„Die Alarmlichter leuchten rot auf“, warnte Botschafter Wolfgang Ischinger schon in seiner Eröffnungsrede: Das Risiko zwischenstaatlicher Konflikte ist heute so groß wie seit 1989 nicht mehr. Die angespannte internationale Sicherheitslage bestimmte die diesjährige Münchener Sicherheitskonferenz (MSC). Der Bedrohung gegenüber steht zugleich – das machte die Konferenz ebenfalls deutlich – ein Westen und ein Europa, das über keine wirklichen politischen Strategien verfügt, um neue Lösungen und Wege zu mehr Stabilität zu finden.
Sicherheitspolitische Risiken wurden im Laufe der Konferenz schonungslos ausbuchstabiert: die Lage im Nahen und Mittleren Osten, Nordkorea, das Risiko von Cyber-Angriffen, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, der Machtzuwachs von illiberalen Supermächten. Je deutlicher sich das Bild der Gefahrenlage über die drei Tage herauskristallisierte, desto besorgniserregender erschien der Mangel an konkreten Strategien und konzertierten Handlungsansätzen, um die Risiken zu minimieren. Der Westen, der sich mittlerweile selbst in einem bedrohlichen Systemgegensatz mit illiberalen Staaten wähnt, wirkte gelähmt ob der komplexen Herausforderungen und der tiefen Risse im eigenen Lager durch Wertkonflikte und Interessensgegensätze.
EU-Regierungen kooperationsbereit
Besondere Aufmerksamkeit galt an den ersten beiden Tagen dem Zustand von Europäischer Union und NATO – mit „PESCO“ als Zentralbegriff, der Ende des vergangenen Jahres lancierten ‚Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit‘. Die EU-Verteidigungsinitiative, mit der auch der EU-Verteidigungsfonds verbunden ist, wurde seit 2016 durch drei Entwicklungen befördert: Erstens, ist das Vertrauen in die USA nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gesunken; zweitens nehmen die Bestrebungen zu, auf den Brexit mit einer Stärkung der EU zu reagieren, und drittens, steigt das Ansinnen, die steigenden Verteidigungsausgaben der EU-Staaten im Zuge ihrer Annäherung an das Zwei-Prozent-Ziel der NATO stärker zu koordinieren.
Die Kritik, die in den vergangenen Wochen an der PESCO laut geworden waren, schien auch in München in offiziellen Statements und Flurgesprächen durch – für die Europäer eine schlechte Überraschung, denn bislang wurde angenommen, die Stärkung der europäischen Verteidigungskapazitäten sei im Interesse der USA. So mahnte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, die stärkere Verteidigungszusammenarbeit der Europäer sei „keine Alternative zur NATO“ und betonte, Nicht-EU-Mitglieder dürften nicht diskriminiert werden. Schließlich würden nach dem Brexit 80 Prozent der NATO-Verteidigungsausgaben von diesen Ländern bezahlt.
Einige Teilnehmer sahen in den warnenden Worten Stoltenbergs die Handschrift Washingtons, denn dort wird befürchtet, dass sie den Marktzugang zur EU verlieren und von Entwicklungen abgeschnitten werden. Vertreter kleinerer EU-Mitgliedstaaten wiesen in München am Rande der offiziellen Debatten auf das Risiko hin, dass sie selbst genau deswegen zu den Verlierern gehören könnten. Bislang jedoch steht die PESCO trotz aller Kritik als Projekt mit gezielter Einbindung in die NATO-Planung da. Gleichzeitig muss sie die in sie gesetzten Hoffnungen in den kommenden Monaten und Jahren erst noch unter Beweis stellen.
Deutsch-französische Aufbruchsstimmung
Ergänzende Ideen kamen aus Berlin und Paris während des gemeinsamen Auftritts der geschäftsführenden Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen und ihrer französischen Amtskollegin Florence Parly. Von der Leyen unterstrich eine außenpolitische Botschaft des soeben vereinbarten Koalitionsvertrags: „Wir wollen transatlantisch bleiben, aber europäischer werden.“ Sie forderte eine „PESCO auch für die europäische Außenpolitik“ – also die Möglichkeit, in kleineren Gruppen mit Mehrheitsentscheidungen voranzugehen. Parly unterstrich die neue Qualität der deutsch-französischen Verteidigungszusammenarbeit seit dem deutsch-französischen Gipfel im Juli 2017, sowohl „operativ“ wie z.B. beim Stabilisierungseinsatz in Mali als auch bei Rüstungs- und Beschaffungsprojekten. Allerdings wurde hinter der auf der Bühne demonstrierten deutsch-französischen Dynamik auch deutlich, dass Auffassungsunterschiede fortbestehen. Parly hob dezidiert die ‚European Intervention Initiative‘ hervor, die in Berlin als Gegenprojekt zur PESCO gesehen wird: Deutschland will Fähigkeiten in der EU aufbauen, während Frankreich Kräfte für Operationen anstrebt, wobei der PESCO-Rahmen eine weniger wichtige Rolle spielt.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker unterstrich am Folgetag den „Emanzipationswillen“ der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik, der sich aber nicht gegen die NATO oder die USA richte. Auch er machte sich für Mehrheitsentscheidungen in diesen Bereichen stark. Allerdings zeigten die Auftritte des neuen polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki und des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz deutlich, dass sich die Aufbruchstimmung keineswegs auf die gesamte EU erstreckt.
