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Zusammenfassung |
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Nachdem die deutsche Bundesregierung die Schuldenbremse als Reaktion auf die Pandemie zunächst ausgesetzt hatte, plant sie nun eine Wiederaufnahme ihres fiskalischen Regelwerks für das kommende Jahr. Dafür wäre für 2022 eine umfassende Reduzierung des strukturellen Defizits um etwa 2 Prozent des BIP erforderlich. Die Risiken, die mit der verfrühten Einleitung eines solchen Konsolidierungskurses für den Aufschwung in Europa verbunden wären, liegen auf der Hand – sowohl direkt, denn Deutschland trägt mit etwa 30 Prozent zur Wirtschaftsleistung im Euro-Währungsgebiet bei, als auch indirekt, weil Deutschlands finanzpolitische Entscheidungen den Ton für den gesamten Euro-Raum vorgeben.
Angesichts der Tatsache, dass die USA einen ehrgeizigen kurzfristigen Finanzplan auf den Weg gebracht haben, würde ein unverhältnismäßig strenger fiskalpolitischer Kurs Europas im klaren Gegensatz zur US-Fiskalpolitik stehen, was sich deutlich auf die weltweite Erholung auswirken und einer Wiederbelebung der transatlantischen Beziehungen im Weg stehen könnte. Es ist zwar davon auszugehen, dass die neue US-Regierung unter Präsident Joe Biden auf die massive Androhung von Zöllen verzichtet. Sie wird allerdings von Europa erwarten, dass es nicht nur einseitig von der US-Nachfrage profitiert, sondern auch eigene fiskalpolitische Stützungsmaßnahmen zugunsten einer weltweiten Konjunkturerholung durchführt. Die straffe Finanzpolitik in Deutschland und Europa hat die externen Ungleichgewichte verstärkt und den Aufschwung nach der Finanzkrise verlangsamt (Abbildung 1). Entsprechend werden die internationalen Akteure in der gesamtwirtschaftlichen Zusammenarbeit genau darauf achten, ob Europa einen Beitrag zur internationalen Fiskalpolitik leistet oder nicht.
Tatsächlich ist das deutsche fiskalpolitische Regelwerk deutlich flexibler als gemeinhin angenommen. Die politische Entscheidung darüber, die Schuldenregeln des Bundes und der Länder in ihrer ursprünglichen Form bereits im Jahre 2022 wieder einzuführen, gerät zunehmend in die Kritik. Es können und müssen alternative fiskalpolitische Strategien in Erwägung gezogen werden. Die Frage ist, wann die Gespräche über diese alternativen politischen Gestaltungsoptionen aufgenommen werden: Bereits jetzt, nachdem das Deutsche Stabilitätsprogramm 2021 vom Kabinett beschlossen wurde, erst wenn die Bundestagswahlen im September näher rücken oder vor der Vorlage des Haushaltsentwurfs im Oktober 2021. Unabhängig davon steht eine große Bandbreite an politischen Möglichkeiten zur Verfügung.
Neben der Möglichkeit, die Ausnahmeregel der Schuldenbremse so lange wie nötig anzuwenden, könnte auch eine Übergangsphase für die zulässige Nettoneuverschuldung in Betracht gezogen werden, um den finanzpolitischen Herausforderungen der Corona-Pandemie entgegenzutreten. Während derartige Anpassungen möglicherweise eine Grundgesetzänderung erfordern, müssten für andere Maßnahmen lediglich Gesetze oder die vom deutschen Bundesministerium für Finanzen (BMF) und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) beschlossenen Regelungen und Verordnungen geändert werden. Denkbar wäre insbesondere eine Anpassung der Formel für die Ermittlung der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse – die auf Grundlage der Wirtschaftstätigkeit eine gewisse Flexibilität zulässt –, um in der aktuellen Periode mehr haushaltspolitischen Spielraum zuzulassen. Die beschlossenen Tilgungspläne für die in den Jahren 2020 und 2021 aufgenommenen Kredite, die oberhalb der Schuldengrenze lagen, könnten später als derzeit vorgesehen einsetzen, antizyklisch ausgestaltet oder per Gesetz von 20 auf 50 Jahre gestreckt werden, wie es beispielsweise in einigen Bundesländern bereits geschehen ist. Großzügigere Transferzahlungen, zum Beispiel durch die Vergabe von zinsgünstigen Krediten an Länder und Kommunen, könnten ebenfalls Engpässe auf nachgeordneter staatlicher Ebene schließen. Schließlich hat die jüngste Vergangenheit gezeigt, dass Grundgesetzänderungen, die den Geist der Schuldenbremse betreffen, tatsächlich möglich sind.
