Gerade in schnelllebigen Zeiten, in denen die Aktualität wenig Anlass zu Optimismus gibt, lohnt der Blick zurück. Wer sich der Tagespolitik entzieht, verpasst zwar das ein oder andere. Gleichzeitig wird deutlich, dass längst nicht alles, was neu ist, auch von Relevanz ist – und in Wahrheit häufig nicht einmal neu. Wer in ständiger Sorge lebt, nicht auf dem letzten Stand zu sein, läuft Gefahr, von Eilmeldungen und Twitter-Trends davongerissen und verschluckt zu werden. Und droht dabei, das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Dieses Risiko ist heute größer als je zuvor. An den deutsch-französischen Beziehungen lässt sich das gut demonstrieren.
Ein Selbstversuch zur Veranschaulichung: Im Juni 1974 schrieb Karl Kaiser, damals seit einem Jahr DGAP-Forschungsdirektor, einen Gastbeitrag für die Tageszeitung Le Monde. Anlass war das erste Treffen des neuen Bundeskanzlers Helmut Schmidt mit Frankreichs Präsidenten Valéry Giscard-d’Estaing. Kaiser appellierte an die beiden Politiker, ihrer Verantwortung gerecht zu werden – auch mit Bezug auf die europäische Einigung.
Der Beitrag hat 50 Jahre später so wenig an Aktualität eingebüßt, dass es gespenstisch ist. Der sozialdemokratische Bundeskanzler heißt heute Scholz, der liberale Präsident Macron. Die bundesdeutsche Hauptstadt ist von Bonn nach Berlin umgezogen und aus der europäischen Gemeinschaft ist eine Union geworden, mit 27 statt neun Mitgliedern. Die Themen sind aber die gleichen: Frankreich kämpft mit der Zahlungsbilanz und die Stabilität des gemeinsamen Wirtschaftsraums ist gefährdet. Die Bundesregierung sieht sich deshalb angehalten, die europäische Integration voranzutreiben, zögert aber. Die europäische Gemeinschaft steckt in der Krise, wirkt entscheidungsunfähig. Sogar die Verwerfungen der 1920er Jahre, die Kaiser beschwört, um für eine „deutsch-französische Wiederbelebung Europas“ zu werben, sind heute wieder eine Referenz.
Alles beim Alten
Welche Lehren der Blick in die Vergangenheit offenbart, liegt im Auge des Betrachters. Einen Pessimisten könnte die Lektüre des Le Monde-Artikels verzweifeln lassen: Denn den Fünf-Punkte-Plan, den Kaiser im Jahr 1974 Schmidt mit seinem Le Monde-Artikel auf die Antrittsreise nach Paris mitgab, könnte man dem aktuellen Bundeskanzler heute guten Gewissens erneut in die Aktenmappe stecken. Das wirkt erst einmal sehr ernüchternd: kaum Fortschritte in 50 Jahren?
Doch es gibt eine zweite, optimistische Lesart. Aus dem Artikel Kaisers spricht noch heute die historische Dringlichkeit. Er betont die Erwartungshaltung europäischer Partner an Deutschland und Frankreich: „Von Bonn oder Paris hängt die Zukunft der Gemeinschaft, der Gesellschaften, die sich in ihr entwickelt haben, und Europas im Allgemeinen ab. Dies könnte ihre letzte Chance sein“. Die gleiche Erwartungshaltung ist heute wieder spürbar, unter anderen Vorzeichen zwar, aber doch vergleichbar. 1974 wurde sie nicht enttäuscht. Denn Schmidt und Giscard lieferten, fanden gemeinsame Lösungen. Die Krise wurde überwunden, die Integration schritt voran. Doch noch Hoffnung also?
