Vor dem Hintergrund der geopolitischen Veränderungen und Bedrohungen des Westens sollte das nukleare Abschreckungspotenzial der NATO dringend angepasst werden. |
Zum einen muss das veraltete Grundlagendokument der NATO von 2012 zeitnah aktualisiert werden. Das nächste NATO-Gipfeltreffen im Juni 2025 in Den Haag könnte als Rahmen für das Anstoßen eines solchen Diskussionsprozesses dienen. |
Zum anderen sollten für die Verbesserung der nuklearen Abschreckungskapazitäten der NATO folgende Schritte eingeleitet werden: Erstens Erhöhung der Anzahl der in Europa gelagerten US-Atomwaffen. Zweitens eine Verbreiterung des Waffenspektrums. Drittens eine geografische Ausweitung der Stationierungsorte nach Osteuropa. |
Im Folgenden finden Sie das Executive Summary der Analyse. Die vollständige Publikation mit anschaulichen Infografiken finden Sie hier.
EXECUTIVE SUMMARY
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 und der damit einhergehenden sicherheitspolitischen Wende hat die Bedeutung der nuklearen Abschreckung erheblich zugenommen. Russlands nukleare Drohungen haben einen Krieg dieses Ausmaßes erst ermöglicht, da sie externe Akteure davon abgehalten haben, militärisch in den Konflikt einzugreifen. Gleichzeitig tragen die Aufrüstung Chinas, die nuklearen Ambitionen Irans und die Aggressivität Nordkoreas zu einem generellen Bedeutungsgewinn von Kernwaffen bei.
Es offenbart sich folglich eine Gefahrenlage, auf die die nukleare Abschreckung der NATO nicht ausreichend vorbereitet war und ist. Die noch vorhandenen US-Atombomben des Typs B61 basieren nicht auf strategischen Erwägungen, sondern sind Waffen, die nach den Abrüstungsrunden der 1990er Jahre übriggeblieben sind. Für eine nukleare Konfrontation mit Russland sind sie kaum geeignet, da die wenigen Lagerstätten verwundbar sind und die Trägerflugzeuge im Einsatzfall von der russischen Luftabwehr bedroht wären. Auch die Stationierungsorte in Europa – Deutschland, Belgien, die Niederlande, Italien und vermutlich die Türkei – basieren noch auf der strategischen Logik des Kalten Krieges, als Europa an der innerdeutschen Grenze geteilt war. Heute aber sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass auch die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten der NATO angehören.
Darüber hinaus stammt das nuklearstrategische Grundlagendokument der NATO, die „Deterrence and Defence Posture Review“, noch aus dem Jahr 2012 – aus einer Zeit also, als Russland noch als Partner der NATO galt. Dieses Dokument hält fest, dass das NATO-Nuklearpotenzial unter den gegebenen Umständen (2012!) „sound“, sprich solide sei. Eine Einschätzung, die aber schon nach der Krim-Annexion 2014 nicht mehr zutreffen konnte und die seit 2022 vollständig obsolet ist.
Daraus ergeben sich zwei konkrete Anforderungen an die NATO:
Zum einen muss sie dringend einen nuklearstrategischen Diskussionsprozess einleiten, der zu einem neuen Grundlagendokument führt. Das Mandat hierzu könnten die Staats- und Regierungschefs der NATO auf dem nächsten Gipfeltreffen im Juni 2025 in Den Haag erteilen. Da aufgrund des Krieges in der Ukraine kein Zieldatum für eine neue „Nuclear Review“ bestimmt werden kann, sollten sich die Staats- und Regierungschefs regelmäßig über die Fortschritte berichten lassen.
Zum anderen müssen im Rahmen des neuen Grundlagendokuments Maßnahmen zur Verbesserung der nuklearen Abschreckungskapazitäten der NATO identifiziert und beschlossen werden. Drei davon sollten zügig angegangen werden:
- Eine Erhöhung Anzahl der derzeit in Europa gelagerten amerikanischen Atomwaffen. Deren Bestand ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich reduziert worden, während die Lagerstätten, die sogenannten Vaults, erhalten geblieben sind. Die USA werden künftig über etwa 480 modernisierte B61-12 Bomben verfügen, von denen ein nicht geringer Teil nach Europa verlegt werden könnte. Der Vorteil wäre, dass die USA so ein Zeichen für ihr nukleares Commitment gegenüber der NATO setzen würden. Gleichzeitig ginge ein deutliches Abschreckungssignal an Russland. Darüber hinaus wäre eine zahlenmäßige Erhöhung bereits bestehender Waffen politisch leichter durchzusetzen. Von Nachteil wäre, dass die NATO weiter nur auf einen Waffentypen setzt, dessen strategischer Nutzen fragwürdig ist.
- Eine Verbreiterung des Waffenspektrums, um flexiblere nukleare Reaktionsmöglichkeiten zu erhalten. Die Stationierung von luftgestützten Marschflugkörpern für die F-35 Kampfflugzeuge wäre eine Option, um ein verlässlicheres Nuklearpotenzial zu bekommen. Allerdings müssten diese Systeme erst entwickelt werden, was bis zu zehn Jahren in Anspruch nehmen könnte. Rasch verfügbar wäre der bodengestützte US-Marschflugkörper Tomahawk, der in seiner konventionellen Version ab 2026 in Deutschland stationiert werden soll. Dieses System kann mit dem W80-Nuklearsprengkopf ausgestattet werden. Vorteile wären die geringere Verwundbarkeit der mit mobilen Abschussrampen ausgestatteten Marschflugkörper sowie die größere Eindringfähigkeit dieser Systeme. Nachteilig wäre, dass die Stationierung politisch schwieriger durchzusetzen wäre.
