Zusammenfassung
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Deutschland hat am 1. Juli den Vorsitz im Rat der Europäischen Union (EU) übernommen. Mit der Covid-19-Krise hat sich nicht nur die inhaltliche Agenda, sondern auch die Rolle der deutschen EU-Ratspräsidentschaft stark verändert. Deutschland wird als „ehrlicher Makler“ auf Kompromisse und Lösungen zwischen den 27 EU-Mitgliedstaaten hinarbeiten und dabei vermitteln müssen, um eine für alle tragbare Einigung zu erzielen. Hierbei wird die Bundesregierung nicht immer, wie es üblicherweise der Fall ist, als neutraler Akteur auftreten können. Mit der deutsch-französischen Initiative vom 18. Mai 2020 und der Bereitschaft, den Wiederaufbau mehrheitlich durch Zuschüsse zu finanzieren, hat sie sich bereits vor Beginn der Ratspräsidentschaft in der wichtigsten Debatte der kommenden sechs Monate positioniert – und ausgerechnet hier ist es aufgrund der unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaaten besonders schwierig, eine Einigung zu erzielen.
EHRLICHER MAKLER UND DYNAMISCHER ANTREIBER
Oberste Priorität der deutschen Ratspräsidentschaft wird es sein, die einsetzende und tiefgreifende europäische Rezession zu bewältigen. Nach einer ersten Schockstarre und einem Verharren in nationalen Antworten haben die EU und ihre 27 Mitgliedstaaten zwar bereits eine Vielzahl von Maßnahmen verabschiedet. Weitere Schritte sind jedoch nötig, um die massiven wirtschaftlichen und sozialen Folgekosten der Krise abzufedern und Investitionen als Teil einer nachhaltigen Modernisierungsagenda zu fördern. Der Erfolg der deutschen Ratspräsidentschaft wird sich deshalb insbesondere daran bemessen, ob sich die EU zu einem der Krise angemessenen Wiederaufbaufonds durchringen und die damit einhergehenden Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 (MFR) zeitnah abschließen kann.
Die Erwartungshaltung der europäischen Partner und damit die Verantwortung auf den Schultern der Bundesregierung sind groß, die Weichen dafür zu stellen, dass die EU gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Allerdings zeigt sich, dass die Corona-Krise bestehende Interessenkonflikte zwischen den Mitgliedstaaten über den Verteilungskampf des zukünftigen MFRs noch einmal verschärft hat und diese mit Emotionalität ausgefochten werden. Als „ehrlicher Makler und dynamischer Antreiber“ wird es auf die Bundesregierung ankommen, Brücken zu bauen und einen für alle Seiten akzeptablen Kompromiss zu verhandeln. Dies wird nicht ohne Reibungsverluste und Enttäuschungen von statten gehen können.
Frankreich sowie Italien als Vertreter der Südländer, Polen für die Visegrád-Gruppe sowie die Niederlande für die Gruppe der „Sparsamen Vier“ stehen dabei exemplarisch für die divergierenden Interessen der unterschiedlichen Lager in den aktuellen Verhandlungen über den Wiederaufbaufonds und den MFR sowie den damit einhergehenden Erwartungen und Hoffnungen, die sie auf Deutschland und seine Führungsrolle projizieren.
FRANKREICH
Zu den großen Erwartungen, die die deutsche EU-Ratspräsidentschaft in französischen Regierungskreisen weckt, trägt die deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas vom 18. Mai 2020 bei, die die Schaffung eines Fonds im Umfang von 500 Milliarden Euro vorsieht. Sie basiert auf einem starken Zugeständnis Deutschlands und gilt in Paris als angemessene Grundlage für eine europäische Reaktion auf die Wirtschaftskrise. Insbesondere die Finanzierung eines solchen Wiederaufbaufonds durch gemeinsame Anleihen ist im Einklang mit den europapolitischen Vorstellungen von Präsident Emmanuel Macron.