Auswirkung der Schuldenbremse auf die Covid-19 Krisenreaktion
Im Folgenden sollen die Auswirkungen der Schuldenbremse auf die drei Staatsebenen in Deutschland – Bund, Länder und Kommunen – untersucht werden.
Bund
Die Schuldenbremse legt eine maximal zulässige Nettokreditaufnahme fest, die anhand mehrerer Komponenten ermittelt wird:
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Die Strukturkomponente entspricht einem maximal zulässigen Haushaltsdefizit in Höhe von 0,35 Prozent des BIP;
- Die Konjunkturkomponente erweitert oder beschränkt den Neuverschuldungsspielraum in Abhängigkeit von der aktuellen Wirtschaftslage über die Strukturkomponente hinaus und
- Der Saldo der finanziellen Transaktionen sieht eine Bereinigung von Transaktionen vor, die das Reinvermögen des Bundes nicht ändern – wie sich am Beispiel der schuldenfinanzierten Darlehensvergabe durch die Regierung zeigt. Der Saldo der finanziellen Transaktionen kam häufig bei der Finanzierung von außerbilanziellen Ausgaben zur Anwendung, die von der Obergrenze der Schuldenbremse abweichen.
Im Zeitraum 2020 bis 2024 wird sich die Strukturkomponente auf etwa 12 Milliarden Euro belaufen. Da bis 2024 nach wie vor von einer Produktion unter dem Produktionspotenzial auszugehen ist, wird die Konjunkturkomponente in diesem Zeitraum weiterhin positiv ausfallen, allerdings von 45 Milliarden Euro im Jahre 2020 auf unter 13 Milliarden Euro im Jahre 2021 absinken. Obgleich sich der Saldo der finanziellen Transaktionen im Jahre 2020 auf 15 Milliarden Euro belief, was auf eine umfassende Verwendung dieser Bilanzierungstechnik durch das BMF zurückzuführen ist, ist davon auszugehen, dass er in den Folgejahren gering ausfällt.
Vor diesem Hintergrund plante der Bund, wie Abbildung 3 zu entnehmen ist, für die Jahre 2020 und 2021 eine Kreditaufnahme in Höhe von 199 bzw. 114 Milliarden Euro. Beide Beträge liegen über den maximal zulässigen Beträgen der Schuldenbremse, sodass die darin vorgesehene Ausweichklausel zur Anwendung kommen musste. Eine Rückkehr zur Schuldenbremse im Jahre 2022 würde voraussetzen, dass der Bund seine Nettokreditaufnahme des Jahres 2021 in Höhe von 198 Milliarden Euro für das Jahr 2022 auf den maximal zulässigen Betrag in Höhe von 24 Milliarden Euro senkt, was einer Reduzierung um fast 175 Milliarden Euro entspricht (etwa 4,5 Prozent des BIP). Solch ein Schritt wäre mit weitreichenden Folgen für den finanzpolitischen Kurs Deutschlands verbunden.
Länder
Die Struktur der Schuldenbremse für die Länder ähnelt der für den Bund. Sie umfasst ebenfalls eine Struktur- und Konjunkturkomponente und den Saldo der finanziellen Transaktionen. Sie kam zum ersten Mal im Jahr 2020 nach einer langen Übergangsphase zum Einsatz. Allerdings wird die Strukturkomponente auf Länderebene strenger als auf Bundesebene umgesetzt, weil sie einen strukturell ausgeglichenen Haushalt voraussetzt (und nicht ein maximales strukturelles Defizit in Höhe von 0,35 Prozent des BIP wie im Bund).
Wie auch der Bund haben alle Länder zusätzliche Kreditermächtigungen im Rahmen der Ausnahmeregelung der Schuldenbremse beschlossen. Insgesamt haben sie übermäßige Kreditaufnahmen in Höhe von 130 Milliarden Euro oberhalb der Regelgrenzen der Schuldenbremse genehmigt (Tabelle 2 auf Seite 10) und mussten gleichzeitig über einen Tilgungsplan abstimmen.
