Vom Wirtschafts- zum politischen Projekt
Im Umfeld des Russland-Ukraine-Konfliktes seit 2014 hat sich anhand der Nord Stream 2 Pipeline die Diskussion über die Energieabhängigkeit Deutschlands und der EU von Russland immer weiter verschärft. Jahrelang hatte die Bundesregierung behauptet, es handele sich um ein rein kommerzielles Projekt. Doch im April 2018 erkannte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko das erste Mal an, dass bei Nord Stream 2 auch politische Faktoren berücksichtigt werden müssen.
Indem die Bundesregierung sich nicht gegen das Projekt gewandt hat, hat sie es von Anfang unterstützt. Der ehemalige Wirtschafts- und spätere Außenminister Sigmar Gabriel hatte bei einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin in Moskau 2015 versichert, dass er sich dafür persönlich einsetzen wird, das Projekt unter deutsche Rechtsprechung zu bekommen.
Das ist mit der aktuellen Einigung zwar nicht erreicht worden, jedoch ist Deutschland jetzt für die Aushandlung der EU-Reglung und mögliche Ausnahmen für das Projekt zuständig. Dabei sind die Ziele und Auswirkungen von Nord Stream 2 viel umfassender und widersprechen deutschen und EU-Interessen.
Russische versus ukrainische Interessen
Aus russischer Perspektive geht es darum, mit dem Bau von Nord Stream 2 den wichtigsten Gasmarkt des Landes, die EU, durch eine weitere Pipeline abzusichern. Nord Stream 2 und Turk Stream zusammen sollen darüber hinaus das ukrainische Transitpipelinesystem überflüssig machen und damit die Erpressbarkeit Russlands durch die Ukraine abschaffen und Kiew für seinen EU-Kurs bestrafen. Gleichzeitig ermöglicht die Pipeline der russischen Politik, die eng mit der Wirtschaft verbunden ist, durch eine weitere Verbindung in die EU, Abhängigkeiten mit Firmen und Politikern auf lokaler und nationaler Ebene zu schaffen. Große Infrastrukturprojekte mit EU-Firmen stabilisieren das System Putin, da am Bau russische Firmen beteiligt sind, deren Besitzer dem Präsidenten nahestehen und die über solche Projekte zusätzlich Mittel generieren. Das stärkt das System Putin, welches auf Loyalität durch Korruption basiert. Der wirtschaftliche Preis spielt dann keine Rolle mehr.
Wenn Nord Stream 2 gebaut würde, verliert die Ukraine Transitgebühren von drei Milliarden Euro und eine wichtige Verhandlungsmasse gegen eine mögliche russische Intervention. Das kann Auswirkungen auf die sicherheitspolitische Stabilität im Asowschen und Schwarzen Meer haben. Ist Nord Stream 2 gebaut, könnte der Kreml das als Startsignal sehen, die Landbrücke zwischen der Krim und dem russischen Festland zu erobern und seine militärischen Aktivitäten an den Südhäfen der Ukraine weiter auszubauen. Die Ukraine hätte keine Möglichkeiten mehr, Druck auf Russland auszuüben. Gleichzeitig hat die Förderung des Projektes durch EU-Mitgliedstaaten auch eine psychologische Wirkung, indem sich viele Ukrainer fragen, inwieweit sie tatsächlich in ihrer schwierigen Situation durch die EU unterstützt werden.
Innenpolitik dominiert Außenpolitik
Den Beobachtern stellt sich die Frage, inwieweit die Bundesregierung die strategischen Konsequenzen ihrer Politik tatsächlich erkennt und wie es sein kann, dass sie andere Elemente ihrer Außen- und Sicherheitspolitik schwächt. Wenn Außenminister Heiko Maas im Rahmen seiner neuen Europäischen Ostpolitik auf die Mittel- und Osteuropäer bei der Formulierung einer EU-Russland- und Osteuropapolitik mehr Rücksicht nehmen will, steht das im krassen Gegensatz zur Unterstützung von Nord Stream 2. Wenn die Bundesregierung den Konflikt im Donbass befrieden und die Ukraine langfristig stabilisieren und im Reformprozess unterstützen möchte, dann tut sie mit dieser Politik genau das Gegenteil. Wenn der Zusammenhalt in der EU ein strategisches Ziel ist, dann nicht durch die Schwächung der EU-Energieunion. Hier fehlt es an Weitsicht und strategischer Tiefe für ein Land, das einmal als Führungsmacht in Europa diskutiert worden ist.
Die Unterstützung für Nord Stream 2 unterliegt für die Bundesregierung nicht in erster Linie einer außen- und sicherheitspolitischen Logik, sondern ist Teil eines innenpolitischen Aushandlungsprozesses. Brauchte die Bundeskanzlerin die Unterstützung der SPD für die Sanktionen gegen Russland im Kontext der Annexion der Krim und des Krieges in der Ostukraine, so war Nord Stream 2 von Anfang an Teil der Kooperationsangebote an Russland im Rahmen des Ansatzes „Abschreckung wenn nötig und Kooperation wo möglich“. Der Druck aus der Wirtschaft auf die Bundesregierung aber vor allem aus Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg scheint wichtiger zu sein, als Sicherheitsinteressen von Ländern wie Schweden, Polen oder den baltischen Staaten. Der außenpolitische Preis für diesen innenpolitischen Aushandlungsprozess schien berechenbar zu sein. Damit verbunden sind auch Wirtschaftsinteressen und Deutschland wird zum Drehkreuz für russisches Gas in die EU. Die deutsche Wirtschaft, aber auch die beteiligten Bundesländer werden dadurch ökonomische Vorteile haben. Je länger jedoch die Bundeskanzlerin versucht, dieses Projekt durch Aussitzen zu unterstützen, um so größer wird die Kritik.