Der deutsch-französische Motor im Fokus
Der französischen Regierung ist bewusst, dass die Verhandlungen über den Vorschlag der Europäischen Kommission zum Wiederaufbaufonds hart und kompliziert sein werden. Zwar hatte sie Anfang Mai noch ein deutlich höheres Finanzvolumen von 1,0 bis 1,5 Billionen Euro gefordert. Ihre Priorität ist es nun jedoch, die durch die Kommission vorgeschlagene Größe für den Wiederaufbaufonds aufrechtzuerhalten. Außerdem soll das Verhältnis zwischen Zuschüssen und Krediten, wie von der Kommission vorgeschlagen, beibehalten werden. Von der Bundesregierung erwartet Paris, dass sie sich während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für die Umsetzung des deutsch-französischen Vorschlags einsetzt, damit er nicht, wie die Meseberger Strategie vom Juni 2018, im Sande verläuft.
Frankreichs Regierung geht davon aus, dass die Konfliktpunkte des Kommissionsvorschlags in erster Linie zwischen dem deutsch-französischen Duo und den „Sparsamen Vier“ ausgehandelt werden. Auch manche mittel- und osteuropäischen Staaten, u.a. Tschechien, werden in diesem Kontext als schwierige Partner wahrgenommen, da diese nach den Berechnungen der Kommission relativ wenig vom Wiederaufbaufonds profitieren (siehe Abbildung 1) und auf den Erhalt des Kohäsionsfonds setzen. Die südeuropäischen Staaten hingegen unterstützen die Schaffung des Fonds. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Frankreich versuchen wird, mit ihnen ein zusätzliches Bündnis zu schließen, um den Druck zu erhöhen. Solange die französische Regierung sich neben Deutschland in einer Führungsposition sieht, ist vielmehr zu erwarten, dass sie sich zurückhält und an die deutsch-französische Vereinbarung hält.
In der Regierung wird derzeit über den Aufteilungsschlüssel des Wiederaufbaufonds gemäß dem Vorschlag der Kommission diskutiert. Für manche Kritiker kommt dieser den Südländern, die am stärksten von der Corona-Krise betroffen sind, nicht ausreichend zugute. Auch für Frankreich sei kein „juste retour“ zu erwarten. Das Land leidet besonders stark unter der Wirtschaftskrise (siehe Abbildung 4). Trotz aller Bedenken sieht Paris von Kritik ab, denn man betrachtet den Fonds als ein Element in einem Gesamtpaket, zu welchem auch der zukünftige MFR gehört, und möchte eine Kompromissfindung durch zu laute Forderungen nicht gefährden.
Die heilige Kuh der gemeinsamen Agrarpolitik
In den Verhandlungen zum MFR fordert Frankreich die Beibehaltung der Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) – wobei es auf Polens Unterstützung zählen kann – und eine stärkere Finanzierung von Verteidigungs- und Raumfahrtprojekten. Weitere Zielsetzungen sind die Abschaffung der Rabatte für einzelne Mitgliedstaaten, eine Erhöhung der Eigenmittelobergrenze sowie die Stärkung der Konditionalität in Bezug auf soziale Standards und Rechtsstaatlichkeit. Zu welchen Zugeständnissen Paris bereit ist, ist hingegen schwieriger zu beantworten. Eine Kürzung der GAP ist im Moment aus französischer Sicht ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist, dass Frankreich eine stärkere Konditionalität für das europäische Semester akzeptiert, selbst wenn der Zwang, der damit einhergeht, vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen und sozialen Krise – und weniger als zwei Jahre vor der nächsten Präsidentschaftswahl – heikel ist.
Jenseits der unmittelbaren europäischen Reaktion auf die Wirtschaftskrise hofft die französische Regierung, den Aspekt der europäischen Souveränität – sei es im Hinblick auf Verteidigung, Industriepolitik oder Gesundheit – stärker auf der Agenda zu verankern. Von der Bundesregierung wird nun erwartet, dass sie hierfür den Grundstein legt, indem sie die europäische Gesundheitsstrategie vorantreibt und die Diskussion über eine stärkere Unabhängigkeit der EU u.a. im industriellen Bereich fördert. Frankreichs Präsident hofft, dass die französische Ratspräsidentschaft 2022 die Gelegenheit sein wird, die strategische Autonomie der EU zu konsolidieren – und die Ergebnisse der Konferenz über die Zukunft Europas, die in der zweiten Jahreshälfte beginnen könnte, vorzustellen.