- Eine geografische Ausweitung der Stationierungsorte nach Osteuropa – entweder für die bestehenden B61-Bomben oder für neue nukleare Systeme. Da die NATO-Russland-Grundakte von 1997 (NATO-Russia Founding Act), die solche Stationierungen untersagte, von Russland eklatant gebrochen wurde, stellt sie kein Hindernis mehr da. Bislang hat Polen ein ernstes Interesse an einer Teilnahme am „Nuclear Sharing“, sprich der nuklearen Teilhabe der NATO, gezeigt. Dies könnte zum einen durch die permanente Stationierung von amerikanischen Kernwaffen auf polnischem Boden geschehen, wobei derzeit nicht absehbar ist, ob die USA hierzu bereit sind und ob sich ein Konsens in der NATO finden lässt. Alternativ könnten die F-35 Kampfflugzeuge, die Polen ab 2025 erhält, nuklear zertifiziert und mit dem Transport von Kernwaffen befähigt werden. Damit könnten im Krisenfall Kernwaffen auf polnische Luftwaffenbasen verlegt werden. Umgekehrt könnten polnische F-35 Flugzeuge im Krisenfall bestehende NATO-Kernwaffenlager anfliegen, um den dortigen Bestand an Trägerflugzeugen zu erhöhen. Vorteilhaft wäre, dass eine größere Anzahl von Kernwaffenlagern – ob permanent oder temporär – eine Angriffsplanung Russlands verkomplizieren würde, da es schwerer wäre, all diese Ziele frühzeitig auszuschalten. Auch würde man der unmittelbaren Bedrohung durch Russland sichtbar Rechnung tragen. Gegen diese Option könnten die hohen Kosten einer permanenten Stationierung in Osteuropa sprechen.
1. Warum die Zeit drängt: drei nuklearstrategische Veränderungen
Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Kernelemente internationaler Sicherheitspolitik nachhaltig verändert und ein grundlegendes Umdenken der NATO nötig gemacht. Das gilt auch für den Bereich der nuklearen Abschreckung, in dem drei Entwicklungen wesentlich sind: der Bedeutungszuwachs von Kernwaffen, der nukleare Aufstieg Chinas und die „Achse der Autokratien“.
Der Bedeutungszuwachs von Kernwaffen
Russland hat sich als weltweit zweitgrößter Nuklearstaat nach den USA vom einstigen Partner der NATO zu einem feindlichen Akteur entwickelt, der seine Großmachtambitionen gewaltsam verfolgt und den Kampf gegen „den Westen“ zur zentralen innenpolitischen Legitimationsressource des „Systems Putin“ erhoben hat. Kernwaffen waren der Grund, aus dem die militärische Unterstützung für die Ukraine anfangs eher zögerlich anlief, wollte man doch Russland keinen Grund für eine nukleare Eskalation geben. Erst nachdem deutlich wurde, dass Russland offenbar selbst vor diesem Schritt zurückschreckt, erhielt die Ukraine mehr Waffen mit größerer Reichweite.
Vor diesem Hintergrund ist die NATO wieder zu ihrer klassischen Rolle als Instrument westlicher Selbstbehauptung zurückgekehrt, die mit der Kombination aus glaubwürdiger Abschreckung und wirksamer Verteidigung die Sicherheit und territoriale Integrität ihrer Mitglieder gewährleistet.
Der nukleare Aufstieg Chinas
Die Biden-Regierung hat, wie verschiedene Medien im Land berichteten, im März 2024 die nukleare Abschreckungsstrategie der USA mit Blick auf Chinas wachsendes Atomwaffenarsenal ausgeweitet.
Hinzu kommt, dass sich China seit Kriegsbeginn – wenn auch nicht offiziell – durch enge Beziehungen an die Seite Russlands gestellt und damit die künftigen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit nuklearer Abschreckung erhöht. Waren die amerikanischen Kernwaffen zur Zeit des Ost-West-Konflikts vor allem bilateral auf den Konflikt zwischen der NATO und der Sowjetunion ausgerichtet, bildet die Volksrepublik künftig einen dritten Pol, der mit Blick auf ein mögliches militärisches Vorgehen gegen die USA oder gegen Verbündete der USA im asiatisch-pazifischen Raum abgeschreckt werden muss.
Das Problem der steigenden Anforderungen an die nukleare Abschreckung stellt sich künftig nicht nur für die Führungsmacht USA, sondern auch für die beiden anderen NATO-Nuklearmächte Frankreich und Großbritannien. Sie verfolgen ebenfalls vitale Interessen im asiatisch-pazifischen Raum, einer Region, in der Frankreich sogar über eigenes Staatsgebiet verfügt. Die Herausforderungen für die USA sind aber ungleich größer, da sie sowohl den europäischen Verbündeten im Rahmen der NATO, also auch ihren asiatisch-pazifischen Partnern explizite nukleare Schutzversprechen (Commitments) gegeben haben, die mit einem glaubwürdigen amerikanischen Nukleararsenal unterfüttert sein müssen. Nach amerikanischem Verständnis muss deshalb Abschreckung nicht nur geografisch, sondern auch konzeptionell weiter gefasst werden. Aus diesem Grund fordert die im Oktober 2022 erschienene „National Defense Strategy“ eine „Integrated Deterrence“, um auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch China reagieren zu können.
Allerdings gilt das Bild eines tripolaren Abschreckungssystems nur begrenzt, da es sich nicht um gleichwertige Pole handelt. China hat in den vergangenen Jahren seine konventionellen Kapazitäten gerade im maritimen Bereich dramatisch aufgerüstet und baut auch sein Kernwaffenarsenal kräftig aus. Russland hingegen wird als Folge des Krieges konventionell immer schwächer, da es gerade moderne Waffensysteme deutlich schneller verliert, als es sie produzieren kann. Die aktuelle Kriegswirtschaft sowie die punktuelle Hilfe durch andere Regime erlauben Russland zwar, den Krieg noch lange fortzuführen – auch unter Rückgriff auf ein großes Reservoir alter Waffen und Inkaufnahme gewaltiger eigener Opferzahlen –, allerdings ruiniert sich Russland langfristig sowohl wirtschaftlich als auch militärisch selbst. Damit entwickelt es sich zu einem konventionell schwachen Staat, der – solange er wirtschaftlich in der Lage dazu ist – zumindest nuklear hoch gerüstet bleibt. Ohne starke konventionelle Streitkräfte verlieren aber auch große nukleare Potenziale an Wert, da sie nur noch der Abschreckung eines Angriffs auf das eigene Territorium dienen können und nicht mehr, wie derzeit, zur Absicherung offensiver Operationen. Verschlechtern sich die wirtschaftlichen Aussichten Russlands als Folge des Krieges und vor allem der Sanktionen weiter, so würde Russland zu einem immer schwächeren Pol, der sich zunehmend an China anlehnen müsste, wodurch sich die Abschreckungsbeziehungen wieder in Richtung eines bipolaren Systems entwickeln würden.