Kommunen
Die Schuldenbremse erstreckt sich nicht auf die Kommunen. Allerdings erfolgt die Kontrolle der kommunalen Mittel und Ausgaben größtenteils auf Ebene der Länder. Die Kommunen selbst bestimmen nur über einen Bruchteil ihrer Ressourcen und in den meisten Fällen nicht über ihre kommunalen Ausgaben. Der Hauptteil der Steuereinnahmen wird von den Ländern und vom Bund eingezogen. Sie müssen sicherstellen, dass die Kommunen über eine angemessene und ausreichende Mittelausstattung verfügen.
Allerdings lastet durch die Schuldenbremse ein zusätzlicher Druck auf den Beziehungen zwischen Ländern und Kommunen. Die Länder verfügen über einen begrenzten institutionellen Handlungsspielraum, der auch ihre Möglichkeiten zur Unterstützung der Kommunen immer mehr einschränkt. Daraus kann sich eine Situation ergeben, in der die Durchsetzung der Schuldenbremse auf Bundes- und Länderebene negative Auswirkungen auf kommunaler Ebene in Form eines verstärkten Investitionsstaus und/oder einer mangelnden Tragfähigkeit der Schulden nach sich zieht.
Grundsätzlich sollte das System der Schuldenbremse auf allen Staatsebenen zu einer Steigerung der fiskalpolitischen Verantwortung beitragen. In der praktischen Umsetzung ergaben sich jedoch zahlreiche Schwierigkeiten, die jeweils neue außergewöhnliche Lösungsansätze erforderten. So wurden zur Vermeidung umfassender prozyklischer Ausgabenkürzungen auf kommunaler Ebene vor kurzem umfangreiche Transfers aus den Corona-Konjunkturpaketen von Bund und Ländern in Höhe von insgesamt 13 Milliarden Euro im Jahre 2020 und jeweils weiteren 4,3 Milliarden Euro in den Folgejahren beschlossen.
Interessanterweise erforderten zwei der im Corona-Paket der Bundesregierung vorgesehenen Stützungsmaßnahmen für die Kommunen und Länder eine Grundgesetzänderung. Dies zeigt, dass es ganz im Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung möglich ist, Mehrheiten für eine Änderung der Schuldenbremse und des Grundgesetzes zu finden, wenn der Wille dazu besteht. Die zwei durch den Bundestag und den Bundesrat am 18. September 2020 verabschiedeten Änderungen sehen Folgendes vor:
- Mit einer Änderung in Absatz 3 des Artikels 104a des deutschen Grundgesetzes steigert der Bund seine Unterstützung für Kommunen und Länder bei der Übernahme der Unterkunftskosten für Arbeitssuchende, die im Rahmen der „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ dauerhaft von den Kosten für Unterkunft und Heizung entlastet werden. Er hat seinen Maximalbeitrag zu den Unterkunftskosten von 49 auf 74 Prozent erhöht.
- Gemäß Artikel 143h gewährte der Bund einen Ausgleich von 50 Prozent für Mindereinnahmen aus der Gewerbesteuer. Die übrigen Mindereinnahmen wurden von den Ländern ausgeglichen. Diese Änderung war jedoch nur temporär und lief Endes des Jahres 2020 aus.
Zahlreiche Kommunen wiesen bereits zu Beginn der Krise einen hohen Schuldenstand auf. Aus diesem Grund legte der Bundesfinanzminister 2019 einen Plan zur Entlastung hoch verschuldeter Kommunen durch die Übernahme eines Teils ihrer Altschulden (Schulden, die sich über die Zeit angesammelt haben und von einigen Kommunen nicht mehr bewältigt werden können) vor. Da dieser Plan lediglich vier von 16 Bundesländern betraf – Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Hessen – war seine Annahme durch den Bundesrat eher unwahrscheinlich. Angesichts eines leicht vergrößerten haushaltspolitischen Spielraums konnten die einzelnen Länder nun jedoch etwas gegen die zunehmende Zahl von Kommunen unternehmen, die sich trotz der jüngsten Transfers und der Grundgesetzänderung in einer finanziellen Schieflage befinden. Möglicherweise wächst der Konsens für eine Einigung auf einen umfassenderen Plan zur Entschuldung der Kommunalhaushalte nach dem Vorbild der hessischen Landesregierung, die 2019 die Altschulden von 179 Kommunen in Höhe von 4,9 Milliarden Euro übernommen und Investitionen in Höhe von 700 Millionen Euro in 257 Gemeinden gefördert hat.