Post-Brexit Kooperation bleibt unklar
Eine lang erhoffte Konkretisierung zum Brexit brachte die Rede der britischen Premierministerin Theresa May, die in München ein Sicherheitsbündnis zwischen EU und UK für die Zeit nach dem britischen Austritt vorschlug. In dessen Rahmen soll die bisherige Zusammenarbeit im Bereich der Inneren Sicherheit fortgesetzt werden, so May. Sie machte dabei eine wichtige Konzession: Bei der Kooperation mit EU-Behörden werde London die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes „respektieren“. Trotz dieses Statements fehlte Mays Rede ein klarer Tenor: Zwar erklärte sie, Großbritannien sei der Verteidigung Europas „bedingungslos“ verpflichtet; ihre Warnung, eine Nichteinigung würde „beiden Seiten schaden“, belebte jedoch auch Befürchtungen neu, dass London seine ‚Sicherheits-Assets‘ als Verhandlungsmasse einsetzen könnte. Insgesamt waren die Reaktionen auf Mays Rede in München sehr gemischt.
Die USA: Kontinuität gegen Trump
Die Mission der US-Teilnehmer an der Münchner Sicherheitskonferenz 2018 war eindeutig: Die NATO-Bündnispartner sollten davon überzeugt werden, dass die transatlantischen Beziehungen belastbar, die Bündnisgarantien glaubwürdig und Kontinuität in der US-Außenpolitik gewährleistet sei. Von deutscher Seite wurden die eher milden Töne gern aufgenommen, hatte doch der amtierende Bundesaußenminister in seiner Rede gewarnt, Deutschland müsse dazu beizutragen, Europa zu stärken und handlungsfähiger zu machen und zugleich die Zusammenarbeit mit den USA verbessern. Allein könne Europa die Welt nicht prägen und die liberale Weltordnung nicht verteidigen, von der es bislang profitiert habe, so Sigmar Gabriel.
Der Sicherheitsberater von US-Präsident Donald Trump, General H.R. McMaster, hielt eine in weiten Teilen ‚klassisch‘ pro-transatlantische Rede: Er betonte die gemeinsamen Werte der USA mit Europa und bezeichnete als drei wesentliche Anliegen der US-Außenpolitik die Verhinderung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, den Kampf gegen den Terrorismus und die Stärkung internationaler Organisationen; letzteres wirkte durchaus ambivalent angesichts der vielfach massiven Kritik Trumps an eben diesen Organisationen. Anders als im Vorjahr Vize-Präsident Mike Pence oder Verteidigungsminister Mattis, die beide nach ihren Statements vom Podium verschwanden, war McMaster in München zum Dialog bereit. Dabei setzte er sich auch mit der Erklärung, das russische Eingreifen in den US-Präsidentschaftswahlkampf sei nunmehr eine „unwiderlegbare Tatsache“, von seinem Präsidenten ab. Dieser reagierte noch am Wochenende erzürnt per Twitter auf McMasters Aussage.
Nach seinem im Mai 2017 gemeinsam mit Trumps Wirtschaftsberater Gary Cohn publizierten Meinungsbeitrag für das Wall Street Journal gefragt und der darin skizzierten Hobbes’schen Welt eines (Wirtschafts-)Kampfs aller gegen aller, erklärte McMaster in München, die These beziehe sich lediglich auf den Wettbewerb zwischen freien und unfreien Staaten. Keinesfalls sei damit das Verhältnis von Verbündeten gemeint – eine taktisch erscheinende Neuinterpretation seines Op-eds, die zudem im Widerspruch zu zahlreichen Aussagen Trumps aus dem Jahr 2017 steht.