Die „Achse der Autokratien“
Im Zuge des Krieges gegen die Ukraine hat sich immer deutlicher das Zusammenspiel einer Reihe autokratischer beziehungsweise diktatorischer Staaten in Form einer „Achse der Autokratien“ herauskristallisiert. Neben Russland und China gehören hierzu auch Nordkorea, Iran, Syrien, Venezuela und Nicaragua. Politisch hat dieser lockere Zusammenschluss zwar eher begrenzte Bedeutung, da es sich – mit Ausnahme Chinas – vor allem um eine „Achse der Armen“ handelt. Dennoch ist diese für Moskau bedeutsam, da über Länder wie Nordkorea oder Iran wichtige Waffen- und Munitionslieferungen ins Land gelangen. Im Gegenzug liefert Russland Energie sowie rüstungstechnisches Knowhow dorthin, das gerade Nordkorea besonders zugutekommt. Gleichzeitig wird die ohnehin bereits löchrige internationale Front gegen die atomaren Aufrüstungspläne Nordkoreas und Irans weiter aufgeweicht. Iran dürfte, sofern es wirklich nach eigenen Kernwaffen strebt, diesem Ziel deutlich näherkommen, und Nordkorea noch schneller seine nuklearen Fähigkeiten in ein einsetzbares Atomwaffenarsenal verwandeln.
Die Konsequenzen dieser Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum sind bereits sichtbar. In Südkorea denkt die Regierung immer lauter über die Beschaffung eigener Kernwaffen nach und hat dabei den Rückhalt eines Großteils der Bevölkerung. Würde dieses Vorhaben umgesetzt, könnte es weitere Länder in der Region zur nuklearen Aufrüstung ermutigen und die Anforderungen an eine glaubhafte nukleare Abschreckung der USA weiter verkomplizieren.
2. Die nukleare Abschreckung der NATO
Die genannten nuklearstrategischen Veränderungen der vergangenen zweieinhalb Jahre haben gravierende Folgen für die Abschreckung der NATO. Wie aber kann diese an die künftigen Anforderungen angepasst werden?
Spricht man von den nuklearen Fähigkeiten des Bündnisses, bezieht sich das vor allem auf die in Europa stationierten Kernwaffen der USA. Während Mitte der 1970er Jahre über 7.000 amerikanische Kernwaffen unterschiedlichen Typs (Bomben, Raketen, Artilleriegeschütze, nukleare Minen) in Europa gelagert waren, wurde dieser Bestand in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges infolge verschiedener Abrüstungsabkommen und einseitiger Schritte der USA auf ein Minimum reduziert. Heute besteht die nukleare Abschreckungsfähigkeit der NATO aus geschätzt 100 Atombomben vom Typ B-61, die in den zuvor erwähnten NATO-Staaten bereitgehalten werden.
Allerdings unterliegen derartige Angaben der Geheimhaltung und sind deshalb nur als grobe Richtwerte zu verstehen. Zwar werden die Regierungen der Stationierungsländer regelmäßig von den USA über die Waffenzahlen in den Depots informiert, allerdings sind diese nicht nachprüfbar. Amerikanische Kernwaffenlager sind abgeschlossene Bereiche innerhalb der Militärbasen der Stationierungsländer, zu denen ausschließlich US-Personal Zugang hat. Es ist damit nicht zu kontrollieren, ob sich in den einzelnen Waffenbunkern beziehungsweise Vaults tatsächlich einsatzfähige Bomben befinden oder Attrappen, die zu Trainingszwecken verwandt werden. Auch ist umstritten, ob sich in dem türkischen Stützpunkt Incirlik überhaupt noch amerikanische Kernwaffen befinden, da es hinsichtlich der dort einst stationierten, fünfzig B61-Bomben immer wieder Sicherheitsbedenken gegeben hatte und USA die Avancen des türkischen Präsidenten Erdogan gegenüber Russland stets mit Sorge beobachtet haben.
Die in Europa gelagerten Bomben bilden den Kern des „Nuclear Sharing“ der NATO, in dem die Stationierungsländer die Trägerflugzeuge bereitstellen – künftig einheitlich das F-35 Kampfflugzeug –, während die USA über die Atomwaffen verfügen. Im Einsatzfall würden die Bomben nach Freigabe durch den amerikanischen Präsidenten von Piloten der Stationierungsländer ins Zielgebiet gebracht. Die Details dieser Vereinbarungen zur nuklearen Teilhabe sind in den sogenannten Programs of Cooperation (PoC) festgehalten. Die B61-Bomben werden derzeit technisch überarbeitet und modernisiert und schrittweise als B61-12 in Europa stationiert. Erste Trainings mit dem neuen Bombentyp fanden Ende 2023 im niederländischen Atomwaffenstützpunkt Volkel statt.
Die Kernwaffen Frankreichs und Großbritanniens sind nicht Teil der nuklearen Teilhabe. Stattdessen hat die NATO im Jahr 1974 im kanadischen Ottawa deren Rolle erstmals definiert und festgestellt, dass sie eine „… deterrent role of their own contributing to the overall strengthening of the deterrence of the Alliance …” erfüllen. Das heißt, sie haben eine eigenständige Abschreckungsrolle, die zur generellen Stärkung der Abschreckungsfähigkeit der Allianz beiträgt, da sie zwei unabhängigen Entscheidungszentren unterliegen und dadurch die Unsicherheiten für einen Angreifer erhöhen. Dieser Wortlaut der Ottawa-Erklärung findet sich bis heute in den meisten NATO-Dokumenten, die sich mit der nuklearen Abschreckung befassen.