2019 | 2020 | 2021 | 2022 | 2023 | 2024 | |
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Gesamtstaatlicher Finanzierungssaldo, davon: | 52.5 | -166 | -247 | -74 | -29 | -8 |
Bund | 22.7 | -105 | -194 | -38 | -12 | -1.5 |
Länder | 16 | -23.5 | -23 | -15 | -5.5 | -3.5 |
Kommunen | 5.1 | 1.5 | -6.5 | -7.5 | -6 | -6.5 |
Sozialversicherung | 8.7 | -39.5 | -24 | -13.5 | -5.5 | 3.5 |
Rückkehr zur und/oder Reform der Schuldenbremse
Mit der geplanten Rückkehr zur Schuldenbremse im Jahre 2022 wäre eine noch deutlichere Rückführung der Kreditaufnahmen ab 2021 und eine noch umfassendere fiskalpolitische Bremswirkung verbunden gewesen (siehe Tabelle 1). Die deutsche Bundesregierung hat sich im Rahmen der Ausarbeitung ihres Entwurfs für den Haushalt 2022 entschieden, diesen Plan anzupassen. Nach einer neuen Nettokreditaufnahme von 81,5 Milliarden Euro im Jahr 2022, soll die Schuldenbremse ab 2023 wieder eingehalten werden, was nach wie vor nur durch eine starke Kontraktion möglich ist.
Der deutsche haushaltspolitische Rahmen bietet mehrere Optionen für eine kurzfristige Lockerung der Fiskalregeln, die keine Grundgesetzänderung erfordern. Auch wenn zunächst hier diese Möglichkeiten aufgezeigt werden, soll im Anschluss für weitreichendere Reformen plädiert werden, die keine Grundgesetzänderung erfordern, erstrebenswert und letztendlich auch notwendig sind.
1. Verlängerung einer zustandsabhängigen Aussetzung der Schuldenbremse
Angesichts einer außergewöhnlichen Gesundheits- und Wirtschaftslage könnte die Ausnahmeregel der Schuldenbremse auf Bundes- und Länderebene so lange wie nötig angewendet werden. Das Grundgesetz verlangt lediglich, dass eine solche Anwendung vorübergehender Natur ist. Auf diese Weise könnten Wirtschaftsakteure davon überzeugt werden, dass die Nachfrage so lange wie nötig unterstützt wird. Für die Annahme einer solchen Forward Guidance für die Fiskalpolitik auf Bundesebene müsste alljährlich eine erneute Zustimmung erforderlich sein. Unterstützt werden könnte dies durch ein politisches Engagement zugunsten einer alljährlichen Verlängerung der Ausnahmeregel, bis die Wirtschaft zu ihrem Potenzial zurückgekehrt ist. Dies würde vermutlich auch die Verabschiedung ähnlicher Aussetzungen auf Länderebene ermöglichen.
2. Schrittweise Wiedereinführung der Regeln
Nach dem Vorschlag des Sachverständigenrats von 2020 könnte eine Übergangsphase für die Wiedereinführung des gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwerts ebenfalls zu einer schrittweisen Rückkehr zur Schuldenbremse beitragen. Für diese Option wäre zwar möglicherweise eine Grundgesetzänderung erforderlich, sie würde sich jedoch nicht von der Übergangsphase unterscheiden, die 2009 im Rahmen der Einführung der Schuldenbremse gewährt wurde und die eine schrittweise Anpassung des Bundeshaushalts (bis 2016) an den gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwert von 0,35 Prozent des BIP ermöglichte. Sollte die Ausnahmeregel im Jahre 2022 nicht zum Einsatz kommen, müsste die maximal zulässige strukturelle Verschuldung hoch genug sein, um eine unnötig abrupte Haushaltskonsolidierung zu vermeiden. In diesem Zusammenhang fällt die durch den Sachverständigenrat veranschlagte maximal zulässige strukturelle Verschuldung in Höhe von 1 Prozent des BIP für 2022 nach Ansicht der Verfasser zu gering aus. Sie sollte für 2022 eher zwischen 1,752 und 2,25 Prozent des BIP liegen. Eine Rückkehr zum gesetzlich vorgeschriebenen Grenzwert von 0,35 Prozent des BIP sollte eher für 2026 und nicht für 2024 angestrebt werden.
