Diese Online-Version fasst Kernaussagen sowie das Executive Summary der Analyse zusammen. Die vollständige Publikation finden Sie hier bzw. rechts als PDF.
Die NATO sollte der Ukraine zügig eine Beitrittsperspektive eröffnen, denn Gründe für weitere Zurückhaltung gibt es nicht. |
Mit Blick auf die Bedrohung durch Russland gilt es auf dem Gipfel erneut auf die Einhaltung des Zwei-Prozent-Ziels zu bestehen. |
Die Partnerschaftspolitik der NATO muss reformiert werden und zukünftig stärker interessen-, werteorientiert und bei Bedarf hierarchisch sein, sprich das Gewicht von Partnern berücksichtigen. |
Um die Rolle von Nuklearwaffen im Bündnis unter ein strategisches Dach zu vereinen, braucht es ein neues politisches Konsenspapier. |
Angesichts der US-Wahlen müssen die transatlantischen Beziehungen Trump-fest werden. Europa sollte seine militärische Leistungsfähigkeit erhöhen und sich stärker der Region Asien-Pazifik widmen. |
Executive Summary
Juli 2024 treffen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitgliedstaaten anlässlich des 75. Geburtstags des Bündnisses in Washington. Seit einigen Jahren ist es unrühmliche Praxis geworden, jedes NATO-Spitzentreffen als Schicksalsstunde des Bündnisses und als historisches Ereignis emporzustilisieren. Dieser Gipfel ist aber in der Tat etwas Besonderes, nicht nur aufgrund des Datums. Zum einen muss ein neuer Nachfolger für Generalsekretär Jens Stoltenberg gefunden werden. Zum anderen sind es vor allem die Häufung und Größe der derzeitigen sicherheitspolitischen Krisen, die dem Treffen eine besondere Note verleihen. Darunter nicht nur Russlands Krieg gegen die Ukraine, sondern auch die im November anstehenden US-Wahlen und damit verbunden die Sorgen vor einer Rückkehr Donald Trumps.
Sieben Themen dürften die Agenda des Gipfels bestimmen:
- Ein neuer Generalsekretär für die „Wertegemeinschaft“
- Eine Beitrittsperspektive für die Ukraine
- Die militärische Anpassung des Bündnisses
- Die Reform der NATO-Partnerschaften
- Die Rolle der NATO an der Südflanke
- Die Ausgestaltung der nuklearen Abschreckung
- Die Festigung der transatlantischen Beziehungen
Die NATO muss 2024 einen neuen Generalsekretär wählen. Bisher hat sich die Suche schwierig gestaltet, da für das höchste NATO-Amt nicht nur die Unterstützung der Bündnisvormacht USA erforderlich ist, sondern auch die Wünsche der kleineren NATO-Mitglieder sowie die regionalen Besonderheiten berücksichtigt werden müssen. Persönlichkeiten oder Mitgliedsländer, die die unterschiedlichen Präferenzen der übrigen Staaten auf sich vereinen, sind jedoch derzeit nicht erkennbar. Neben der Wahl der Führungsspitze wird sich die NATO auch mit ihrem Selbstverständnis als demokratische Wertegemeinschaft befassen müssen. Dieses war nie lupenrein, gehörten doch in den 1970er Jahren mit Portugal und Griechenland Militärdiktaturen der NATO an. Heute stellt sich die Frage der gemeinsamen Werte erneut mit Blick auf die Türkei und Ungarn.
Das zentrale Gipfelthema dürfte die Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine werden. Auf dem Gipfel 2023 in Vilnius konnte keine gemeinsame Position gefunden werden und auch heute ist die NATO noch weit von einer Einigkeit in der Ukraine-Frage entfernt. Allerdings sprechend drei Faktoren gegen eine weitere Zurückhaltung. Erstens zeugt der Kampf der Ukraine für Freiheit und Demokratie von Beitrittsreife, da sie Werte und Ziele der Allianz vertritt. Zweitens verfügt die Ukraine mittlerweile über kampferprobte Streitkräfte, um erheblich zur eigenen Landesverteidigung beitragen zu können. Drittens verliert Russland immer mehr Soldaten und modernes Kriegsgerät, das aufgrund der Sanktionen nicht ausreichend nachproduziert werden kann. In jedem Fall dürfte ein weiteres Aufschieben der Ukraine-Frage angesichts der Gefahr durch Russland und der symbolischen Bedeutung des Jubiläumsgipfels kaum möglich sein.
Ein weiteres Aufschieben der Ukraine-Frage dürfte angesichts der Gefahr durch Russland und der symbolischen Bedeutung des Jubiläumsgipfels kaum möglich sein.
Bereits nach Russlands Annexion der Krim 2014 hatte die NATO grundlegende Veränderungen in ihrer militärischen Planung vorgenommen, denn Russland galt wieder als mögliche militärische Bedrohung. Diese Planungen werden 2024 auch deshalb ein Gipfelthema sein, da die militärische Anpassung erhebliche finanzielle Mittel erfordert. Viele NATO-Mitglieder haben jahrelang ihr Versprechen, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, gebrochen, auch Deutschland. Doch infolge der russischen Invasion der Ukraine und der eingeleiteten „Zeitenwende“-Politik hat die Bundesregierung die Weichen dafür gestellt, künftig das Zwei-Prozent-Ziel zu erfüllen. Für die Mitgliedstaaten, die nach wie vor keinen ausreichenden Verteidigungsbeitrag leisten, gilt es, diese Frage immer wieder auf höchster politischer Ebene anzusprechen und anzumahnen. Nur durch ein solches „blaming and shaming“ kann ein ausreichender politischer Druck aufgebaut werden.