ITALIEN
Die Covid-19-Pandemie hat die Europapolitik Italiens in den vergangenen Monaten geprägt. Italien war das erste europäische Land, das mit voller Härte getroffen wurde. Die ohnehin schon gebeutelte italienische Wirtschaft kam zum Erliegen. Die italienische Regierung beklagte die mangelnde Solidarität der europäischen Partner, insbesondere von Deutschland. Rom hat deshalb bereits sehr früh auf die Notwendigkeit einer raschen und umfassenden europäischen Antwort zur Abfederung einer europäischen Rezession gedrängt. Bereits im März forderte die italienische Regierung mit acht anderen Mitgliedstaaten in einem Brief an den Präsidenten des Europäischen Rates vergeblich die Schaffung eines ambitionierten europäischen Wiederaufbaufonds, der durch gemeinsame Anleihen finanziert werden sollte.
Deutsch-französische Initiative ist in Italiens Interesse
Folglich begrüßt die italienische Regierung die deutsch-französische Initiative sowie den Vorschlag der Europäischen Kommission. Die bisherigen Maßnahmen, unter anderem die Nutzung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), wurden in Rom als unzureichend oder unpassend angesehen. Die Regierung von Ministerpräsident Guiseppe Conte war deshalb innenpolitisch unter Druck geraten.
Die nun vorliegenden Vorschläge bilden Kernforderungen der italienischen Regierung ab, welche sie mit seinen südeuropäischen Partnern teilt: Der Wiederaufbaufonds soll vollen Gebrauch von der Kreditaufnahmefähigkeit der EU machen, um mehrheitlich Zuschüsse zu vergeben. Diese Forderung hatte Italien mit Portugal, Spanien und Griechenland sowie Frankreich in einem gemeinsamen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen besonderen Nachdruck verliehen. Zudem werden die Finanzmittel unmittelbar an den Wiederaufbau geknüpft, was insbesondere der italienischen Wirtschaft zu Gute kommen wird.
Zwar hatte die italienische Regierung ursprünglich ein deutlich höheres Volumen für den Wiederaufbaufonds (bis zu 1,0 Billion Euro) erwartet. Laut ersten Berechnungen basierend auf dem Vorschlag der Kommission wird Italien aber den Löwenanteil aus dem neuen Fonds (siehe Abbildung 1) erhalten. Dies ist innenpolitisch ein Erfolg und nimmt den euroskeptischen Kräften den Wind aus den Segeln – umso mehr, da die Distributionsfrage in der italienischen Öffentlichkeit im Mittelpunkt steht und andere Fragen wie die Ausgestaltung des MFR deutlich in den Hintergrund drängt.
Der Faktor Zeit zählt
Kritisch für die italienische Regierung ist vor allem der Faktor Zeit: Die Mittel aus dem Wiederaufbaufonds werden dringend benötigt, um eine Pleitewelle in der italienischen Wirtschaft zu verhindern. Selbst bei Einhaltung eines ambitionierten Zeitplans wären diese jedoch wohl erst Mitte des kommenden Jahres abrufbar. Rom erwartet deshalb Lösungsvorschläge für eine substantielle Zwischenfinanzierung, in jedem Fall aber eine rasche politische Einigung, die die Finanzmärkte beruhigen soll. Da sich die italienische Regierung bisher zugleich weigert, zur Verfügung stehende fast konditionslose Kredite aus dem ESM abzurufen, schwächt dies die Verhandlungsposition gegenüber den europäischen Partnern. Die damit verbundenen negativen Assoziationen mit der Sparpolitik während der europäischen Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise ab 2010 sind in der Bevölkerung jedoch so stark verankert, dass der Regierung die Hände gebunden sind.
Italien ist sich des Widerstands insbesondere der „Sparsamen Vier“ gegen die aktuellen Vorschläge bewusst. Zwar lehnt die italienische Regierung die Koppelung der Finanzmittel an umfangreiche Sparauflagen ab. Mit der Ankündigung einer umfassenden Modernisierungs- und Investitionsagenda hat Ministerpräsident Conte jedoch bereits innenpolitisch den Rahmen für einen möglichen Kompromiss auf europäischer Ebene abgesteckt, der Zugeständnisse bei der zweckgebundenen Verwendung der Mittel – auch im Rahmen des europäischen Semesters – erlaubt. Eine Koppelung der Mittel aus dem MFR an rechtsstaatliche Prinzipien unterstützt Rom ohnehin.
