Memo

10. Apr. 2024

Eine Industriepolitik für die Rüstung

Was Deutschland tun muss, um die Versorgung seiner Streitkräfte zu sichern
Pistorius Rheinmetall
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Zwischen Deutschlands militärischen Zielen und seiner industriellen Kapazität klafft eine enorme Lücke. Abhilfe schaffen soll die Rüstungsindustriepolitik, also die gezielte Entwicklung der industriellen Landschaft entlang nationaler Ziele. Dafür müssten aber a) diese Ziele benannt und gegenüber anderen priorisiert werden, b) die Instrumente der Industrie-, Kooperations-, und Exportpolitik miteinander verzahnt und zentral gesteuert werden, und c) ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen.

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Durch den russischen Angriff auf die Ukraine und die Gefahr weiterer russischer Aggressionen hat sich das Sicherheitsumfeld Deutschlands grundlegend verändert. Zugleich weckt die Möglichkeit eines Wahlsiegs von Donald Trump bei der US-Präsidentschaftswahl im November Zweifel an der Beständigkeit der US-Sicherheitsgarantien. Diese Situation erfordert ein Umdenken, das auch eine rüstungsindustrielle Dimension hat.

Der Paradigmenwechsel im Rüstungssektor betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch die europäische und globale Ebene: Die Dynamik von industriellem Angebot und militärischer Nachfrage hat sich schnell und wahrscheinlich nachhaltig verändert. Betrachtet man das klassische Produktionsdreieck Zeit-Qualität-Kosten, verschiebt sich der Schwerpunkt von Qualität und Kosten hin zum Faktor Zeit. Im Gegensatz zur Entwicklung in den Jahrzenten nach Ende des Kalten Kriegs ist in der Rüstungsindustrie nun rasches Wachstum erforderlich. 

Für die anstehende Transformation gilt eine Frist, die auch der Einschätzung von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius entspricht: Um gegen mögliche weitere Aggressionen Russlands gewappnet zu sein, muss Deutschland bis spätestens 2030 seinen Beitrag in der NATO leisten können.

Was ist Versorgungssicherheit?

Die wichtigste Aufgabe von Rüstungspolitik ist die Versorgung der Streitkräfte in Friedens- und Kriegszeiten. Versorgungssicherheit bedeutet, den langfristigen, ausreichenden und konstanten Fluss von Material und Dienstleistungen vom Rüstungssektor zu den Streitkräften zu gewährleisten. In Deutschland, wie in dem meisten anderen Ländern, wird dies nicht nur durch den Zugang zur nationalen, sondern auch zur internationalen Rüstungsindustrie erreicht.

Deutschlands fragile Rüstungsindustrie

Unter diesem Zeitdruck durchleben Staat und Industrie in Deutschland erhebliche Wachstumsschmerzen, die umso stärker ausfallen, je größer die aufzuholenden Defizite sind und je stärker sie auf eine Teilbranche konzentriert sind. Erschwert wird die industrielle Anpassung an die disruptiven Veränderungen durch staatliche Regelungen, die in friedlicheren Zeiten erlassen wurden, aber immer noch gelten: Einerseits ist der Staat gehalten, die Preise für Rüstungsgüter und -dienstleistungen am Markt ständig neu auszuhandeln, was die dauerhafte Sicherung der Versorgung behindert. Andererseits sind Rüstungsgüter politisch so sensibel, dass der Staat festgelegt hat, dass Waffen nicht einfach auf Halde produziert werden dürfen. Beide Regulierungen schränken die Möglichkeiten der Industrie ein, in Vorleistung zu gehen. Nach geltendem Recht schaffen nur Vertragsschlüsse die ökonomische und juristische Grundlage für eine Produktion, einschließlich der Vorinvestitionen.

Hinzu kommt, dass sich der Staat aufgrund der ihm fehlenden Ressourcen als unzuverlässiger Partner für die Industrie erweist. Im laufenden Haushaltsjahr ist der Verteidigungsetat bereits überzeichnet; 2024 verbieten sich deshalb neue Verträge mit der Industrie. Diese Entschleunigung der Zeitenwende nimmt die Industrie in ihrer Planung teilweise vorweg. Die Folge: Arbeitskräfte und andere Produktionsmittel stehen weiterhin nicht im möglichen Ausmaß zur Verfügung, von den Unternehmen nicht genutzte Lieferketten brechen wieder zusammen, Preisangebote verfallen, und Produktionsanlagen werden stillgelegt oder für andere Kunden genutzt. So nimmt die Fragilität der industriellen Basis in Deutschland zu.