Der Zweck der nuklearen Teilhabe ist im hohen Maße politisch. Die Stationierung amerikanischer Kernwaffen in Europa symbolisierte seit jeher das nukleare Sicherheitsversprechen der USA für ihre NATO-Verbündeten. Umgekehrt waren sie ein Zeichen der europäischen Bereitschaft zur nuklearen Risiko-Teilung, wären doch amerikanische Atomwaffenlager in Europa vermutlich bevorzugte Ziele für Nuklearschläge eines Angreifers. Sie stärken damit die Idee der „erweiterten Abschreckung“ der USA für ihre nicht-nuklearen Verbündeten.
Allerdings ist für die erweiterte Abschreckung eine physische Präsenz amerikanischer Kernwaffen auf dem Boden der Verbündeten nicht unbedingt zwingend. Der atomare Schutzschirm der USA erstreckt sich auch über Länder wie Japan oder Südkorea, denen die USA Sicherheitszusagen gegeben hat, ohne dort eigene Kernwaffen zu stationieren.
Darüber hinaus sind die Bomben Gegenstand der nuklearen Konsultationen im Rahmen der Nuklearen Planungsgruppe der NATO (NPG), in der sich die NATO-Mitglieder (mit Ausnahme von Frankreich) über nukleare Kapazitäten, Strategien oder Zielplanungen austauschen. In den Beratungen der NPG kommt den Stationierungsländern stets ein besonderes Gewicht zu.
Neben diesen politischen Funktionen haben die amerikanischen Atombomben auch konkrete Aufgaben im Rahmen des sogenannten nuklearen „Messaging“. Durch die Erhöhung der Bereitschaft der Bomben in den Lagern oder durch die zeitweise Verlagerung der Bestände können konkrete Abschreckungsdrohungen an einen Gegner kommuniziert werden. Der Umstand, dass der NATO-Generalsekretär im Juni 2024 in einem Interview über die Möglichkeit sprach, mehr B61-Bomben in den Bereitschaftszustand zu versetzen, war als klares Abschreckungssignal an Russland zu verstehen.
Eine weitere Rolle, die den US-Atombomben in Europa gerade in den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges zugeschrieben wurde, war die eines „Platzhalters“, falls aufgrund einer Verschlechterung der Bedrohungslage in Europa Kernwaffen wieder eine größere Bedeutung zukäme. Das Argument war, dass es bei einem völligen Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus Europa politisch und militärisch ungleich schwieriger werden würde, erneut Kernwaffen nach Europa zurückzuverlagern. Eine kleine nukleare Präsenz hingegen, mit funktionsfähigen Waffen, Lagerstätten und der vorhandenen Expertise auf allen Seiten, könnte im Bedarfsfall leichter aufgestockt werden und würde vermutlich auf weniger politisch-gesellschaftlichen Widerstand treffen. Dieses Motiv verlor allerdings zunehmend an Relevanz, je mehr die NATO an eine friedliche Kooperation mit Russland glaubte.
Die nuklearen Schwächen der NATO
Die nukleare Abschreckung der NATO ist seit langem von Widersprüchen und Schwächen gekennzeichnet, die sowohl das Waffenarsenal als auch deren strategische Begründung in den entsprechenden NATO-Dokumenten betreffen. Spätestens seit dem Krieg gegen die Ukraine ist aber offensichtlich, dass diese Schwächen nicht länger hingenommen werden können.
Mit Blick auf das Waffenarsenal liegt das Problem vor allem darin, dass die heutige Präsenz amerikanischer B61-Bomben als Kern der NATO-Abschreckung nicht das Resultat rationaler nuklearstrategischer Erwägungen gewesen ist. Es handelt sich dabei vielehmer um die Waffen, die von keiner der Abrüstungsrunden der 1990er Jahre erfasst wurden und am Ende stationiert blieben. Dadurch sollte eine völlige Denuklearisierung Europas vermieden und dem genannten Argument des „Platzhalters“ Rechnung getragen werden. Die strategische Logik der Bomben entstammt der Zeit des Kalten Krieges, als sie als Teil eines breit gefächerten Waffenpotenzials vor allem für Ziele in den Staaten des Warschauer Paktes vorgesehen waren. Russisches Staatsgebiet stand aufgrund der begrenzten Reichweite der Trägerflugzeuge nicht auf der Zielliste der B61. Um russisches Kernland bedrohen zu können, hatte sich die NATO im Rahmen des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 auf die Beschaffung der nuklearen Mittelstreckenwaffen verständigt.
Heute gehören die Staaten des einstigen Warschauer Paktes der NATO an und die Bedrohung in Europa geht ausschließlich von Russland aus. Würde die NATO heute ihr Nuklearpotenzial grundlegend neu und ohne Vorbedingungen gestalten können, dann würde sie sich kaum für Atombomben entscheiden, die mit Trägerflugzeugen bis nach Russland gebracht werden müssten. Diese wären im Einsatzfall der gegnerischen Luftabwehr ausgesetzt und damit, anders als Raketen oder Marschflugkörper, überaus verwundbar. Bestenfalls könnte als Argument für ihre Existenz vorgebracht werden, dass Flugzeuge – anders als Raketen – von einem Einsatz zurückgerufen werden können, falls dieser sich als Irrtum erweisen sollte. Sonderlich überzeugend ist das allerdings nicht. Weit plausibler wäre es, im Falle eines begrenzten Kernwaffeneinsatzes auf amerikanische U-Boot-Raketen vom Typ Trident zurückzugreifen, die teilweise Sprengköpfe von sehr geringer Stärke tragen, etwa den W76-2 Gefechtskopf.