Die Erwartungshaltung der italienischen Regierung an die deutsche Ratspräsidentschaft ist damit groß. Italien setzt viele Hoffnungen in die Bundesregierung, dass sich der zukünftige Wiederaufbaufonds weitestgehend am Vorschlag der Europäischen Kommission und der deutsch-französischen Initiative orientiert. Die Bundesregierung soll gemeinsam mit Frankreich Blockaden einzelner Mitgliedstaaten verhindern und die Verhandlungen rasch zum Abschluss bringen. Im Gegenzug ist Italien bereit, sich bezüglich weiterer Forderungen in Zurückhaltung zu üben, um weitere Konflikte zu vermeiden.
Neben der konkreten Erwartungshaltung mit Blick auf den Wiederaufbaufonds verbindet Italien mit der deutschen Ratspräsidentschaft auch die Hoffnung, neben Frankreich als dritte Kraft deutlich stärker in europäische Entscheidungsprozesse involviert zu werden. Italien hat den Wunsch, auf Augenhöhe mit Deutschland und Frankreich zu diskutieren und erhofft sich die stärkere Einbindung in bi- und trilaterale Konsultationsformate.
NIEDERLANDE
Die Corona-Krise wird in den Niederlanden nicht nur als folgenschwere Gesundheits- und Wirtschaftskrise gesehen, sondern auch als Inbegriff einer weitreichenden europäischen Vertrauenskrise. Durch unkoordinierte Grenzschließungen innerhalb der EU wurde der Binnenmarkt beschnitten und die europäische Idee beschädigt, so das niederländische Narrativ. Darin sehen die Niederlande einen unsolidarischen Akt, von dem es als kleines, exportorientiertes Land in besonderer Weise betroffen ist.
Aus niederländischer Sicht wird eine der zentralen Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft daher sein, zu den vier europäischen Grundfreiheiten zurückzukehren und den Binnenmarkt resilienter zu machen. Insgesamt wünscht sich die niederländische Regierung eine pro-aktive Ratspräsidentschaft, die mit Nachdruck gesamteuropäische Zukunftsthemen wie den Green New Deal und die digitale Agenda verfolgt. Reines Corona-Krisenmanagement wäre nicht ambitioniert genug.
Kein nachhaltiger Ansatz
Der vorliegende Kommissionsvorschlag über die Bereitstellung eines europäischen Wiederaufbaufonds wird in den Niederlanden kritisch gesehen. Den Haag begrüßt zwar die Akzente der Kommission auf Nachhaltigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Reformen. Ausgehend von der in Regierungskreisen dominierenden Analyse hingegen, dass die in der Wirtschafts- und Finanzkrise gewährten Finanzhilfen nicht nachhaltig dazu beigetragen haben, europäische Volkswirtschaften krisenresistenter zu machen, zweifeln die Niederlande an der langfristigen Erfolgswahrscheinlichkeit der vorgeschlagenen Wirtschaftshilfen. Zudem kritisiert die Regierung den Gesamtumfang der eingesetzten Mittel.
Außerdem fordert die Regierung die effektive Durchsetzung europäischer Regeln und Prinzipien im Allgemeinen – Rechtsstaatlichkeit inklusive – und wirkungsvolle Konditionalität innerhalb des Wiederaufbaufonds im Speziellen – etwa durch ex-ante statt ex-post Konditionalität. Das Steuerungsinstrumentarium des europäischen Semesters beispielsweise betrachtet die niederländische Regierung in der bestehenden Form als unzureichend.