Sicher konnte die Bundesregierung nicht damit rechnen, dass Donald Trump Nord Stream 2 als Verhandlungsmasse für einen Handelsdeal mit der EU nutzen würde und durch die Androhung von Sanktionen mehr Zugeständnisse für den Export von Flüssiggas nach Europa erpressen möchte. Aber wenn Deutschland immer noch glaubt, dass Wirtschafts- und Energieprojekte die russische Führung befrieden könnten und ein politischer Wandel durch ökonomische Annäherung erfolgt, zeugt dies von politischer Lernunfähigkeit. Trotz Handel führt Russland Krieg in Europa und in der direkten Nachbarschaft zur EU. Trotz der Exporte von Öl und Gas in die EU hat Russland die Krim annektiert, mischt sich durch Desinformationskampanien in Wahlen in EU-Mitgliedstaaten ein und destabilisiert systematisch den westlichen Balkan. Aus einem strategischen Partner ist ein strategischer Gegner geworden, der die Pipeline auch nutzt, um die transatlantischen und innereuropäischen Beziehungen zu spalten.
Strategischer Wandel gesucht
Die Versuche der Bundeskanzlerin, Präsident Putin dazu zu bewegen, weiterhin Gas durch die Ukraine nach Fertigstellung des Baues zu leiten, werden scheitern. Denn das würde den strategischen Zielen des Kreml wiedersprechen, der auf eine Schwächung der aktuellen ukrainischen Führung vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen setzt und außerdem die Ukraine langfristig in seinem Einflussbereich halten will.
Auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier wird mit Angeboten an Washington für den Kauf von mehr US-Flüssiggas keine Verhaltensänderung bei Präsident Trump erreichen, da dieser sich letztlich nicht für Nord Stream 2, sondern für ein neues Handelsabkommen mit der EU interessiert. Auch der Kongress wird sich nicht stoppen lassen, die beteiligten Firmen beim Bau des Projektes zu sanktionieren, sollte es den innenpolitischen Interessen der Demokraten und Republikaner entsprechen. Gleichzeitig gilt: Putin will dieses Projekt aus den genannten strategischen Gründen und wird es bauen, koste es, was es wolle.
Würde die Bundesregierung versuchen, politisch das Projekt zu stoppen, so käme es nach der Rücknahme der bereits erteilten Genehmigungen zu Klagen durch die beteiligten Unternehmen, die teuer für die Bundesregierung werden könnten. Abgesehen davon gibt es kein politisches Interesse in Berlin, durch einen Stopp des Baus zu diesem Zeitpunkt die Beziehungen zu Moskau noch weiter zu verschlechtern. Somit steckt die Bundesregierung in einer Sackgasse. Nur ein Abschluss des Baus kann aus solch einer Perspektive Ruhe bringen. Also weiter auf Zeit spielen?
Der Streit über Nord Stream 2 und das Scheitern der Politik des Aussitzens sind symptomatisch für den internationalen Prestige- und Relevanzverlust Deutschlands. Die Diskussion über dieses Projekt sollte Anlass dafür geben, die aktuell visionsfreie und begrenzt strategische Außenpolitik Deutschlands zu überdenken. Es steht nicht mehr auf dem Spiel als die Frage, ob Deutschland noch dazu in der Lage ist, die EU in der Russland- und Osteuropapolitik zu führen und von Washington bei wichtigen strategischen Fragen ernst genommen zu werden. Deutschland und die EU brauchen eine langfristige Strategie für den Umgang mit korrupten und kleptokratischen russischen Eliten und für die Integration eines Russlands in Europa, das mehr ist als Wladimir Putin. Dafür muss die Bundesregierung in der Lage sein, auf Augenhöhe zu verhandeln und nicht durch die Unterstützung großer Infrastrukturprojekte der aktuellen russischen Führung Einfluss- und Spaltungsmöglichkeiten in der EU zu geben.
Hierfür braucht es militärische Handlungsfähigkeit, die Bereitschaft in der Nachbarschaft und international wenn nötig, im EU- und NATO-Rahmen zu intervenieren sowie eine klare Definition, welche Verantwortung Deutschland und die EU in dieser sich wandelnden Welt spielen können und wollen. Wenn Berlin mit der russischen Führung auf Augenhöhe verhandeln möchte, muss die Bundesregierung bereit sein, auch Nord Stream 2 als Verhandlungsmasse für Erfolge bei der Befriedung des Donbass zu nutzen.
Je länger sich deutsche Akteure internationalen Realitäten verweigern, keine strategische Neuaufstellung ihrer Politik gegenüber Russland, China und den USA ernsthaft angehen, umso irrelevanter werden Deutschland und die EU im strategischen Machtwettbewerb der multipolaren Weltordnung. Russland ist ein strategischer Gegner, der versucht, die EU von innen und in ihrer Nachbarschaft zu schwächen. Die EU ist kein Entwicklungsmodell mehr für die russischen Eliten, sie erscheint aus Moskauer Perspektive handlungsunfähig. Wozu Kompromisse mit einem schwachen Gegner eingehen, wenn dieser sogar das eigene finanzielle Überleben sichert? Die Aufgabe der deutschen außenpolitischen Akteure ist es jetzt, dieses Vakuum zu füllen. Der Streit über Nord Stream 2 sollte Anlass sein, grundsätzlich umzudenken und diese Sackgasse zu verlassen. Nur eine neu aufgestellte Europäische Union mit einem handlungsfähigen Deutschland wird den globalen Herausforderungen auch gegenüber Moskau und Washington gerecht werden.