3. Frontloading der Nutzung von Rücklagen
In der Vergangenheit bildete der Bund Rücklagen aus Steuerüberschüssen in Höhe von etwa 54,9 Milliarden Euro über bestimmte Anlagevehikel (Special Purpose Vehicles, SPV): die Asyl- und Flüchtlingsrücklage (48,2 Milliarden Euro), den Energie- und Klimafonds (6,2 Milliarden Euro) und die Rücklagen für die Bundeswehr und ihre zivile Verwaltung (0,6 Milliarden Euro). Dies war eine intelligente Möglichkeit, Steuerüberschüsse für eine spätere Verwendung bereitzustellen, die ein einfaches „Kontrollkonto“ nicht bietet. In ihrem Eckwertebeschluss für den Haushalt 2022 sieht die Bundesregierung eine vorzeitige Auszahlung dieser Mittel nicht vor. Eine neue Bundesregierung könnte sich allerdings für ein solches Vorgehen entscheiden, um den kontraktiven Fiskalimpuls zu begrenzen, der mit einer Rückkehr zur Schuldenbremse verbunden wäre. Eine vollständige Inanspruchnahme der Rücklagen aus den Sondervermögen im Jahre 2022 würde einen Puffer von bis zu 1,5 Prozent des BIP bieten. Dem Eckwertebeschluss zu Folge ist erst für die Jahre ab 2023 (wenn die Schuldenbremse wieder eingehalten werden soll) eine vollständige Verwendung der 48,2 Milliarden Euro aus der Flüchtlingsrücklage vorgesehen.
4. Anpassung der Konjunkturkomponente im Rahmen der Regelung
Artikel 115 des Grundgesetzes sieht im Rahmen der Schuldenbremse eine Konjunkturkomponente vor, um die zulässige Kreditaufnahme in Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Lage anzupassen. Allerdings ergibt sich die Konjunkturkomponente gemäß Paragraf 5 des Gesetzes zur Ausführung von Artikel 115 aus einer „Produktionslücke“ und einer „Budgetsensitivität“. Die Produktionslücke wird auf Grundlage eines „Konjunkturbereinigungsverfahrens“ bestimmt. Doch weder das Verfahren zur Berechnung der Produktionslücke noch die Methode zur Bestimmung des Parameters für die Budgetsensitivität werden im einfachen Ausführungsgesetz definiert. Entsprechend können beide Verfahren ohne Grundgesetzänderung angepasst werden.
- Anpassung des „Budgetsensitivität“-Parameters: Die Bundesregierung orientiert sich derzeit an einer Budgetsemielastizität, die in der Regel bei etwa 0,2 liegt. Bei einer Abweichung um 1 Prozent vom Produktionspotenzial kann die Nettokreditaufnahme um 0,2 Prozent des BIP angepasst werden. Dieser Parameter könnte erhöht werden, um in guten Zeiten für mehr Konsolidierung und in schlechten Zeiten für größere Impulse zu sorgen. Er könnte wahlweise auch geändert werden, um lediglich die Intensität der möglichen Impulse in schlechten Zeiten zu steigern.
- Änderung des Referenzwerts für die „Produktionslücke“: Das Grundgesetz sieht vor, dass die Bundesregierung die Produktionslücke anhand einer spezifischen Methode auf Grundlage des aggregierten Quotierungsverfahren (AQV) der EU bestimmt. Allerdings äußern sich Fachleute kritisch über das EU-Verfahren, weil es vor allem prozyklisch ausgelegt ist, sodass es unverhältnismäßig geringe Produktionspotenziale generiert und damit die Produktionslücken in schlechten Zeiten künstlich niedrig hält. Deutschland könnte seinen Einfluss als Mitglied der Arbeitsgruppe zur Produktionslücke im EU-Ausschuss für Wirtschaftspolitik geltend machen, um eine Änderung der Verfahren zu bewirken und auf diese Weise Schätzungen des Potenzialwachstums weniger konjunkturabhängig zu gestalten.
5. Verlängerung der Tilgungsrate
Mit dem durch den Bundestag verabschiedeten Tilgungsplan für eine übermäßige Kreditaufnahme sowohl auf Bundes- als auch auf Länderebene wird sich in künftigen Jahren der Spielraum für eine antizyklische Politik verringern. Die Schuldenregel verlangt nicht nur die Annahme eines Tilgungsplans, wenn die Ausnahmeregel der Schuldenbremse zur Anwendung kommt, sondern sieht auch eine Reduzierung der künftigen maximal zulässigen Nettokreditaufnahme unter der Schuldenbremse vor. Die vom Bundestag beschlossenen Tilgungspläne auf Bundesebene für die Jahre 2020 und 2021 sehen unabhängig von einem möglichen Wirtschaftswachstum einen linear-proportionalen Rückzahlungsplan vor. Für die Kreditaufnahme des Bundes im Jahre 2020 beläuft sich die jährliche Tilgung auf 2 Milliarden Euro in den Jahren 2023 bis 2042. Angesichts der Tatsache, dass die Kreditaufnahme die für 2021 prognostizierte Obergrenze der Schuldenbremse um 165 Milliarden Euro überschreitet, sinkt die maximal zulässige Nettokreditaufnahme unter der Schuldenbremse durch die Rückführung in den Jahren 2026 bis 2042 um weitere 9,1 Milliarden Euro jährlich (siehe Abbildung 4 auf S. 9).