Neuverteilung des Weltmarkts

In Europa wird Deutschland zunehmend zur Ausnahme: Staatliche Investitionen in wachsende Produktionskapazitäten finden zum Beispiel in Finnland und Norwegen statt, der Wiederaufbau von Industrien vor allem in zentral- und osteuropäischen Staaten (z.B. BulgarienRumänien). Diese Erfolge betreffen den nationalen Rahmen – der Europäischen Union gelingt es bisher nicht, die Chancen des Umbruchs zu nutzen und einen gemeinsamem Rüstungsmarkt zu schaffen. Ihr Angebot – gemeinsame Regeln und Zuschüsse sowie das Versprechen von mehr ökonomischer Effizienz – haben die Mitgliedstaaten seit 20 Jahren nicht zu mehr Kooperation veranlasst. Jetzt, wo industrielle Konsolidierung von Wachstum als Ziel abgelöst wird, erweisen sich Rüstungsprojekte mit europäischen Partnern als zu schwerfällig. Stattdessen spielen Importe aus Nicht-EU-Staaten eine zunehmende Rolle. 

Tatsächlich verschärft sich gerade der internationale Wettbewerb, mit dem die deutsche Rüstungsindustrie Schritt halten muss. Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine und wachsenden Unsicherheiten in vielen Regionen der Welt ist der globale Rüstungsmarkt durch rasches Wachstum und aufstrebende Exporteure gekennzeichnet, aber auch durch verschärfte Lieferkettenprobleme und Kapazitätsgrenzen. In dieser dynamischen Phase werden die Weichen für die nächsten Jahrzehnte gestellt. Es gibt einen Wettlauf unter den Akteuren, der zu einer Neugestaltung der Märkte führen wird. Wer jetzt nicht dabei ist, droht leer auszugehen, wenn die Optionen genutzt und die Märkte verteilt sind.

Industriepolitische Steuerung als neue Zauberformel 

Ein stärkerer deutscher Rüstungssektor kann nicht mit den alten Instrumenten und Zielen herbeigeführt werden. So hat zum Beispiel das Ziel der  Konsolidierung der Produktionskapazitäten aus heutiger Sicht zur erhöhten Fragilität von Lieferketten, der Konzentration von Know-how und der Reduzierung von Kapazitäten und damit zur momentanen Problemlage beigetragen.

Das neue Schlagwort in der politischen Debatte über die Rüstungsindustrie lautet industriepolitische Steuerung. Grundsätzlich verfügt der Staat über drei Instrumente dafür, die auf die vier wesentlichen Produktionsfaktoren der Industrie – Finanzen, Personal, Regulierung/Organisation und Lieferkettenmanagement – abzielen:

  • Er kann Aufträge vergeben und Finanzierungshilfen anbieten (zum Beispiel durch Bürgschaften) um den Unternehmen betriebswirtschaftliche Planungssicherheit zu geben und die Entwicklung von Technologien zu fördern. Über Konditionen in den Verträgen kann er strukturpolitischen Einfluss nehmen. 
  • Regulierungen und Gesetze sind das zweite Instrument, mit dem ein Staat seine Industrie effektiv lenken kann. Gerade der Rüstungssektor ist stark reguliert. 
  • Der Staat kann schließlich auch über Eigentum oder Teilhabe Einfluss auf Unternehmen nehmen. 

Eine erfolgreiche Steuerung setzt zusätzlich voraus, dass der Staat die sehr heterogene Rüstungsindustrie genau kennt und realistische Ziele für ihre Entwicklung vorgibt. Er sollte mit Augenmaß definieren, was die Industrie mit welchem Mix von nationaler und internationaler Basis leisten sollten. Schließlich muss er die beschriebenen Ziele in ein Verhältnis zu den verfügbaren Ressourcen zu setzen.

Eine sicherheitspolitische Dekade 

Rüstung ist nur ein Teil der insgesamt verbesserungswürdigen deutschen Sicherheitspolitik. Die erforderliche Anstrengung geht über die bis 2030 angestrebte Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der NATO hinaus. Den neuen Rahmen könnte die Bundesregierung setzen, indem sie gemeinsam mit Landesregierungen und den Parlamenten eine sicherheitspolitische Dekade ausruft: einen auf zehn Jahre angelegten Gesellschaftsvertrag, um Deutschland auf zukünftige Konflikte vorzubereiten. Damit würde Deutschland den strategischen und zeitlichen Bezugspunkt seines Handelns neu definieren. Der Blickwinkel, aus dem Ministerien, Parlamente, Rechnungshof und Experten Aufgaben und Ausgaben des Staates betrachten und bewerten, würde über die Legislaturperiode hinaus erweitert.