Insgesamt sind weder der deutsch-französische Vorstoß noch der Kommissionsvorschlag aus niederländischer Sicht verhältnismäßig. Die niederländische Regierung kritisiert insbesondere, dass eine Kreditaufnahme durch die Europäische Kommission einen gefährlichen Präzedenzfall setzt hin zu einer Vergemeinschaftung von Schulden und damit finanziellen Risiken. Insbesondere der deutsche Sinneswandel in dieser Frage überraschte bis irritierte viele Entscheidungsträger in Den Haag, da Berlins Position zuvor als weitestgehend synchron mit der eigenen wahrgenommen wurde. Darüber hinaus betont die niederländische Regierung, dass die Gewährung von Zuschüssen im Gegensatz zu Krediten das Prinzip der Eigenverantwortung schwächt. Sie lehnt daher den Kommissionsvorschlag über Zuschüsse mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro vehement ab und fordert eine Begrenzung auf Kredite. Die für den Wiederaufbaufonds insgesamt veranschlagten 750 Milliarden Euro widersprechen zudem der niederländischen Forderung nach einem maßvollen Ressourceneinsatz. Einsparpotenzial innerhalb des MFR wird insbesondere im Bereich der Agrar- und Kohäsionspolitik gesehen, aber auch bei Migration und Grenzschutz.
Komplette Blockade unwahrscheinlich
Um der eigenen Position Nachdruck zu verleihen, bilden die Niederlande gemeinsam mit den Netto-Zahlern Dänemark, Österreich und Schweden die Gruppe der „Sparsamen Vier“, die insbesondere die Forderung nach einem EU-Haushalt mit geringerem Gesamtvolumen und einer Begrenzung auf Kredite (‚loans for loans‘) statt Zuschüssen verbindet. Mit Blick auf die anstehenden Verhandlungen ist eine komplette niederländische Blockadehaltung unwahrscheinlich. Zu eng ist die Verflechtung der niederländischen Volkswirtschaft mit dem europäischen Binnenmarkt.
Trotz inhaltlicher Unterschiede in Bezug auf das nötige Corona-Krisenmanagement blicken die Niederlande der deutschen Ratspräsidentschaft mit einer optimistischen Grundhaltung entgegen. Neben den vielen inhaltlichen Überschneidungen schätzt Den Haag den inklusiven Ansatz Berlins, in der Hoffnung, als kleines bis mittelgroßes Land bestmöglich Gehör zu finden.
POLEN
Die polnische Regierung schaut der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit vorsichtigem Optimismus entgegen. Die Wiederaufbau- sowie die Haushaltspläne der Europäischen Kommission entsprechen den Vorstellungen der polnischen Regierung, die trotz der teilweise antieuropäischen Rhetorik eine konstruktive Rolle in der EU einnehmen möchte.
Polen als ‚responsible stakeholder‘
Das Hauptziel der polnischen Regierung bei den Haushaltsverhandlungen ist es, die Forderungen der „Freunde der Kohäsion“, etwa die Unterstützung wirtschaftsschwächerer Regionen und des Agrarsektors, mit wirksamen Anti-Krisen-Maßnahmen in Einklang zu bringen. Polen trägt gemeinsam mit Deutschland den politischen Richtungswechsel seit der Eurokrise mit. Unterstützte die polnische Regierung noch die von der Bundesregierung propagierte Austeritätspolitik während der europäischen Staatsschuldenkrise, wirft sie nun ihr Gewicht hinter die Pläne der Kommission, die auf der deutsch-französischen Initiative aufbauen.
Der Vorschlag bildet Kerninteressen der polnischen Regierung ab. Erstens gehört Polen anders als Ungarn oder Tschechien zu den größten finanziellen Nutznießern des Kommissionsvorschlags; zweitens soll das Gesamtvolumen des EU-Haushalts nicht gesenkt werden, was ebenfalls in polnischem Interesse ist. Auch mit der Höhe des Wiederaufbaufonds ist man zufrieden. Drittens ist aus Warschaus Sicht ein robustes Wiederaufbauprogramm notwendig, um den Zusammenhalt der Eurozone zu sichern. Die Stabilität der gemeinsamen Währung sowie des europäischen Binnenmarkts liegt im strategischen, langfristigen Interesse Polens. Deswegen unterstützt Warschau auch den Vorschlag, den Wiederaufbaufonds überwiegend mit Zuschüssen auszustatten.
Die Haltung Polens in Bezug auf den Wiederaufbaufonds ist ein Versuch, die Dichotomie zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern zu durchbrechen, die die polnische Regierung als stigmatisierend empfindet. Die PiS-Regierung möchte als ein kompromissbereiter ‚responsible stakeholder‘ in den Verhandlungen auftreten und würde deshalb auch einen Vorschlag akzeptieren, der die von der Krise am schwersten betroffenen Länder des Südens bevorzugt, auch wenn sie aktuell noch nicht bereit ist, mehr in die gemeinsame Kasse einzuzahlen, als sie erhält.