Gemäß den Regeln mussten alle Länder über ähnliche Tilgungspläne abstimmen, die von den einzelnen Länderparlamenten beschlossen worden waren, um oberhalb der Schuldenbremse für die Länder liegende Kreditaufnahmen zur Ausgabenfinanzierung zurückzuzahlen. Allerdings sind die Tilgungszeiträume recht unterschiedlich. In Abhängigkeit von der politischen Zusammensetzung der Regierungskoalitionen liegen sie zwischen vier und 50 Jahren. Dabei erstreckt sich der Tilgungsbeginn von 2020 bis 2026. Insgesamt gehen die Verfasser von Tilgungen in Höhe von etwa 15 Milliarden jährlich zwischen 2026 und 2042 aus. Dieser Betrag mag gering erscheinen, doch der im Rahmen der Schuldenbremse zulässige Puffer für die Konjunkturkomponente ist ebenfalls sehr gering. Gemäß der Schuldenbremse wäre bei einer negativen Produktionslücke in Höhe von 1 Prozent lediglich ein konjunkturabhängiger Puffer von 0,2 Prozent des potenziellen BIP zulässig. Im Zeitraum von 2026 bis 2042 liegt dieser Betrag zwischen 7,5 und 11 Milliarden Euro. Im Verlauf gewöhnlicher Konjunkturschwankungen könnte die aktuelle Tilgungsstruktur systematische prozyklische Verzerrungen zur Folge haben, die die leicht konjunkturdämpfende Wirkung der Schuldenbremse aufheben könnte.
Da keine spezifischen Anforderungen bestehen, die Bundesschulden bis 2042 zurückzuzahlen, könnte der Tilgungsplan verlängert werden, um eine derartige Wirkung zu verhindern. Wie der Sachverständigenrat vorgeschlagen hat, könnte er, wie im Fall einiger Länder, um konjunkturelle Einflüsse bereinigt werden. Bei einem solchen Vorgehen würde der Konjunkturverlauf die Tilgungshöhe bestimmen. Damit wäre eine gewisse Unsicherheit mit Blick auf das Ende des Tilgungszeitraums verbunden. Allerdings sind damit deutlich geringere Kosten als mit einer prozyklischen Haushaltskonsolidierung verbunden.
Reformen der Schuldenbremse sind unerlässlich
Die beschriebenen Anpassungen lassen sich vollständig innerhalb der bestehenden durchführen und würden ganz wesentlich dazu beitragen, die geplanten Restriktionen und ihre Folgen für die politische Gesamtsituation im Euro-Raum abzumildern. Alles in allem hätten sie einen entscheidenden Einfluss auf die Vermeidung einer Fiskalklippe, mit der unnötiger Druck auf Deutschland, Europa und der weltweiten Konjunkturerholung lasten würde. Allerdings sind im Verlauf der gegenwärtigen Krise – sowie im ersten Jahrzehnt der Anwendung der Schuldenbremse – kritische Einschränkungen aufgetreten, die eine grundlegende politische Debatte über eine mögliche Reform des deutschen und letztendlich auch des europäischen haushaltspolitischen Rahmens rechtfertigen. Für eine Anpassung der Schuldenbremse mit Blick auf die Anwendung der Regeln und den deutschen Steuerföderalismus wäre eine Grundgesetzänderung notwendig, die eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag erfordert.