Diese Inkonsistenzen spielten in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts keine besondere Rolle. Man hielt an den Bomben vor allem aus symbolischen Gründen fest, verringerte ihre Anzahl aber weitgehend unbemerkt weiter. Dass die USA im Jahr 2007 einen der beiden nuklearen Stationierungsorte in Deutschland völlig auflösten und alle 130 der auf ihrem Stützpunkt Ramstein vorhandenen Atombomben zurück in die USA verlagerten, wurde kaum zur Kenntnis genommen. Ein Jahr später wurden auch die etwa 110 Bomben aus dem britischen Luftwaffenstützpunkt Lakenheath in die USA zurückverlegt, sodass keine amerikanischen Kernwaffen unter US-Kontrolle mehr in Großbritannien gelagert waren.
Die Erosion der nuklearen Abschreckung der NATO ging sogar so weit, dass die Bundesregierung im Jahr 2009 den Abzug aller amerikanischen Kernwaffen aus Deutschland forderte. Nur mit Mühe gelang es der NATO, die sich daraus ergebende nukleare Abzugsdebatte einzuhegen, indem sie – wie im Bündnis bei gravierenden Streitfällen üblich – ein Komitee beauftragte, die nuklearen Abschreckungsfähigkeiten der Allianz zu bewerten und Schlussfolgerungen vorzulegen. Im Jahr 2012 erschienen diese Folgerungen als „Deterrence and Defence Posture Review“ (DDPR) und wurden auf dem NATO-Gipfeltreffen in Chicago als nukleares Grundlagendokument verabschiedet.
Anders als von den deutschen Abzugsbefürwortern erhofft, bekräftigte der Report, dass die NATO eine „nukleare Allianz“ bleiben werde und dafür einen Mix aus konventionellen und nuklearen Waffen bereithalten müsse. In Paragraf 8 stellte der Report heraus, dass die Kernwaffen der NATO derzeit den Anforderungen einer effektiven Abschreckung und Verteidigung entsprechen. Weiter heißt es im Dokument, der Mix der militärischen Fähigkeiten sowie die entsprechenden Planungen seien unter den gegebenen Umständen „sound“, also solide.
Hier liegt nun das zweite Problem des nuklearen Abschreckungskonzepts der NATO. Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 hat das Verhältnis zwischen der NATO und Russland grundlegend verändert. Eine Abschreckungsfähigkeit, die 2012 – also zur Zeit der Partnerschaft mit Russland – als „solide“ bezeichnet wurde, konnte es 2014 nicht mehr sein. Zwar nahm die NATO eine Reihe von Anpassungen ihres Nuklearpotenzials vor, indem sie dessen Einsatzbereitschaft und die Zahl der nuklearen Übungen erhöhte. Auch stieg die Zahl der NATO-Staaten, die einen möglichen Kernwaffeneinsatz der NATO mit konventionellen Mitteln (Luftbetankung der nuklearen Trägerflugzeuge, Einsätze gegen die gegnerische Luftabwehr etc.) unterstützen würden. Der DDPR blieb aber unangetastet auf dem Stand von 2012. Auch wenn die NATO 2016 zwei neue nukleare Dokumente verabschiedete, nämlich „The Principles and Key Tenets of Credible Deterrence and Defence“ und „The Alliance’s Strengthened Deterrence and Defence Posture“, gilt: Beide Papiere sind als geheim eingestuft und können deshalb öffentlich nicht als Beleg für eine schlüssige Nuklearstrategie herhalten. Auch wurde der DDPR bis heute nicht als überholt oder ungültig erklärt.
Nach Kriegsbeginn 2022 erfolgten weitere Veränderungen im Nuklearbereich. So wurde etwa der NATO SACEUR (Supreme Allied Commander Europe) erstmals wieder ermächtigt, in Friedenszeiten konkrete Nuklearplanungen zu erstellen. Das nukleare Grundlagendokument der NATO blieb weiter unverändert, obgleich die im DDPR von 2012 vertretene Auffassung von einem effektiven Abschreckungspotenzial nach Russlands Angriff de facto zur Farce wurde.
Somit hat die NATO in den vergangenen Jahren zwar einige Verbesserungen bei der nuklearen „Hardware“ und bei den entsprechenden Verfahren vorgenommen. Was allerdings nach wie vor fehlt, ist die nuklearstrategische „Software“, also ein politisch-strategisches Grundlagendokument, das einen Konsens in der NATO über den Zweck der nuklearen Abschreckung in der Post-2022-Ära festschreibt und damit das vorhandene Waffenpotenzial in einen Bezug zum Zweck setzt. Nur auf der Basis eines solchen Konsensdokuments ließe sich die künftige Größe und Ausgestaltung des NATO-Nuklearpotenzials bestimmen.
Das aktuelle „Strategic Concept“, das die NATO nach 12 Jahren im Juni 2022 auf dem Gipfel von Madrid verabschiedet hat, füllt diese nuklearstrategische Lücke nicht. Zwar wurde in diesem obersten Strategiedokument des Bündnisses ausführlich zur nuklearen Abschreckung Stellung genommen und festgestellt, dass die NATO alle notwendigen Schritte unternehmen werde, um die Glaubwürdigkeit, Sicherheit und Effektivität der Abschreckung sicherzustellen. Es wurde jedoch nicht definiert, welcher Schritte es bedarf, um die nukleare Abschreckung effektiv und glaubwürdig zu halten. Auf dem Jubiläumsgipfel von Washington im Juli 2024 ist die NATO noch einen Schritt weiter gegangen und hat – zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren – explizit erklärt, dass eine Modernisierung des Nuklearpotenzials vorstellbar sei. Auch hier bleibt jedoch offen, wie eine solche Modernisierung konkret aussehen solle.
Donald Trump und die nukleare Abschreckung
Mit der Wiederwahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten im November 2024 stellt sich die Frage nach der Verlässlichkeit der amerikanischen Sicherheitszusagen für die NATO-Verbündeten und nach der Glaubwürdigkeit der erweiterten nuklearen Abschreckung. Trumps Wahlkampf-Aussage vom Februar 2024, Russland sogar zum Angriff auf die NATO zu ermutigen, sollten die Alliierten ihre Rechnungen nicht bezahlen, hat in Europa die Alarmglocken klingeln lassen.