Die Viségrad-Gruppe bröckelt
Skeptischer hingegen sind Ungarn und Tschechien, Polens Partner in der Visegrád-Gruppe und traditionell enge Verbündete in den Haushaltsverhandlungen. Sie befürchten, dass sie zugunsten der von der Gesundheitskrise besonders betroffenen Südländer finanziell schlechter gestellt werden. Zeitgleich mit der deutschen EU-Ratspräsidentschaft übernimmt Polen den Vorsitz der Visegrád-Gruppe und wird diese Plattform nutzen wollen, um mit Berlin einen für beide Seiten günstigen Kompromiss auszuarbeiten.
Trotz allem will Warschau vermeiden, dass sich ein ambitionierter Wiederaufbaufonds negativ auf die Höhe und den Verteilungsschlüssel des MFR auswirkt. Deswegen erwartet die polnische Regierung ganz im Sinne anderer mittel- und osteuropäischer Staaten von der Bundesregierung, dass sie sich für eine angemessene Balance einsetzt, wie sie im Vorschlag der Kommission vorzufinden ist.
Für Konflikte könnte die Frage der Rechtsstaatlichkeit sorgen, die neben Polen in erster Linie auch Ungarn betrifft. Während die nationalkonservative PiS-Regierung grundsätzlich keine Vorbehalte gegenüber einer wirtschaftspolitischen Konditionalität hegt, ist eine Koppelung der Auszahlung der Fördermittel an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien eine rote Linie. Im Notfall könnte sie androhen, mit einem Veto den MFR zu blockieren. Dementsprechend werden die Veröffentlichung des ersten jährlichen Berichts über die Rechtsstaatlichkeit der Kommission und mögliche Anhörungen im Rat als ein politisches Druckmittel in den Haushaltsverhandlungen wahrgenommen. Wohlwissend, dass die Bundesregierung das Thema nicht ganz unter den Teppich kehren kann, erwartet Warschau von der deutschen Ratspräsidentschaft, nicht an den Pranger gestellt zu werden.
Die vielen strategischen Interessen, die Warschau und Berlin verbinden, lassen trotz der Kontroversen über die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien auf eine Partnerschaft während der deutschen Ratspräsidentschaft hoffen. Politisch gesehen bieten die aktuellen Verhandlungen aber auch die Möglichkeit einer Annäherung an Paris, Rom und Madrid, die es Warschau erlaubt, die Abhängigkeit von Berlin zu mindern, den Druck auf die sparsamen Länder des Nordens (u.a. bei der Abschaffung von Steueroasen innerhalb der EU) zu erhöhen und der polnischen Regierung mehr Spielraum und Bündnismöglichkeiten bei der Neujustierung ihrer Europapolitik nach dem Brexit zu gewähren.
EIN TEST FÜR DIE DEUTSCHE FÜHRUNGSROLLE
Im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft sieht sich Deutschland hohen und widersprüchlichen Erwartungen seiner europäischen Partner gegenüber, die nur schwer miteinander in Einklang zu bringen sind. Bei der Umsetzung des Wiederaufbaufonds sowie beim MFR verläuft die Bruchlinie im Wesentlichen zwischen den nord- und den südeuropäischen Staaten – eine klassische Spaltung, die im Laufe der Krise an Aktualität wiedergewonnen hat. Zudem lehnen Polen und Ungarn eine Koppelung von Finanzmitteln an rechtsstaatliche Prinzipien kategorisch ab. Gleichzeitig haben sich in den vergangenen Wochen traditionelle Positionen verschoben, was zu einer Schwächung etablierter Koalitionen geführt hat. Durch Polens Positionswandel in Wirtschafts- und Haushaltsfragen spricht die Visegrád-Gruppe beispielsweise nicht mehr mit einer Stimme. Die spektakulärste Wende jedoch hat ausgerechnet Deutschland selbst vollzogen: Dies hat die Nord-Süd-Spaltung relativiert und somit Bewegung in die klassischen Machtverhältnisse der EU gebracht, die sich in einer post-Brexit EU ohnehin im Wanken befindet. In der Folge hat sich auch die Wahrnehmung der deutschen Europapolitik in kürzester Zeit gewandelt: Während die Südstaaten sich über die deutsche Unterstützung freuen, befürchten die „Sparsamen Vier“, einen mächtigen Verbündeten verloren zu haben.
