Memo

15. Sep 2021

Flüchtlingsaufnahme

Warum Resettlement unbeliebt, aber nötig ist
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Die Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan hat nicht nur eine humanitäre und politische Krise im Land selbst ausgelöst, sondern auch eine Diskussion in Deutschland darüber, wie die Bundesregierung mit neuen Flüchtlingsbewegungen umgehen soll. Eine geordnete Flüchtlingsaufnahme über das sogenannte Resettlement hätte viele Vorteile – doch Deutschland und Europa nutzen dieses Instrument bisher zu wenig.

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Deswegen sollte die neue Bundesregierung gemeinsam mit einer Gruppe williger Länder eine Resettlement-Koalition gründen. Dies würde mehr Flüchtlingen einen sicheren, legalen und geordneten Weg zu Schutz bieten, Nachbarländer von Krisenregionen entlasten und Deutschland handlungsfähiger für die Migrationsherausforderungen der Zukunft machen.

Weckruf aus Afghanistan

Die Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan lässt in Deutschland die Sorge steigen, dass große Fluchtbewegungen Richtung Europa bevorstünden. Doch wie viele Menschen tatsächlich fliehen und auf welchen Routen sie dies tun werden, hängt von zwei steuerbaren Faktoren ab: einerseits von den Grenz- und Aufnahmepolitiken, die die Nachbarländer Afghanistans in diesen Tagen festlegen. Denn diese werden bestimmen, ob afghanische Flüchtlinge Perspektiven innerhalb der Region sehen. Andererseits vom politischen Willen Europas, mehr sichere, legale und geordnete Migrationswege für schutzbedürftige Menschen aus dem Land zu schaffen.

Die Bundesregierung sollte deshalb zwei parallele Ansätze verfolgen:  Zum einen sollte sie weiterhin an der Seite weiterer EU-Länder mit Pakistan und dem Iran, den beiden größten Nachbarländern Afghanistans, aushandeln, welche Unterstützung sie brauchen, um ihre Grenzen nicht vor afghanischen Flüchtlingen zu verschließen und ihnen physische Sicherheit nahe ihrer Heimat zu bieten. Die Verhandlungen hierzu laufen bereits und beide Länder haben angekündigt, Betroffene in Aufnahmelagern in Grenznähe unterbringen zu wollen. Hierbei sind sie auf finanzielle und technische Unterstützung angewiesen, beispielsweise durch das UN-Flüchtlingswerk UNHCR, das bereits gemeinsam mit den iranischen Behörden mögliche Orte für Zeltstätten und Aufnahmezentren erkundet.

Zum anderen sollte die Bundesregierung aber auch besonders schutz­bedürftige Afghaninnen und Afghanen direkt über ein Resettlement-Kontingent in Deutschland aufnehmen. Dazu zählen nicht nur afghanische Ortskräfte, die deutsche Truppen unterstützt haben, sondern auch politische Aktivistinnen und andere besonders gefährdete Personen, die im Fadenkreuz der Taliban stehen. Führende Politikerinnen und Politiker betonen zwar die Verantwortung, die Deutschland gegenüber Afghanistan hat. Und tatsächlich hat die Bundeswehr in den vergangenen Wochen mehr als 5.000 Menschen evakuiert. Doch Deutschland hat sich noch immer nicht dazu durchgerungen, eine feste Zahl zur Flüchtlingsaufnahme zu nennen – im Gegensatz zu Kanada, das bereits Mitte August die Aufnahme von 20.000 afghanischen Flüchtlingen ankündigte.

Rahmenbedingungen

Die Krise des Resettlement

Die Aufnahme von Flüchtlingen über Resettlement sollte eigentlich unkontrovers sein – doch dies ist sie nur in der Theorie. Deutschland und die über 150 anderen Staaten, die den UN-Migrationspakt angenommen haben, betonen darin ihr Ziel, dass Migration sicher, legal und geordnet sein sollte. Genau das ist Resettlement: ein langwieriger Prozess, bei dem anerkannte Flüchtlinge in mehreren Schritten ausgewählt und überprüft werden und dann von langer Hand geplant mit gültigen Dokumenten in die Aufnahmeländer einreisen.

 

Die Liste der Vorzüge von Resettlement ist lang. Erstens ist es ein gut steuerbarer Weg, verfolgten Menschen langfristigen Schutz zu geben. Zweitens bietet Resettlement nicht nur den Flüchtlingen Sicherheit, sondern auch den Aufnahmestaaten, die durch den mehrstufigen Prozess intensive Sicherheitsüberprüfungen durchführen können (und dies auch tun), bevor die Flüchtlinge das Land betreten. Drittens entlastet es die Erstaufnahmeländer in der direkten Nachbarschaft von Kriegs- und Krisengebieten und stärkt dadurch die Glaubwürdigkeit Deutschlands und Europas. Das ist bitter nötig, da der 70. Geburtstag der UN-Flüchtlingskonvention in diesem Jahr in Europa eher von Diskussionen um illegale Push-Backs geprägt war als von Feierstimmung. Der vierte (und aus Sicht politischer Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger vielleicht interessanteste) Vorzug von Resettlement ist, dass es attraktiv für ein breites politisches Spektrum ist. Unterstützer können, je nach Wählerschaft, Aspekte wie Sicherheit und Ordnung oder auch Humanität und Moral betonen. 