Ein weiterer, zuletzt vernachlässigter Bereich der NATO ist die Partnerschaftspolitik. Diese wird künftig umso wichtiger werden, als hinter dem akuten Konflikt in der Ukraine schon die nächste Herausforderung lauert, nämlich der Umgang mit einem immer aggressiveren China. Will man Partnerschaften künftig sinnvoll nutzen, so ist eine grundlegende Reform erforderlich. Deutschland hatte schon Anfang 2023 erste Ideen zu einer Neugestaltung der Partnerschaften entwickelt, die von drei Überlegungen ausgingen: Erstens müssen NATO-Partnerschaften grundsätzlich interessenorientiert sein und unter dem Aspekt der Nützlichkeit für beide Seiten betrachtet werden. Zweitens können Partnerschaften nicht frei von Hierarchien sein. Partner sind aufgrund ihrer geostrategischen Lage, ihres politischen Systems oder der Beiträge unterschiedlich relevant. Drittens sollte, da die Allianz ein wertegebundenes Bündnis ist, demokratischen Staaten eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Wenn die Staats- und Regierungschefs in Washington eine Reform der Partnerschaften entlang dieser Grundlinien festlegen, kann dies die NATO insgesamt stärken.
Seit Jahren gibt es einen „Ost-Süd-Gegensatz“ im Bündnis. Während die Nord- und Osteuropäer auf die Bedrohung durch Russland als das primäre Handlungsfeld der Allianz hinweisen, befürchten Südanrainer wie Italien, Spanien, Griechenland, die Türkei oder Frankreich, dass zu viele Ressourcen auf die „Ostflanke“ verwendet werden und ihre Bedrohungswahrnehmungen im Süden nicht ausreichend gewürdigt werden. Um diese Spannung zu mildern, spricht die NATO seit langem von einem „360 Grad Ansatz“, mit dem sie den Sorgen aller Mitglieder gerecht werden will. Doch bei der Gefahr durch Russland handelt es sich um eine militärische Bedrohung, die vor allem mit militärischen Mitteln bekämpft werden kann, also durch Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit. Hier liegt die Kernkompetenz der Allianz. Bei den Bedrohungen aus dem Süden, etwa Terrorismus oder Migration, handelt es sich dagegen primär um Probleme, bei denen die NATO bestenfalls unterstützend tätig werden kann. Auch wenn diese Problematik beim Gipfel in Washington thematisiert werden wird, muss klar sein, dass sie kaum für alle zufriedenstellend zu lösen sein wird.
Die NATO benötigt dringend ein neues politisches Konsenspapier, um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Abschreckung und zur Rolle von Nuklearwaffen im Bündnis unter ein strategisches Dach zu vereinen
Angesichts der Gefahren durch Russland hat das Bündnis seine nuklearen Fähigkeiten zwar gestärkt, den Bereich der Strategie aber bislang ausgelassen. Das letzte nukleare Strategiedokument, in dem sich die NATO auf eine gemeinsame Abschreckungslogik geeinigt hatte, ist der sogenannte „Deterrence and Defence Posture Review“ (DDPR) von 2012, der in Chicago beschlossen wurde. Allerdings war die internationale Sicherheitslage zu dieser Zeit eine grundlegend andere. Russland galt noch als Partner der NATO, China wurde als grundsätzlich wohlwollend wahrgenommen und im Mittleren Osten herrschte noch die Illusion des Arabischen Frühlings. Dies zeigt: Die NATO benötigt dringend ein neues politisches Konsenspapier, um die unterschiedlichen Vorstellungen zur Abschreckung und zur Rolle von Nuklearwaffen im Bündnis unter ein strategisches Dach zu vereinen. Der kommende Washingtoner Gipfel würde den richtigen Rahmen bieten, diese Strategieformulierung anzustoßen.
Zur Zeit des Gipfels wird das politische Washington vom US-Präsidentschaftswahlkampf und von einer möglichen zweiten Amtszeit Donald Trumps beherrscht sein. Dieses Szenario löst auch im Bündnis Existenzängste aus, weshalb es beim Gipfel unter anderem darum gehen muss, die transatlantischen Beziehungen „Trump-fest“ (Trump-proof) zu gestalten. Aber auch jenseits einer Trump-Präsidentschaft müssen die NATO-Mitgliedstaaten transatlantische Streitpunkte entschärfen und zumindest in zwei Themenkomplexen Einigkeit erzielen:
Erstens muss Europa erkennen, dass es über die höheren Verteidigungshaushalte seine militärische Leistungsfähigkeit deutlich steigern muss. Zweitens muss Europa den Gefahren im asiatisch-pazifischen Raum mehr Aufmerksamkeit widmen und sich dabei auf zwei Bereiche konzentrieren. Zum einen sollte Europa dazu beitragen, dass die NATO-Partnerschaften mit den sogenannten Asia-Pacific-Four (AP-4), sprich Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea weiter ausgebaut werden. Zum anderen können die Europäer verstärkt militärische Aufgaben in ihrer Nachbarschaft übernehmen, um dadurch die US-Streitkräfte zu entlasten, damit diese sich stärker dem asiatisch-pazifischen Raum widmen können.
Wollen die Staats- und Regierungschefs beim NATO-Gipfel in Washington dem Ernst der Lage gerecht werden, müssen sie weitreichende Entscheidungen in den genannten Feldern treffen. Nur eine Priorisierung der Themen führt zu einer konzisen Gipfelerklärung. Gelingt dies, so kann der Washingtoner Gipfel so „historisch“ werden, wie er schon im Vorfeld dargestellt wird.