Günstige Vorzeichen unter erschwerten Bedingungen
Der EU-Gipfel am 19. Juni 2020 hat gezeigt, dass die Fronten weiterhin verhärtet sind. Deutschland kommt in dieser Situation eine entscheidende Rolle zu. In dieser angespannten und komplexen Lage sind die Bedingungen für eine Einigung jedoch günstig:
- Erstens zeigen die vier Fallstudien, dass Deutschlands Führungsrolle innerhalb der EU positiv wahrgenommen wird – dies war nicht immer so. Die nordeuropäischen Staaten, die traditionell gute Beziehungen mit Berlin pflegen, sind vom deutschen Sinneswandel in den Verhandlungen zum Wiederaufbaufonds zwar überrascht, ja sogar irritiert; bisher haben sie mit Deutschland jedoch nicht die offene Konfrontation gesucht. In Südeuropa war Deutschland inmitten der Corona-Krise heftiger Kritik ausgesetzt, doch die deutsche Wende hat die Wahrnehmung verändert und große Hoffnungen geweckt. Nicht zuletzt die mittel- und osteuropäischen Staaten teilen trotz der Streitigkeiten über rechtsstaatliche Standards viele strategische Interessen mit dem deutschen Nachbarn und vertrauen ihm. Dennoch wird die Bundesregierung nicht umhinkommen, das Thema anzusprechen – zumal die Kommission ihren ersten Bericht zur Rechtsstaatlichkeit während der deutschen Ratspräsidentschaft vorstellen wird. Generell schätzen viele kleine Mitgliedstaaten Berlins integrativen Ansatz. Ein solcher Vertrauensvorschuss ist eine gute Ausgangslage für die Vermittlung zwischen divergierenden Interessen und die Herbeiführung von Kompromissen.
- Ein weiterer Faktor ist Deutschlands klare Positionierung gegenüber dem Wiederaufbaufonds. Zwar hat die Bundesregierung dadurch in gewissem Maß die für eine Ratspräsidentschaft übliche Neutralität verloren. Gleichzeitig verleiht ihr dieses Bekenntnis zu substantiellen Finanztransfers Integrität bei den europäischen Partnern und trägt zu ihrer Glaubwürdigkeit als Vermittler bei. Eine solche Haltung ist nicht nur fair und transparent gegenüber den europäischen Partnern, die somit in der Lage sind, sich entsprechend zu positionieren und ihre Argumente zu schärfen. Die Bundesregierung hat damit außerdem ihre Bereitschaft gezeigt, angesichts der Schwere der aktuellen Lage ihre roten Linien zu revidieren und als verantwortungsvoller Partner zu agieren – ein Signal, das auch und insbesondere an die „Sparsamen Vier“ gerichtet ist.
- Drittens pflegen die Bundeskanzlerin und ihre Regierung ein gutes, ja vertrauensvolles Verhältnis zur Präsidentin der Europäischen Kommission. Angela Merkel und Ursula von der Leyen schätzen sich gegenseitig und teilen eine Reihe von politischen Überzeugungen. Diese Konstellation wird die Kommunikation zwischen Rat und Kommission erleichtern. Eine gute interinstitutionelle Zusammenarbeit – auch mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel und dem Europäischen Parlament – wird für den Erfolg der Präsidentschaft in den nächsten Monaten unerlässlich sein. Die Bundesregierung ist hier nicht nur als Vermittlerin, sondern auch als Impulsgeberin und Gestalterin gefragt.
Faktoren für eine erfolgreiche Präsidentschaft
Trotz dieser günstigen Vorzeichen ist sich die Bundesregierung der Bedeutung eines erfolgreichen Abschlusses der Verhandlungen bewusst. Nichts weniger als die Glaubwürdigkeit und die Führungsrolle Deutschlands stehen auf dem Spiel. Scheitern die Verhandlungen, stünde die EU vor einer tiefen Krise, die das europäische Projekt nachhaltig gefährden könnte. Dabei sieht sich Deutschland widersprüchlichen Erwartungen seiner europäischen Partner gegenüber, die unmöglich miteinander in Einklang zu bringen sind. Enttäuschungen werden nicht ausbleiben können. Dennoch können zwei Faktoren zum Erfolg der deutschen Präsidentschaft beitragen.