Land |
Regierungskoalition | Betrag (Milliarden EUR) |
Beitrag in % des BIP des Landes für 2019 | Tilgungszeitraum |
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Baden-Württemberg | Die Grünen/CDU | 7,200 | 1.37% | 2024–2049 |
Bavaria | CSU/Freie Wähler |
40,000 |
6.32% | 2024–2044 |
Berlin | SPD/The Left/ Die Grünen |
7,300 | 4.76% | 2023–2050 |
Brandenburg | SPD/CDU/Die Grünen | 2,200 | 2.96% | 2022–2052 |
Bremen | SPD/Die Grünen/ Die Linke |
1,200 | 3.57% | 2024–2054 |
Hamburg | SPD/Die Grünen | 6,000 | 4.87% | 2025–2045 |
Hesse | CDU/Die Grünen | 12,000 | 4.10% | 2021–2050 |
Lower Saxony | SPD/CDU | 7,800 | 2.50% | 2024–2049 |
Mecklenburg-Western Pomerania | SPD/CDU | 2,850 | 6.12% | 2025–2044 |
North Rhein-Westphalia | CDU/FDP | 25,000 | 3.50% | 2020–2070 (latest) |
Rheinland-Palatinate | SPD/FDP/Die Grünen | 3,500 | 2.40% | 2024–2049 (latest) |
Saarland | CDU/SPD | 2,071 | 1.91% | 2020–2050 |
Saxony | CDU/Die Grünen/SPD | 6,000 | 4.70% | 2021–2029 |
Saxony-Anhalt | CDU/SPD/Die Grünen | 258 | 0.41% | 2020–2024 |
Schleswig Holstein | CDU/Die Grünen/FDP | 5,500 | 5.63% | 2024–2064 |
Thuringia | Minderheitsregierung Die Linke/SPD/ Die Grünen (Wahlen im Sep. 2021) |
1,560 | 2.44% | 2022–2029 |
Total | 130,439 |
Mehrere Aspekte treten klar hervor und könnten eine umfassendere Reform rechtfertigen:
- Die Schuldenbremse hat vermutlich einen Beitrag zur Stärkung der Haushaltslage in Deutschland geleistet, obwohl ihrer Einführung eine Haushaltskonsolidierung vorausgegangen war. Allerdings ist ein Haushaltsrahmen, der sich auf nicht-beobachtbare Daten wie den strukturellen Saldo und die Produktionslücke stützt, anfällig für Prozyklizität, Revisionen und Missmanagement. Die konstante Überperformance der Fiskalregeln der deutschen Bundesregierung ist kein Zeichen des Erfolgs, sondern deutet vielmehr auf systematische Verzerrungen bei der Anwendung der Regeln hin.
- Die Vorgabe, sowohl ausgeglichene Länderhaushalte als auch ein geringes Defizit im Bund zu gewährleisten, bietet nicht genügend Flexibilität, um auf Schocks zu reagieren. Aus diesem Grund stehen Haushaltstransfers immer wieder im Widerspruch zum eigentlichen Zweck der Regelungen.
- Angesichts der begrenzten Möglichkeiten der Länder und Kommunen, eigene Einnahmen zu erzielen, wäre eine größere Solidarität zwischen der Bundesebene und den nachgeordneten staatlichen Ebenen geboten. In der Praxis wird diesen Problemen mit chirurgischen, aber tiefgreifenden wörtlichen und inhaltlichen Änderungen des fiskalpolitischen Regelwerks in Deutschland begegnet. Darunter fallen die Grundgesetzänderung aus dem Jahre 2017, mit der die Transferleistungen für das Saarland, Bremen und Berlin, die ursprünglich auslaufen sollten, (möglicherweise dauerhaft) verlängert wurden. Mit der Grundgesetzänderung vom September 2020 wurde zudem der kommunale Finanzausgleich abgesichert.
- Der Einsatz von Rücklagen und außerbilanziellen Mitteln mit dem Ziel einer flexibleren Anwendung der Regeln für den Aufbau von Reserven aus Steuerüberschüssen und der Einsatz von Finanzinvestitionen hatten einen weniger transparenten, effizienten und demokratischen Haushaltsprozess zur Folge.
- Außerdem hat sich die Schuldenbremse auch nachhaltig auf die öffentliche Investitionsquote in Deutschland ausgewirkt. Der Spielraum für Maßnahmen in Krisenzeiten, wirtschaftliche Erneuerung sowie für eine erfolgreiche Klima- und Energiewende wurde deutlich reduziert.
