer Pandemie und der Klimakrise, die alle zunehmend voneinander abhängen. Es ist daher dringend notwendig, das Krisenmanagement zu verbessern – mit wirksamen Mechanismen zur regelmäßigen Beobachtung der (internationalen) Entwicklungen aus einer breiten Perspektive von Akteuren und Sektoren und zur Übertragung dieses Wissens an eine zentrale Stelle im Kanzleramt. Für die Bundesregierung besteht die Möglichkeit, solche Krisenvorbereitungsmaßnahmen und die Entwicklung einer Nationalen Sicherheitsstrategie miteinander zu verzahnen, um die NSS stärker operativ auszurichten und die Krisenvorsorge strategischer zu gestalten.

Ein Thema, das all diese gleichzeitigen Krisen gemeinsam haben, ist die Art und Weise, wie lokale, technische Angelegenheiten in Deutschland – die Aufnahme von Asylbewerberinnen und -bewerbern, die Bereitstellung medizinischer Versorgung, die Prüfung ausländischer Investitionen in die Infrastruktur – zunehmend geopolitisch geworden sind. Geopolitische Spannungen verschärfen die negativen Abhängigkeiten Deutschlands in Bereichen, die von lokalen oder nationalen Behörden mit wenig Erfahrung in komplexen internationalen Angelegenheiten bearbeitet werden. Eine wichtige Frage für die Verfasserinnen und Verfasser der NSS wird sein, wie sie sich auf diese schwierigen geopolitischen Verhältnisse vorbereiten und wie sie die deutsche Antwort mit der ihrer europäischen Partner verknüpfen können. Bei der Entwicklung der NSS sollten daher die Bemühungen der Mitgliedstaaten und der EU um die Erarbeitung ihrer eigenen Strategien berücksichtigt werden. Die NSS sollte mit Mechanismen wie Lagebeurteilungen und strategischer Vorausschau als einem Baustein der europäischen Vorausschau verknüpft werden.

Bibliografische Angaben

Bergner, Tobias, and Roderick Parkes. “Kein Grund zur Panik!.” German Council on Foreign Relations. July 2022.

DGAP Policy Brief Nr. 26, Juli 2022, 8 S.

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