Metaphorisch gesprochen ist Resettlement der Berggorilla der Migrationspolitik: beeindruckend und schützenswert – und doch vom Aussterben bedroht.  Denn die Zahl der Resettlement-Plätze weltweit ist trotz der vielen Vorzüge gering. In den letzten fünf Jahren konnten weniger als eine Viertelmillion Flüchtlinge auf diesem Weg ein neues Leben beginnen – Tendenz fallend. Der wichtigste Grund dafür ist, dass die USA, lange die führende Säule des internationalen Flüchtlingsschutzes, sich unter der Regierung Donald Trumps aus dieser Führungsposition zurückgezogen hatten. Zusätzlich hat die Corona-Pandemie die Zahlen im letzten Jahr reduziert. Doch auch wenn US-Präsident Joe Biden im kommenden Jahr wieder wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen will, so zeigen doch immer weniger Staaten immer weniger Willen zur Flüchtlingsaufnahme.

Dieser Trend ist umso besorgniserregender, als dass der vom UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR berechnete Bedarf an Resettlement mittlerweile auf 1,5 Millionen Menschen gestiegen ist. Darin sind 100.000 afghanische Flüchtlinge enthalten. Diese Schätzung wird in den kommenden Monaten voraussichtlich weiter steigen, da sie noch vor dem Fall Kabuls an die Taliban entstand.

Herausforderungen

Deutsche Zögerlichkeit

Deutschland trägt zur Resettlement-Krise bei. In den letzten fünf Jahren hat es weniger als 11.000 Flüchtlinge auf diesem Weg aufgenommen. Mit seiner Zögerlichkeit ist Deutschland in Europa jedoch nicht allein. Alle Mitgliedsstaaten der EU zusammen nahmen im selben Zeitraum insgesamt rund 70.000 Personen auf, also pro Jahr etwa 10.000 bis 25.000. Angesichts dieser mageren Zahlen berief die EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johannsson im Juli ein hochrangiges Resettlement Forum ein, um (gemeinsam mit Vertretern der USA, Kanadas und des UNHCR) Wege zu mehr Resettlement auszuloten. Die teilnehmenden Staaten betonten im Nachgang zwar ihren Willen, Resettlement durch „spürbare Beiträge“ aus der Krise zu heben, doch konkrete Zahlen nannten sie nicht.

 

Die Gründe, aus denen Deutschland und andere EU-Mitgliedsstaaten dem Resettlement so zögerlich entgegenstehen, sind vielfältig. Erstens ist europaweit eine Hilfsmüdigkeit zu spüren, die sich nicht nur in geringen Resettlement-Zahlen zeigt, sondern ganz besonders in der zunehmenden Beschneidung von Asylgesetzgebung und der teils aktiven Behinderung der Asylantragstellung.

Zweitens geht die Pull-Faktor-Angst um.  Zwei Lager sind erkennbar: Die eine Seite argumentiert, dass mehr legale Wege in ein Land auch zu mehr irregulärer Migration führen können, denn Familienmitglieder und Freunde in einem anderen Land erleichtern das dortige Ankommen erheblich. Zudem vertritt sie die Ansicht, dass großzügige Aufnahmepolitiken (oder auch nur die Wahrnehmung von Offenheit, unabhängig von der tatsächlichen Praxis) dazu führen, dass sich mehr Menschen auf den Weg nach Deutschland machen. Die andere Seite argumentiert hingegen, dass mehr legale Wege in ein Land zu weniger irregulärer Migration führen können, weil Menschen, die legale Möglichkeiten zur Migration haben, diese eher nutzen als Schmuggler zu bezahlen und ihr Leben auf Schlauchbooten aufs Spiel zu setzen. Außerdem kritisiert dieses Lager das Argument, dass Offenheit zwangsweise ein Pull-Faktor sei, als Totschlagargument, demzufolge es kaum noch legale Migration geben dürfe – egal ob von Arbeitskräften oder Schutzsuchenden. Das wäre für ein alterndes Land mit Fachkräftebedarf wie Deutschland jedoch fatal und auch rein juristisch nicht mit deutschen und europäischen Asylgesetzen vereinbar. 

Diese Pull-Faktor-Diskussion wird dadurch noch schwerer, dass sie oft von Überzeugungen und politischer Neigung geprägt ist, aber belastbare Daten rar sind. Solide wissenschaftliche Studien zeichnen sich durch Zwischentöne aus: Eine neue Studie urteilt nach intensiver Datenanalyse beispielsweise, dass die hohen Ankünfte in den Jahren 2015 und 2016 eher das Ergebnis eines steten Aufwärtstrends seit 2010 gewesen seien, ausgelöst durch schlechte Bedingungen in den Erstaufnahmeländern um Syrien herum, als eine Folge von Angela Merkels Politik oder Rhetorik.  Sie weist jedoch auch darauf hin, dass die Willkommenspolitik Merkels im Sommer 2015 einen kurzfristigen Effekt auf die Einwanderungsabsichten von Migrantinnen und Migranten nach Deutschland gehabt haben könnte.