Zeit, wieder Flughöhe zu gewinnen
Ganz unabhängig davon, ob er Ernüchterung hervorruft oder Hoffnung weckt – der Rückblick lohnt in jedem Fall. Er zeigt, wie konstant außen- und sicherheitspolitische Identitäten sind und macht nachvollziehbar, wie schwer die historischen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich bis heute wiegen. Immer wieder haben sie seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine die glatte Oberfläche der europäischen Einigkeit durchbrochen: Die wichtigste Initiative des Kanzlers seit Beginn des Krieges, die European Sky Shield Initiative (ESSI), beruht in großen Teilen auf außereuropäischen Technologien; Frankreich missfällt das. Im Streit um Taurus-Lieferungen wiederum berief sich Olaf Scholz auf fehlende nukleare Souveränität, die Deutschland von Großbritannien und Frankreich unterscheidet – heute wie 1974.
Die Beschäftigung mit vergangenen Debatten hilft, die Trends zwischen tagespolitischen Höhen und Tiefen auszumachen. Letztere waren dabei in den vergangenen Jahren deutlich in der Mehrzahl. Trotz vieler großer Gelegenheiten, dem 60. Jubiläum des Elysée-Vertrags 2023 und dem Staatsbesuch Macrons im vergangenen Mai: Ein großer deutsch-französischer Wurf gelang zuletzt nicht. Stattdessen wurde im Oktober 2022 der deutsch-französische Ministerrat abgesagt, eine historische Premiere. Und nach einer Ukraine-Konferenz im Februar 2024 in Paris zog der Kanzler im Streit um westliche Bodentruppen indirekt auch für die NATO-Verbündeten rote Linien. Macron warf ihm daraufhin kaum verhohlen Schwäche vor. Der Konflikt, häufig öffentlich ausgetragen, wirkte dramatisch.
Den Blick nach vorne schärfen
Zwei Jahre später spricht kaum noch jemand über den abgesagten Ministerrat, der Zorn vom Februar ist verraucht. Statt sich an diesen Episoden aufzuhängen, gilt es für beide Regierungen, sich auf langfristige Ziele zu konzentrieren. Der Beitrag Karl Kaisers hilft dabei: Schon 1974 benannte er ein aus deutscher Sicht großes Hindernis für die Integration der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Deutschland, so befand Kaiser, habe den Widerspruch zwischen dem französischen Beharren auf nationaler Unabhängigkeit und dem Werben für europäische Kooperation ohne die USA nie verstanden. 50 Jahre haben daran wenig geändert, das Unverständnis hält an. Aktuell steht es der deutsch-französischen Abstimmung im Weg und verhindert, dass die EU der neuen Präsidentschaft Donald Trumps geschlossen entgegensieht.
Doch trotz des anhaltenden Unverständnisses gibt es viele Ansatzpunkte für die Zukunft. Die französische Außen- und Sicherheitspolitik hat unter Emmanuel Macron angesichts des Krieges in der Ukraine eine bedeutende Wende vollzogen. In Berlin wurde das bisher nicht klar genug erkannt und aufgegriffen: Paris wirbt für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, verspricht Staaten an der Ostflanke „strategische Solidarität“. Das eigene Engagement in der Allianz gewinnt an Bedeutung, und in der Stärkung des „europäischen Pfeilers“ der NATO sieht man in Frankreich mithin Chancen, statt die Allianz lediglich als Vehikel von US-Interessen abzutun.
Diese französische Zeitenwende, der ein Generationenwechsel zugrunde liegt und deren Erfolg die Modernisierung des Gaullismus voraussetzt, ist eine historische Chance – für die deutsch-französische Partnerschaft und die europäische Integration. Um sie jedoch zwischen den Höhen und Tiefen der Tagespolitik im Auge zu behalten und mit dem Umbau der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik zu versöhnen, um sie zu fördern und zu verstetigen, braucht es einen gewissen Abstand. Der Blick zurück hilft dabei.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ und enthält keine Fußnoten. Die vollständige Version inklusive Fußnoten können Sie oben im PDF bzw. über das E-Book aufrufen.