Die genannten Nachteile sind nicht nur mit tiefgreifenden und langanhaltenden Folgen für die deutsche Wirtschaft, sondern auch für die Wirtschaft in ganz Europa verbunden. Allerdings bestand nur begrenzter Handlungsdruck, weil sie sich vor dem Hintergrund eines relativen Wachstums der deutschen Wirtschaft entwickelt haben. Mit Blick auf die Regierung von US-Präsident Donald Trump und den Aufschwung der Weltwirtschaft bestand für Europa und Deutschland kein Anlass, einem koordinierten gesamtwirtschaftlichen Vorgehen auf internationaler Ebene größere Bedeutung beizumessen. Wenn der EU tatsächlich daran gelegen ist, als kooperativer internationaler Akteur aufzutreten und die transatlantischen Beziehungen wiederzubeleben, dann muss sie sich der Rolle ihrer Fiskalpolitik und des Einflusses dieser Politik auf die externen Ungleichgewichte bewusstwerden. Tatsächlich läuft die EU angesichts der umfassenden Konjunkturprogramme, die derzeit in den USA angeschoben werden, und einer verbesserten Wirtschaftslage in Asien Gefahr, im Rahmen des weltweiten Wiederaufschwungs nur Mitnahmeeffekte zu erzielen.
Schlussbemerkung
Bei finanzpolitischen Entscheidungen müssen in der Regel viele unterschiedliche Aspekte in Betracht gezogen werden. In der gegenwärtigen Lage wird diese Aufgabe zusätzlich erschwert, weil die Wirksamkeit der üblichen Instrumente und Maßnahmen in Frage gestellt wird. Tatsächlich sind außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich, weil sich automatische Stabilisatoren als unzureichend erwiesen haben. Die Produktionslücke, die üblicherweise zugrunde gelegt wird, um eine Abweichung zwischen der konjunkturellen Entwicklung und dem wirtschaftlichen Potenzial zu einem bestimmten Zeitpunkt nachzuvollziehen, verliert an Bedeutung, weil die Produktion zur Eindämmung einer Pandemie bewusst heruntergefahren wird. In einer solchen Lage wird die Planung und Umsetzung politischer Strategien deutlich erschwert, und es sind flexible Denkansätze und Ad-hoc-Instrumente erforderlich.
Als Reaktion auf die Covid-19-Krise hat die deutsche Finanzpolitik eine deutliche Ausweitung der Staatsverschuldung ermöglicht – größtenteils durch Aussetzung der geltenden Fiskalregeln. Eine frühzeitige Rückkehr zum strengen Regelwerk der Schuldenbremse könnte mit schwerwiegenden Folgen für die Konjunkturerholung in Deutschland und Europa verbunden sein. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland ein Drittel der Wirtschaftsleistung im gesamten Euro-Währungsgebiet aufbringt, wäre dies mit einem kontraktiven Impuls in Höhe von 2 Prozent des BIP in Deutschland und einem kontraktiven Impuls von fast 0,7 Prozent des BIP im gesamten Euro-Raum verbunden. Es ist eher unwahrscheinlich, dass eine derart umfangreiche Fiskalkontraktion durch expansive fiskalpolitische Maßnahmen in anderen Volkswirtschaften ausgeglichen werden könnte. Wenn überhaupt, dann würde mit diesem Versuch einer Rückkehr zur Schuldenbremse in Deutschland Druck auf andere europäische Volkswirtschaften ausgeübt, ebenfalls zu den europäischen Fiskalregeln aus der Vorkrisenzeit zurückzukehren.
Die deutsche Finanzpolitik hat globale Konsequenzen und muss auch auf diese Weise betrachtet werden. Die Fiskalregeln sind zwar ausreichend flexibel gestaltet, um die schwersten kurzfristigen Risiken zu vermeiden. Sie haben sich jedoch auch als begrenzt und reformbedürftig erwiesen. Es bedarf daher, neben vorübergehenden Anpassungen, einer ernsthafteren politischen Debatte über die Vor- und Nachteile des gegenwärtigen finanzpolitischen Regelwerks. Dies ist notwendig, damit die Fiskal- und nicht die Geldpolitik eine wichtigere Rolle mit Blick auf den Aufschwung übernimmt. Außerdem ist dies entscheidend, um einer drohenden Explosion der externen Ungleichgewichte zwischen der EU und den USA entgegenzuwirken, die mit weit reichenden wirtschaftlichen und politischen Folgen verbunden wären. Tatsächlich wird sich die neue US-Regierung von Präsident Biden zurecht dafür einsetzen, die internationale wirtschaftspolitische Koordinierung gegenüber ihrem Status quo während der Vorgängerregierung von Trump oder sogar der von Barack Obama zu stärken.
Die Verfasser danken Lucas Guttenberg, Philipp Heimberger, Daniela Schwarzer, Philippa Sigl-Glöckner, Sander Tordoir und Achim Truger für Feedback und Gespräche. Sämtliche verbliebenen Fehler gehen zu unseren Lasten.