Das alljährliche Panel mit vier Kongressabgeordneten bemühte sich, parteiübergreifend glaubhaft zu machen, dass die Kontinuität in der US-Außenpolitik hoch sei. Weiche das Weiße Haus in wichtigen Bereichen von der bisherigen Linie ab, würde der Kongress eingreifen, wie beispielsweise bei den Russlandsanktionen oder auch der Finanzierung für das Außenministerium geschehen.
Eskalationsrhetorik statt Dialog
Das so auf die Vermittlung von Kontinuität fokussierte Panel zeigte auch, was sich zum Zeitpunkt der MSC 2018 geändert hat: Aus Sicht Washingtons ist Nordkorea mittlerweile zum größten Risiko avanciert. Noch im vergangenen Jahr führte der Terrorismus die Liste der größten Gefahren an. Dass Trumps Eskalationsrhetorik auch bei Außenpolitikern im Kongress Einzug hält, zeigten Äußerungen von Senator Jim Risch (R, Idaho), der davor warnte, ein militärisches Vorgehen gegen Pjöngjang würde „massiv“ ausfallen und Verluste und Zerstörungen „biblischen Ausmaßes“ mit sich bringen. Auch bei dem Panel zur nuklearen Rüstungskontrolle warfen sich der amerikanische Vize-Außenminister John Sullivan und der russische Vertreter Sergei Kislyak, vormals Botschafter in Washington, gegenseitig vor, eine aggressive Atomwaffenpolitik zu betreiben. Sie leisteten sich einen verbalen Schlagabtausch, der selbst in Kalten-Kriegs-Zeiten selten zu hören war.
Insgesamt war auf US-Seite wenig von nationaler Nutzenmaximierung und transaktionären Deals zu hören. Im Gegenteil: Die anwesenden Amerikaner bemühten sich, den Platz Washingtons im westlichen Bündnis und der westlichen Wertegemeinschaft wieder mit größerer Glaubwürdigkeit einzunehmen. Sie waren damit nur bedingt erfolgreich. Von der rhetorischen Eskalation abgesehen, gilt unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Ende das Wort Trumps als Referenz.
Auf dem Weg zum Systemgegensatz
Im Jahr 2017 stand die Diskussion um den Verfall des Westens und das Paradigma der, etwa von Russen und Iranern beschworenen, post-westlichen Welt im Zentrum der Diskussion. Bei der MSC 2018 hingegen wurden die Debatten über die internationale Sicherheitslage vor dem Hintergrund eines offen anerkannten Systemkonflikts zwischen westlich-liberalen Demokratien und autoritären, teils protektionistischen Regimen geführt. So sagte etwa Bundesaußenminister Sigmar Gabriel: „In der neuen und gegenüber dem Kalten Krieg heute weitaus komplexeren Welt geht es um die Systemkonkurrenz zwischen entwickelten Demokratien und Autokratien.”
Die anwesenden Amerikaner bemühten sich um eine klare Verortung in diesem Systemgegensatz – an der Seite Europas. Besonders deutlich waren in diesem Zusammenhang die Angriffe des früheren demokratischen Vize-Präsidenten Joe Biden auf Russland: „Putin tut alles, um das transatlantische Bündnis und die internationale liberale Ordnung zu zerstören“. Es sei für die Russen leichter, den Westen anzugreifen, als sich um die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Brüche ihres eigenen Systems zu kümmern.
Russland sieht sich weiter in der Opferrolle
Tatsächlich zeigte der Auftritt des russischen Außenminister Sergei Lawrow, dass sich der Kreml erklärtermaßen weiter vor allem als Opfer westlicher Expansionspolitik versteht und von gemeinsamen Auffassungen auch nur der politischen Lage weit entfernt ist. In einer selbst für Lawrows Verhältnisse düsteren Rede vermengte er NS-Revisionismus mit den Entwicklungen nach 1989 und tat die Anklageerhebung gegen 13 russische Staatsbürger durch den US-Sonderermittler Robert Mueller wegen russischer Einmischung in den US-Wahlkampf als „Geschwätz“ ab. Auch auf den Syrien-Konflikt und die Bedingungen für eine regionale Sicherheitsarchitektur angesprochen, zeigte er wenig Bereitschaft, wieder zu einem konstruktiveren Umgang mit dem Westen zu kommen.