Nun ist es grundsätzlich schwierig, aus den gelegentlich konfusen Äußerungen von Donald Trump Rückschlüsse auf die tatsächliche Politik der USA zu ziehen. Allerdings sprechen mindestens drei Gründe gegen die Befürchtung, dass er den nuklearen Schutz für die Verbündeten in Europa oder Asien beenden würde.
Erstens wendet sich Trumps Kritik nicht gegen Bündnisse per se, sondern gegen Bündnispartner, die sich einer fairen Lastenteilung widersetzen und weiter auf die Subventionierung ihrer Sicherheit durch die USA setzen. Mit dieser berechtigten Kritik unterscheidet sich Trump nur in der Schärfe der Wortwahl, nicht aber im Inhalt von den Klagen früherer US-Präsidenten.
Zweitens hat Trump in seiner ersten Amtszeit an der nuklearen Abschreckung festgehalten und diese sogar weiter ausgebaut. Der 2018 unter Trump verabschiedete „Nuclear Posture Review“ bekannte sich klar zu den amerikanischen nuklearen Bündnisverspechen und verkündete – gegen die damalige Kritik der Demokraten – die Beschaffung neuer Kernwaffentypen, um die Flexibilität der nuklearen Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen.
Drittens herrscht in den USA nach wie vor ein breiter überparteilicher Konsens zur Notwendigkeit nuklearer Waffen und zur erweiterten nuklearen Abschreckung. Im Oktober 2023 präsentierte die überparteiliche „Congressional Commission on the Strategic Posture of the United States“ ihren Abschlussbericht, in dem sie sich einstimmig zur nuklearen Abschreckung bekennt und neue nukleare Fähigkeiten für eine glaubwürdige Abschreckung in Europa und im Indo-Pazifik fordert.
Der Erhalt einer effizienten NATO-Abschreckung ist damit vor allem von der Bereitschaft der Verbündeten abhängig, ihren fairen Beitrag für die gemeinsame Verteidigung zu leisten und die USA militärisch zu entlasten. Das sollte vor allem den NATO-Mitgliedern zu denken geben, die nach wie vor deutlich unter dem Zwei-Prozent-Ziel für die Verteidigungsausgaben rangieren und Bündnissolidarität eher als Lippenbekenntnis verstehen.
3. Was zu tun ist: Wege zu einer glaubwürdigen nuklearen Abschreckung
Will die NATO über ihre allgemeinen Absichtserklärungen hinaus zu einem zukunftsfähigen Abschreckungskonsens gelangen, so muss sie sich einer Reihe von politisch heiklen und umstrittenen Fragen stellen. Hierzu gehört erstens die Debatte darüber, ob ihr derzeitiges Nuklearpotenzial – sprich auch die in Europa stationierten Atombomben – ausreicht, um eine glaubwürdige Abschreckung zu gewährleisten. Diskutiert werden muss zweitens, ob weiterhin auf ein nukleares Arsenal Verlass ist, das nur aus einem einzigen Waffentyp besteht. Und drittens sollte hinterfragt werden, ob die Lagerung der US-Atomwaffen in den derzeitigen Stationierungsländern heute noch strategisch schlüssig ist, oder ob diese nicht näher an den Grenzen zu Russland stationiert werden müssten. Diese Frage stellt sich erst recht mit Blick auf einen zukünftigen NATO-Beitritt der Ukraine.
Die Erarbeitung eines neuen nuklearstrategischen Grundsatzdokuments der NATO
Dass Antworten darauf nicht einfach sind, ist angesichts der teils sehr unterschiedlichen geostrategischen Kulturen, Gegebenheiten und legitimen Sicherheitsinteressen der Bündnispartner nicht verwunderlich. Eine vordringliche Aufgabe der NATO ist deshalb, einen allianzinternen Diskussionsprozess einzuleiten, in dem alle Mitgliedstaaten ihre Positionen einbringen können. Nur durch eine systematische nukleare Debatte, die über die derzeit stattfindenden eher kursorischen Diskussionen unter einigen Mitgliedern hinausgeht, kann ein neues nuklearstrategisches Grundsatzdokument erarbeitet werden. Diese Beratungen müssen außerhalb der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), der alle NATO-Staaten bis auf Frankreich angehören, stattfinden, damit auch die Regierung in Paris einbezogen werden kann. Das Mandat für eine Erarbeitung eines solchen Strategiedokuments sollte von den Staats- und Regierungschefs der NATO erteilt werden. Ein entsprechender Beschluss zum Beginn der Debatte könnte auf dem kommenden NATO-Gipfeltreffen im Juni 2025 in Den Haag gefasst werden.
Als Grundlage der Diskussion kann der vorliegende DDPR dienen, der aber in seiner inhaltlichen Dimension ausgeweitet werden muss. In dem Dokument von 2012 ging es der NATO vor allem um die Rechtfertigung des bestehenden Nuklearpotenzials, um den möglichen Einfluss einer funktionierenden Raketenabwehr auf die Abschreckungslogik insgesamt sowie um die Perspektiven für Rüstungskontrolle und Abrüstung. In einem neuen Deterrence Review müsste nicht nur die unmittelbare Bedrohung durch Russland betrachtet werden, sondern auch die nuklearrelevanten Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum, die Option eines nuklearen Iran (und die Folgen für die Verbreitung von Kernwaffen in der Region) sowie ein möglicher NATO-Beitritt der Ukraine. Auch müssen die Folgen neuer technischer Entwicklungen wie künstliche Intelligenz und Quantentechnologie untersucht werden, da sie einen Einfluss auf die nukleare Sicherheit und die nuklearen Einsatzverfahren haben können.
