Zwar beteuern sowohl die EU als auch die Ukraine nach wie vor, ein Abkommen unterzeichnen zu wollen. Auf dem Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft am 28./29. November 2013 in Vilnius wird es aber wohl nicht mehr dazu kommen. Kiew hat nun angeregt, gemeinsam mit Russland eine Dreierkommission einzurichten, die sich mit den Handelsbeziehungen zwischen der EU, der Ukraine und der von Russland angeführten Zollunion befassen soll.
Die Gespräche über ein umfassendes Assoziierungs- und Freihandelsabkommen hatten bereits 2007 begonnen. Nach dem 12. EU-Ukraine Gipfel im September 2008 verkündete der damalige französische Präsident und EU-Ratsvorsitzende Nikolas Sarkozy das Ziel, eine Assoziierung der Ukraine anzustreben. Er nahm den militärischen Schlagabtausch zwischen Russland und Georgien zum Anlass, dem ukrainischen Beitrittswunsch mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Ukraine braucht eine klare Integrationsperspektive
Allerdings konnte die EU sich bis heute nicht dazu durchringen, Kiew die Möglichkeit einer Mitgliedschaft in Aussicht zu stellen. Kompromisslösung war eine enge Kooperation im Rahmen der Östlichen Partnerschaft, mit der Brüssel die Nachbarregionen der EU stabilisieren will. De facto aber wirkt das nun zur Unterzeichnung vorliegende Assoziierungsabkommen wie eine Einladung, der EU beizutreten, denn es deckt die Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft nahezu vollständig ab. Genau das – nämlich einen Beitritt zur EU – hat die Ukraine immer wieder zur strategischen Priorität erklärt, sieht die Regierung in Kiew darin doch den Schlüssel für Entwicklung und Sicherheit.
Die Uneinigkeit über das Ziel ihrer Zusammenarbeit – Assoziierung oder Mitgliedschaft – sollten EU und Ukraine rasch ausräumen. Nach dem ersten Anlauf für ein umfassendes Assoziierungsabkommen 2007 ist es an der Zeit, dass Brüssel seinem östlichen Nachbarn eine echte Beitrittsperspektive bietet. Das würde in dem Land die nötigen Kräfte mobilisieren, um den gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Umbau zu stemmen, vor dem die Ukraine steht.
Die EU muss sich als verlässlicher Partner der Ukraine positionieren
Die Ukraine hat mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds beträgt das Wirtschaftswachstum 2013 lediglich 0,4 Prozent; für 2014 werden 1,5 Prozent erwartet. Die Staatsverschuldung betrug zum Ende der ersten Jahreshälfte 2013 134,4 Milliarden Dollar, was 75,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Dabei ist die Kreditwürdigkeit der Ukraine gering. Die Bedingungen für Investitionen sind ungünstig. Im aktuellen „Doing Business“-Bericht der Weltbank belegt das Land lediglich Platz 112 von 189. Das Durchschnittseinkommen liegt laut Statistikbehörde bei monatlich 290 Euro, die Durchschnittsrente beträgt sogar nur 130 Euro.
Kein Wunder, dass viele Ukrainer ihr Land verlassen, um im Ausland Arbeit zu suchen. Schätzungen der Vereinten Nationen gehen von bislang etwa acht Millionen aus – eine gewaltige Zahl angesichts der insgesamt nur 22,5 Millionen Einwohner im erwerbsfähigen Alter. Die Regierung in Kiew hat erkannt, dass die Vorteile des neuen Freihandelsabkommens mit der EU überwiegen. Doch die wenigsten ukrainischen Produkte sind in der EU konkurrenzfähig. Außerdem rechnet Kiew mit negativen Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation in wichtigen Bereichen, wie in der Chemieindustrie oder im Maschinenbau.
Eine weitere Herausforderung besteht in der noch immer starken wirtschaftlichen Verflechtung mit dem russischen Markt. Eine Trennung von den bisherigen Hauptabnehmern ukrainischer Produkte würde Branchen wie die Luftverkehrs- oder petrochemische Industrie in eine schwere Krise stürzen. Momentan exportiert die Ukraine 36,1 Prozent in die GUS-Länder, die Länder der Zollunion – Russland, Belarus und Kasachstan – sind ihre wichtigsten Handelspartner. Demgegenüber gehen nur 26,2 Prozent der Exporte in die EU. Die Importe liegen auf ungefähr gleicher Höhe von 35 Prozent.
Außerdem leidet die Ukraine unter einer verbreiteten Korruption und der Ineffizienz von Staatsverwaltung und Gerichten. Die meisten Ukrainer sehen vor allem darin die Gründe für die soziale, wirtschaftliche und politische Instabilität ihres Landes.
Die aktuelle EU-Politik reicht nicht, um der Ukraine bei der Bewältigung dieser Probleme zu helfen. Durch die von dem Freihandelsabkommen vorgesehene Abschaffung der Zölle würden zwar diejenigen ukrainischen Exporteure profitieren, die bereits bisher Waren in die EU geliefert haben, doch der Konkurrenzdruck auf die übrigen Unternehmen würde steigen. Um den höheren EU-Standards zu entsprechen, ist eine umfassende Modernisierung der Wirtschaft von Nöten. Die ukrainische Regierung schätzt den Bedarf an Investitionen auf 160 Milliarden Euro. Doch weder gibt es bis jetzt eine Finanzierungsstrategie seitens der EU dafür noch sind private Investitionen in dieser Größenordnung in Sicht.