Das nächste Jahrzehnt würde damit den Zeitrahmen bestimmen, in dem eine Reihe von grundlegenden Veränderungen wirksam werden müssten, um Deutschlands Sicherheit zu gewährleisten und die deutsche Rüstungsindustrie zu ertüchtigen:

Ausreichende Ressourcen: Dass Deutschland ein existenzielles Sicherheitsdefizit hat, ist mittlerweile unbestritten. Mit dem derzeitigen Modell öffentlicher Einnahmen ist es nicht überwindbar. Die Probleme im Verteidigungshaushalt stehen als Sinnbild für strukturelle Unterfinanzierung und Staatsversagen. Deutschland braucht ein Investitionsprogramm in die eigene Sicherheit. Dies muss nicht zum Nachteil des öffentlichen Wohlstandes sein. Zum Beispiel würde eine beschleunigte, aber sichere Digitalisierung die industrielle und technologische Leistungsfähigkeit und damit den nachhaltigen Wohlstand fördern.

Ein neuer Rechtsrahmen: Der Staat und die Rüstungsindustrie benötigen einen Rechtsrahmen, der im Graubereich zwischen Krieg und Frieden Rechtssicherheit schafft und den Zugang zu Ressourcen erleichtert. Die Rüstungsproduktion in Deutschland und anderen Ländern sollte in angemessener Form, skalierbar und zeitlich begrenzt erleichtert werden. Ebenso sollten Regulierungen auf EU-Ebene (REACH, ESG) entweder mit grundsätzlichen Ausnahmen oder längeren Anwendungsfristen versehen werden. Vorbilder finden sich im Defense Production Act der USA oder in Finnlands strategischen Partnerschaften mit der Industrie. Würde Deutschland ähnlich vorgehen, hätte dies eine starke Signalwirkung auch in Richtung Moskau.

Integrierte Steuerung: Der Staat muss die Instrumente der Industrie-, Kooperations-, und Exportpolitik miteinander verzahnen und zentral steuern, um ihre Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Dazu gibt es zwei Wege: die Ernennung eines Rüstungskoordinators oder die Bündelung der Kompetenzen in einem Ministerium. Ein Rüstungskoordinator müsste mit Exekutivrechten ausgestattet werden, um alle Instrumente einer sicherheitspolitisch begründeten Rüstungspolitik über die Ministerien hinweg steuern und die erforderlichen Ressourcen einsetzen zu können. Die Kontrolle durch das Parlament muss sichergestellt sein.

Quantität vor Qualität: Der enorme Zeitdruck erfordert ein Umsteuern bei der Beschaffung. Bei der Ausstattung der Bundeswehr sollte der Staat auf erprobte Systeme setzen, die schnell in hoher Stückzahl zu produzieren sind. Die technologische Qualität bereits vorhandener Waffensysteme dürfte in der Regel ausreichen, um gegen ein Land wie Russland bestehen zu können. Dennoch können – und müssen – sie inkrementell weiterentwickelt werden. So schafft man gleichzeitig einen alternativen Innovationspfad zu den risikobehafteten Großprojekten und gewinnt Zeit, auch diese weiterzuführen. 

Die EU sinnvoll einbinden: Die EU kann derzeit nur eine begrenzte Rolle in der Neugestaltung des Rüstungssektors spielen. Kurzfristig gilt, dass gezielte Investitionen in kritische Lieferketten wie mithilfe der Verordnung zur Produktion von Munition und Raketen (ASAP) den momentan geringen Ressourcen der Kommission gerecht werden und bei akutem Bedarf helfen. Die Übernahme der NATO-Planungsprioritäten erleichtert die Harmonisierung der Anforderungen. Die EU kann auch als Besitzer und Verleiher von Ausrüstung auftreten oder Fahrzeuge mit einem europäischen Mindeststandard und einem Festpreis entwickeln.

Auf dem Weltmarkt agieren: Wenn Deutschland seine Rüstungsindustrie durch die vorgeschlagenen Reformen ertüchtigt, erschließt es sich auch global neue Chancen. Es gilt, die Zeit zu nutzen, solange der weltweite Rüstungsmarkt sich so massiv in Bewegung befindet. Eine stärkere Position auf dem Weltmarkt könnte es Deutschland ermöglichen, beispielsweise folgende Ziele zu verfolgen: Rivalen den Marktzugang zu verweigern, weitere Staaten in das deutsche und westliche Industriesystem einzubinden oder der deutschen Industrie durch Verkäufe von Rüstungsgütern zusätzliche Finanzierungsmöglichkeiten für den angestrebten Kapazitätsausbau zu verschaffen.

Bibliografische Angaben

Mölling, Christian, and Torben Schütz. “Eine Industriepolitik für die Rüstung.” DGAP Memo 5 (2024). German Council on Foreign Relations. April 2024.
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