Drittens ist der große Vorteil von Resettlement – seine Steuerbarkeit – gleichzeitig auch seine Achillesferse. Denn Resettlement-Zahlen kann die Regierung umfassend kontrollieren, Asylanträge hingegen nicht. Wenn also die Sorge vor steigenden Asyl­anträgen grassiert, sinkt auch der Wille, großzügige Resettlement-­Kontingente festzulegen.

Viertens und letztens hat Deutschland keine Resettlement-Tradition. Im Vergleich zu den USA und Kanada, die bereits seit Jahrzehnten jedes Jahr mehrere Zehntausende Flüchtlinge über Resettlement aufnehmen und wo das Konzept weithin bekannt ist, ist Deutschland in dieser Hinsicht ein Anfänger. Erst 2012 setzte die Bundesrepublik ihr erstes Pilotprogramm auf, die ersten Jahre lang mit wenigen hundert Menschen pro Jahr. Deshalb ist großen Teilen der Bevölkerung dieses Instrument noch immer unbekannt. Auch die unglückliche deutsche Übersetzung „Neuansiedlung“ hilft der Popularität dieses Migrationsinstruments nicht weiter.

All diese Gründe erklären zwar Deutschlands bisher geringes Resettlement-Engagement. Sie rechtfertigen es aber nicht. Denn selbst wenn Resettlement und andere legale Wege als wichtiger Pull-Faktor fungieren sollten (was, wie erwähnt, bisher wissenschaftlich nicht nachgewiesen wurde), brauchen wir trotzdem legale und sichere Wege für Schutzsuchende nach Europa, um Solidarität und Aufnahmebereitschaft von Nachbarländern überhaupt glaubwürdig fordern zu können. Außerdem würden diese legalen Wege die derzeitige Politik, die eher einseitig auf Abschottung und Reduktion von Migration zielt, wieder etwas ausgewogener machen.

Empfehlungen

Das Potenzial der Resettlement-Koalition

Die neue Bundesregierung sollte deshalb gemeinsam mit einer Gruppe williger Länder innerhalb und außerhalb Europas eine Resettlement-Koalition gründen. Konkret sollten alle Mitglieder sich verpflichten, jedes Jahr 0,05 Prozent ihrer Bevölkerung auf diesem Wege aufzunehmen. Einige Länder wie Schweden, Norwegen und Kanada erfüllen dieses Ziel bereits und zeigen alljährlich, dass es realistisch ist. Für Deutschland würde es konkret bedeuten, 40.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen. Zusätzlich zu den Asylantragszahlen, die in den beiden letzten Jahren zwischen rund 120.000 und 165.000 lagen, wäre die Gesamtzahl der aufgenommenen Schutzsuchenden noch immer unterhalb der vor einigen Jahren heiß diskutierten „Obergrenze“ von 180.000 bis 220.000, die selbst konservativen deutschen Parteien als angemessen erschien. Mögliche Partner der Koalition könnten neben den genannten Ländern auch die USA, Frankreich, Portugal und Finnland sein.

Gemeinsam könnte eine solche Koalition mehr als eine Viertelmillion Flüchtlinge pro Jahr aufnehmen, was eine substanzielle statt der bisher nominellen Entlastung für Krisenregionen darstellen würde. Ein positiver Nebeneffekt wäre zudem, dass dieser Zusammenschluss als ein neues transatlantisches Projekt fungieren könnte. Es könnte zeigen, dass westliche Demokratien im internationalen Flüchtlingsschutz nicht mehr primär reaktiv, sondern aktiv vorgehen und handlungsfähiger werden wollen. Auch könnten die Länder der Koalition Ressourcen sparen, indem sie bei der praktischen Umsetzung des Resettlement stärker als bisher zusammenarbeiten, beispielsweise durch gemeinsame Identifikation und gemeinsames Screening der Kandidaten, geteilte Infrastruktur in den Erstaufnahmeländern sowie die Koordination von Vorbereitungskursen oder des Transports in die Aufnahmeländer.

Die Mitglieder des neuen Bundestags und die Teilnehmenden der anstehenden Koalitionsverhandlungen sollten deshalb dringend die Ausweitung von Resettlement vorantreiben. Denn Deutschland könnte dadurch nicht nur die aktuelle Krise in Afghanistan besser bewältigen, sondern auch die Migrationsherausforderungen der Zukunft.

Bibliografische Angaben

Rietig, Victoria. “Flüchtlingsaufnahme.” German Council on Foreign Relations. September 2021.

DGAP Memo Nr. 6, September 2021, 4 S.



In dieser Memo-Reihe bietet die DGAP fundierte Analysen zu Bereichen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die die nächste Legislaturperiode prägen werden.

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