Die Sprachlosigkeit bzw. die gegenseitigen Drohungen zwischen der EU und Russland konnten bis jetzt nicht überwunden werden. Brüssel hat es in den vergangenen Jahren versäumt, seine parallel laufenden Dialoge mit Russland und der Ukraine zusammenzuführen. Moskau wiederum schließt nach wie vor aus, dass die Ukraine nach einer Assoziierung mit der EU gleichzeitig Mitglied der russisch geführten Zollunion sein kann.
Bislang fehlen der EU aber auch wirksame Instrumente und der Durchsetzungswille, um die Ukraine bei der umfassenden Modernisierung ihres Verwaltungs- und Justizapparats zu unterstützen, und um zu gewährleisten, dass die EU-Politik umgesetzt werden kann.
Die jetzige EU-Politik ist daher gescheitert, weil sie nicht auf die Probleme des Landes eingeht, weil die Institutionen in der Ukraine weder Willens noch in der Lage sind, sie umzusetzen, und weil sie nicht den Erwartungen der ukrainischen Gesellschaft entspricht.
Eine maßgeschneiderte Integrationspolitik wäre nötig
Brüssel übersieht zudem die Chancen, die darin liegen, die Gesellschaft in die Modernisierung des Staates einzubeziehen. Dabei gehört dies zu den wichtigsten Erfahrungen der Osterweiterung von 2004/07. So zielte das damalige PHARE-Programm darauf, durch Investitionen die Industrien und Infrastrukturen der Beitrittsländer und damit auch den dortigen Lebensstandard dem Gemeinschaftsniveau anzugleichen.
Für die Ukraine sind die wirtschaftliche Modernisierung und die Anhebung der sozialen Standards die zentralen Punkte in den Beziehungen zur EU. Die EU müsste daher vor allem dazu beitragen, den in der Ukraine so wichtigen Sektor der kleinen und mittleren Unternehmen zu unterstützen, um einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Außerdem gilt es, Strategien für diejenigen Industriezweige zu entwickeln, bei denen absehbar ist, dass sie dem Wettbewerbsdruck auf dem europäischen Markt nicht standhalten. Schließlich bedarf der Umbau monoindustrieller Regionen in der Ukraine besonderer Aufmerksamkeit.
Die EU müsste also der Ukraine nicht nur eine Beitrittsperspektive bieten, sondern sich auch einer an den Bedürfnissen des Landes ausgerichteten Ukraine-Politik verschreiben. Die europäische Integration wird dem Land langfristig gut tun: Sie wird eine neue Denkkultur schaffen und durch den Wettbewerb im Binnenmarkt den Boden für Innovationen und Entwicklung bereiten – was gleichermaßen im Sinne der EU, der Ukraine und Russlands liegt.
Die EU sollte sich an ihre eigenen Regeln halten
Stattdessen verstellt der Fall der ehemaligen Premierministerin Julia Timoschenko den Blick auf diese Herausforderungen. Die EU nutzt die Debatte um Timoschenko fälschlicherweise als Beleg für Fortschritte der Ukraine auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit. Die Ukraine muss, um sich den in der EU geltenden rechtlichen Standards und dem acquis communautaire anzunähern, die Praxis selektiver und politisch motivierter Justiz überwinden. Genau das Gegenteil geschieht jedoch im Fall der früheren Premierministerin. Die EU müsste daher ein unabhängiges rechtsstaatliches Verfahren fordern, statt einen weiteren Fall selektiver Justiz zu fördern.
Viel wichtiger wäre für die EU zudem, einen Blick auf das Parteiensystem der Ukraine zu werfen und die wirtschaftlichen Aktivitäten zahlreicher Spitzenpolitiker zu durchleuchten. Darüber hinaus darf Brüssel nicht übersehen, dass eine Freilassung von Timoschenko nichts an den schwierigen Bedingungen für oppositionelle Parteien ändern würde.
Assoziierungsabkommen als erster Schritt
Obwohl die Probleme der Ukraine seit langem offensichtlich sind, hat die EU bis heute keine passende Politik entwickelt. Nicht nur sind sich die Mitgliedstaaten uneins. Die Bedingungen für eine aktive europäische Außenpolitik sind momentan äußerst ungünstig. Noch immer ist die EU durch die Schuldenkrise gelähmt und beschäftigt sich daher vor allem mit sich selbst.
Mit dem gängigen „more for more“-Prinzip, bei dem Brüssel Reformfortschritte mit neuen Hilfen belohnt, versucht die EU zwar, der ukrainischen Politik Impulse zu geben. Doch dabei nährt sie Illusionen und weckt Erwartungen, die an der Realität in dem Land vorbeigehen.
Eine Beitrittsperspektive wäre eine wichtige Motivation für den institutionellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau. Die jetzt angestrebte Assoziierung ist zwar Voraussetzung für eine erfolgreiche Handelspartnerschaft mit der EU. Die Bereitschaft in der Gesellschaft für Reformen kann sie aber nur bedingt steigern. Nötig wäre vielmehr, der Ukraine eine klare europäische Perspektive zu bieten, und eine realistische, auf das Land zugeschnittene, soziale und wirtschaftliche Integrationspolitik zu verfolgen.
Der Beitrag ist auch bei Cicero Online erschienen.