Der ‚Elefant im Raum‘: China
Mehr Reflexion verdient in diesem Zusammenhang die Rolle Chinas. Explizit kam im Plenum nur Bundesaußenminister Gabriel darauf zu sprechen. Er interpretierte die Belt-and-Road-Initiative als Versuch, „ein umfassendes System zur Prägung der Welt im chinesischen Interesse zu etablieren“. China sei eine Gegenkraft im Systemkonflikt, die als einzige derzeit eine durchdachte Globalstrategie verfolge. Die EU müsse inneren Zusammenhalt herstellen und die Mitgliedstaaten ein gemeinsames Verständnis ihrer Interessen in den Außenbeziehungen der EU entwickeln. Sie müssten Strategien und Instrumente entwickeln, um diese Interessen gemeinsam durchzusetzen.
Ansonsten fand China am Rande der zentralen Debatte statt, doch auch hier zeichnete sich ein Umdenken ab: Der Glaube an die Transformation Chinas – sowohl hinsichtlich einer schrittweisen Demokratisierung als auch in Bezug auf den ökonomischen Wandel hin zu einer Marktwirtschaft – scheint derzeit, etwa auch bei Unternehmensvertretern, kaum noch vorhanden zu sein. Die Belt-and-Road-Initiative wird als bedrohlich wahrgenommen, nicht nur, weil China strategisch investiert, sich Zugänge sichert, westliche Normen unterminiert und seine Machtposition ausbaut, sondern auch, weil es ein Spaltpotenzial in der innereuropäischen Einigung entwickelt hat.
Der Umgang mit China, Zentralasien und der östlichen Nachbarschaft der EU sind Themen, in denen die EU derzeit keine überzeugende Strategie hat. Gleichzeitig muss sie aber mit dem Rückzug der USA als Ordnungsmacht in diesen Regionen umgehen.
Diese neue, überragende Bedeutung des Umgangs mit China bildete sich in der Konferenz kaum ab. Investitionen in den Dialog mit China sind dringend nötig. Zwar nahm mit Fu Ying, der Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Nationalen Volkskongress, eine erfahrene Diplomatin und Vertreterin der chinesischen Nomenklatura an der MSC-Diskussion zur Nuklearwaffenkontrolle teil. Ansonsten aber blieb die von China, Indien und einem aufsteigenden Asiens insgesamt ausgehende Herausforderung für die Welt weitgehend außen vor.
Wirklich programmatische Reden gab es in München wenige, neben der des Bundesaußenminister am ehesten noch die des Emirs von Katar, Sheik Tamim Al-Thani, und des iranischen Außenministers Mohammad Javad Zarif. Letzterer schlug eine „inklusive“, Schritt für Schritt aufzubauende Sicherheitsarchitektur für die Golf-Region vor, wies aber zugleich jede Verantwortung Teherans für die derzeit stark angespannte Lage zurück und wich bewusst einer Frage nach dem Existenzrecht Israels aus. Bezeichnend für die politische Großwetterlage war auch, dass es – wenn konkrete Vorschläge gemacht wurden – kaum Reaktionen darauf gab.
Die EU: Mehr Strategie, mehr Leistung, bitte!
Die Zusammenarbeit innerhalb der EU hinterlässt ein gemischtes Bild: Fortschritte gibt es bei der Schaffung von Strukturen und Prozessen im Verteidigungsbereich, trotz anfänglicher Skepsis sind auch die Mittel- und Osteuropäer recht fest an Bord. An Strategien im Umgang mit den größten Risikofaktoren mangelt es den Europäern und den transatlantischen Partnern indes sichtlich – sei es die mögliche Eskalation der Lage im Nahen Osten, das Vorgehen Nordkoreas oder auch ein zerstörerischer Cyberangriff.
Der erhoffte „Schritt zurück vom Abgrund“ gelang auf der Münchner Sicherheitskonferenz also insgesamt nicht. Vielmehr schienen manche Debatten geeignet, bestehende Konflikte mit unversöhnlichen Äußerungen eher noch zu befeuern, wie sich am Abschlusstag bei den Debatten über die Lage im Nahen und Mittleren Osten zeigte. Insbesondere Israels Premierminister Benjamin Netanjahu nutzte seine Rede medienwirksam vor allem für eine deutliche Warnung an die Adresse Teherans: Im Verlauf seiner Ansprache hielt er ein Wrackteil einer kürzlich über israelischem Territorium abgeschossenen iranischen Drohne hoch.
Eine Beruhigung der internationalen Lage ist nicht zu erwarten. Für die deutsche und europäische Außenpolitik ergeben sich daraus große Aufgaben, auf die sie derzeit nur unzureichend vorbereitet ist. Sie muss dringend, wie von Außenminister Gabriel gefordert, strategie- und leistungsfähiger wie auch aktiver und ideenreicher werden, um in dem neuen Systemgegensatz zu bestehen und zur Konfliktreduzierung beizutragen. Viel Zeit bleibt dazu nicht mehr.