Wenn auch das Ergebnis dieser Strategiedebatte nicht vorhersehbar ist, so kann doch bereits ein Resultat ausgeschlossen werden: das Nuklearpotenzial der NATO und seine strategische Begründung so zu belassen, wie es ist. Stattdessen sind grundsätzlich drei Optionen für eine Verbesserung der NATO-Abschreckungsfähigkeit denkbar:
-
eine Erhöhung der Anzahl der in Europa gelagerten Nuklearwaffen,
-
eine Veränderung des Nuklearpotenzials
-
eine Verlagerung der Waffen an die Ostgrenzen des Bündnisses.
Option I: Eine Erhöhung der Anzahl der in Europa gelagerten US-Kernwaffen
Die Anzahl der amerikanischen Kernwaffen in europäischen Stationierungsländern ist in den vergangenen 30 Jahren auf die erwähnten, rund 100 Atombomben reduziert worden. Dies erfolgte unter der Annahme eines kooperativen Russlands und damit eines schwindenden „Bedarfs“. Nachdem sich diese Annahme bereits 2014 als falsch erwiesen hatte, wurde spätestens 2022 klar, dass eine Umkehr des Abrüstungsprozesses unvermeidlich ist. Um das Nuklearpotenzial der NATO zu verstärken, könnten die USA Teile ihres Bestands an B61-Bomben wieder nach Europa zurückverlegen. Da insgesamt etwa 480 modernisierte Bomben des Typs B61-12 geplant sind, gibt es ein ausreichend großes Arsenal für die Verlegung. Die Lagerstätten der abgezogenen Waffen wurden offenbar funktionsfähig gehalten und könnten wieder bestückt werden. Auf dem NATO-Gipfel in Washington im Juli 2024 bestätigte der damalige Generalsekretär Jens Stoltenberg entsprechende Überlegungen innerhalb der Allianz. Auch planen die USA, den britischen Stützpunkt Lakenheath wieder mit der modernisierten Version der B61-Bomben zu bestücken. Gleiches könnte etwa in Ramstein geschehen, wo die Vaults ebenfalls wieder aktiviert werden können.
Die Vorteile solcher Maßnahmen lägen vor allem im politisch-symbolischen Bereich. Gegenüber Russland würde eine deutliche Abschreckungsbotschaft gesendet, während die NATO-Verbündeten dies als Zeichen des nuklearen Versprechens der USA werten würden. Die Verbündeten würden wiederum ihre Bereitschaft zur Lastenteilung signalisieren, da Kernwaffenlager zu bevorzugten Zielen russischer Angriffe würden. Auch wäre eine zahlenmäßige Erhöhung bereits stationierter Waffen politisch leichter durchzusetzen und würde von Teilen der Öffentlichkeit vermutlich kaum wahrgenommen werden.
Allerdings wiegen die Nachteile ebenso schwer. Man würde weiterhin an einem Nuklearpotenzial festhalten, das aus einem einzigen Waffentyp besteht und dessen strategische Logik den politischen und geografischen Realitäten des Kalten Krieges entstammt. Russisches Staatsgebiet könnte trotz der verbesserten Eindringfähigkeit der F-35 Kampfflugzeuge nur unter großen Risiken erreicht werden. Das reduziert in den Augen des Angreifers die Glaubwürdigkeit eines Einsatzes und schwächt damit die Abschreckung insgesamt. Darüber hinaus hat die NATO aufgrund des fehlenden Review-Dokuments, das die Bedrohung definiert und daraus den „Bedarf“ nuklearer Abschreckung ableitet, noch kein Kriterium für die erforderliche Anzahl der zu verlagernden Bomben.
Option II: Eine Veränderung des Kernwaffenarsenals
Die grundlegend veränderte Sicherheitslage in Europa macht eine ebenso grundlegende Verstärkung der nuklearen Abschreckung der NATO erforderlich. Angesichts der konventionellen und nuklearen Bedrohung durch Russland sind flexible nukleare Reaktionsmöglichkeiten erforderlich, um dem Gegner auf allen Eskalationsstufen eines Konflikts eine glaubwürdige Abschreckungsfähigkeit zu signalisieren. Dies ist nur mit einem breiteren Spektrum nicht-strategischer Kernwaffen möglich.
Die USA haben eine solche Verbreiterung des Waffenspektrums bereits eingeleitet. Im Jahr 2018 kündigte Präsident Trump die Entwicklung eines seegestützten nuklearen Marschflugkörpers (SLCM-N) und eines kleineren Nuklearsprengkopfes mit geringer Sprengkraft (W67-2) an, der für ballistische U-Boot-Raketen vorgesehen ist. Die nachfolgende Biden-Administration strich zwar die Mittel für den Marschflugkörper, hielt aber an der Entwicklung des W67-2 Sprengkopfes fest.
Um die nukleare Abschreckung der NATO zu diversifizieren, müssten die USA in Abstimmung mit den Verbündeten zusätzlich zu den gelagerten Bomben weitere Kernwaffentypen in Europa stationieren. Landgestützte Raketen kommen dafür nicht infrage, da die einst in Europa stationierten Pershing-II Raketen in Übereinstimmung mit dem INF-Abrüstungsvertrag von 1987 (Intermediate Nuclear Forces Treaty) unter Aufsicht zerstört wurden. Luftgestützte nukleare Marschflugkörper (ALCMS-N) wären eine Option, allerdings müssten sie für die F-35 Kampfflugzeuge erst entwickelt werden, was bis zu zehn Jahre in Anspruch nehmen könnte.
Am ehesten verfügbar wären landgestützte Marschflugkörper vom Typ Tomahawk mit einer Reichweite von 1.600 Kilometern. Deutschland und die USA hatten im Juli 2024 auf dem NATO-Gipfel in Washington die Stationierung der konventionellen Version dieser Waffen in Deutschland beschlossen, um im Konfliktfall russische Knotenpunkte, Munitionslager oder Militärstützpunkte konventionell angreifen zu können. Perspektivisch kann der Tomahawk auch mit einem W80 Nuklearsprengkopf ausgestattet werden. Einen entsprechenden Beschluss in der NATO vorausgesetzt, könnten diese Waffen vergleichsweise rasch in den europäischen Mitgliedsländern stationiert werden, die sich zu einem solchen Schritt bereiterklären.
Die Vorteile eines solchen Schrittes lägen darin, dass die Tomahawks über mobile Startrampen verfügen und keine festen Ziele bieten. Auch ist die Eindringfähigkeit von Marschflugkörpern deutlich höher als die von Flugzeugen. Damit würde die NATO über eine weniger verwundbare und verlässlichere nukleare Reaktionsmöglichkeit verfügen. Auch würde so ein deutliches Signal an Russland gesendet werden und die Allianz zeigen, dass sie sich nicht von Moskaus nuklearen Drohungen beeindrucken lässt.
Nachteile
Die Nachteile lägen vor allem im politischen Bereich, da eine solche Stationierungsentscheidung öffentliche Proteste in den Stationierungsländern nach sich ziehen könnte. Bemerkenswert war allerdings, dass die deutsche Entscheidung zur Stationierung der konventionellen Tomahawks kaum breite öffentliche Reaktionen ausgelöst hatte. Die punktuell geäußerte Kritik lag auch darin begründet, dass der deutsch-amerikanische Beschluss zur Stationierung von der Bundesregierung nicht öffentlich kommuniziert oder begründet worden war.
Option III: Anpassung der Stationierungsorte
Unabhängig von der Größe und Ausgestaltung des Nuklearpotenzials der NATO stellt sich die Frage, wo diese Waffen in Europa zukünftig stationiert sein sollten. Wie die B61-Bomben selbst basiert auch deren geografische Verteilung noch auf der Logik des Kalten Krieges, welche durch die Zweiteilung Europas an der innerdeutschen Grenze gekennzeichnet war. Diese wurde zwar mit dem Fall der Berliner Mauer obsolet, allerdings verpflichtete sich die NATO mit der „NATO-Russland-Grundakte“ von 1997, keine Kernwaffen auf dem Territorium der neuen Mitgliedsländer in Osteuropa zu stationieren. Somit beließ man die Bomben in den existierenden Lagern in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Italien, Großbritannien (bis 2008) und der Türkei.
Bereits nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 plädierten einige osteuropäische NATO-Mitglieder für eine Auflösung der Grundakte, der Russlands großflächiger Krieg in der Ukraine zuletzt jegliche Grundlage entzogen hat. Auch wenn das Abkommen weiterhin formal existiert, fühlen sich die meisten NATO-Mitglieder nicht mehr daran gebunden. Damit wäre auch eine Stationierung von Kernwaffen in Osteuropa grundsätzlich möglich.
Polen war das erste NATO-Mitglied, das sich für eine solche Option aussprach. Bereits 2014 gab es Stimmen im polnischen Verteidigungsministerium, die Bereitschaft erklärten, amerikanische Kernwaffen auf eigenem Boden zu lagern. Im Juni 2023 bekundete Polens Premierminister Mateusz Morawiecki offiziell das Interesse seines Landes. Eine Stationierung von B61-Bomben würde nicht nur der neuen Bedrohung durch Russland entsprechen, sondern auch der Absicht der NATO, die nukleare Teilhabe auf eine möglichst breite Basis zu stellen. Militärisch läge ein weiterer Vorteil darin, dass polnische Kampfflugzeuge keine Luftbetankung bräuchten, um Russland zu erreichen.
Die Reaktion der USA war eher reserviert, was offenbar auch mit den Kosten einer solcher Stationierung zusammenhing. Deutschland lehnte dies prinzipiell ab, da die Bundesregierung (recht spät) erkannt hatte, dass ihr als nukleares Stationierungsland in der NATO ein besonderes Gewicht zukam. Somit ist die Realisierung dieser Option derzeit wenig wahrscheinlich.
Eine wesentlich realistischere Möglichkeit wäre es, die F-35 Kampflugzeuge, die Polen ab 2025 erhält, nuklear zu zertifizieren und damit zum Transport von US-Atombomben zu befähigen. Polnische Piloten müssten entsprechend ausgebildet werden. Damit könnten im Krisen- und Konfliktfall amerikanische Kernwaffen auf polnische Flughäfen verlagert und von dort eingesetzt werden. Umgekehrt könnten polnische F-35 Flugzeuge in der Krise als Reserve in bestehende NATO-Nukleardepots verlegt werden, um den dortigen Bestand an Trägerflugzeugen zu erhöhen.
Die Vorteile einer geografischen Ausweitung der nuklearen Teilhabe nach Osteuropa wären, dass die NATO der neuen Bedrohung durch Russland sichtbar Rechnung trägt und die nukleare Teilhabe auf möglichst viele Mitglieder ausweitet. Auch würde eine größere Anzahl von Kernwaffenlagern – ob permanent oder zeitweise – eine Angriffsplanung Russlands verkomplizieren.
Nachteilig wären vor allem die hohen Kosten, die mit dem Bau neuer Kernwaffenlager in Polen oder einem anderen osteuropäischen NATO-Staat verbunden wären. Auch ist ein Konsens für einen solchen Schritt innerhalb des Bündnisses derzeit ungewiss. Sollte die Ukraine nach dem Ende des Krieges der NATO beitreten, würde sich die Frage stellen, ob Kernwaffen nicht auch auf ukrainischem Staatsgebiet stationiert werden müssten.
Dies macht deutlich, dass verschiedene Handlungsmöglichkeiten bestehen, die jeweils Vor- und Nachteile mit sich bringen können. Es ist davon auszugehen, dass sie dementsprechend teils heftige politische Diskussionen innerhalb der Allianz und in den einzelnen Mitgliedstaaten selbst auslösen würden. Dennoch: Es ist angesichts der grundlegenden strategischen Veränderungen der letzten Jahre keine Option mehr, aus Furcht vor solchen Reaktionen das nukleare Abschreckungspotenzial der NATO weiterhin unverändert zu belassen. Denn das würde die Glaubwürdigkeit der Abschreckung nur noch weiter schwächen.