- Zum einen wird Berlin ehrlich, transparent und empathisch handeln müssen. Die Bundesregierung scheint heute die Lehren aus früheren Krisen, insbesondere der europäischen Staatsschulden- und Migrationskrise, gezogen zu haben und ist nun bemüht, seine Partner nicht durch Drohungen und kompromisslose Positionen zu brüskieren. Sie wird zwangsläufig eigene Impulse geben und Vorschläge ausarbeiten müssen, aber mit Demut und einer konsequenten Public Diplomacy.
- Zum anderen wird die Bundesregierung keine Zugeständnisse von seinen Partnern erlangen können, wenn sie selbst nicht dazu bereit ist, eigene Positionen zu überdenken. Insbesondere der Rabatt auf den deutschen Beitrag zum EU-Haushalt stellt für Berlin ein Dilemma dar: Einerseits birgt dieser im Rahmen der Verhandlungen ein großes Risiko für Blockaden. Andererseits ist der Verzicht auf den Rabatt innenpolitisch brisant, auch weil die rote Linie einer europäischen Anleihe mit der deutsch-französischen Initiative bereits überschritten wurde.
Außerdem muss die Bundesregierung die Empfindlichkeiten ihrer Partner in Bezug auf Bündnisse berücksichtigen. Dass sie auf die politischen und institutionellen Ressourcen der deutsch-französischen Zusammenarbeit zurückgreifen wird, steht fest – insbesondere, weil die deutsch-französische Initiative im Mittelpunkt des Krisenmanagements steht. Doch das deutsch-französische Tandem stellt lediglich eine notwendige Bedingung für einen europäischen Konsens dar. Die Akzeptanz der deutschen Führungsrolle in anderen Staaten setzt teilweise auch voraus, dass die Bundesregierung sich von ihrem französischen Partner distanzieren kann. Dies gilt insbesondere für kleinere Staaten wie die Niederlande, wo Frankreich traditionell den Ruf hat, den Großen den Vorrang zu geben. Andere Staaten, wie z.B. Italien, erkennen zwar die deutsch-französische Führung an, fordern aber, stärker darin einbezogen zu werden. Vor diesem Hintergrund sollte die Bundesregierung anderen EU-Ländern aktiv Partnerschaften anbieten und seine Partner stärker aufwerten. Dies würde helfen, Blockaden zu beseitigen und die Legitimität künftiger Vereinbarungen herzustellen.
Der Bedarf an einer aktiven deutschen Führungsrolle wird nicht am Ende der deutschen Ratspräsidentschaft im Dezember 2020 enden. Sollte es der Bundesregierung gelingen, bestehende Blockaden zu beheben und die Weichen für eine wirtschaftliche Erholung zu stellen, wäre dies gleichzeitig ein wesentlicher Beitrag zum europäischen Integrationsprozess. Eine Einigung über den Wiederaufbaufonds ist auch deshalb so wichtig, weil damit eine umfassende Modernisierungsagenda insbesondere in den Bereichen Digitalisierung und Nachhaltigkeit verbunden ist. Diese kann nur mittel- bzw. langfristig gelingen und sollte von den nächsten Präsidentschaften (Portugal, Slowenien, Frankreich) weitergeführt werden. Insbesondere Themen in Zusammenhang mit der strategischen Unabhängigkeit der EU, auch in Bezug auf eine europäische China-Politik, bieten sich für eine enge Zusammenarbeit mit der französischen Regierung an und sollten im Zusammenhang mit der französischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2022 gedacht werden.
Mit einer solchen Positionierung würde Deutschland auch zur alten Rolle eines Impulsgebers und Gestalters der EU zurückfinden, die es lange Zeit wahrgenommen hatte. So bietet die Ratspräsidentschaft auch die Gelegenheit, das Deutschland-Bild der europäischen Partner zu korrigieren, das in der vergangenen Dekade im Verlauf der europäischen Wirtschafts- und Staatschuldenkrise sowie der Migrationskrise unter dem Vorwurf mangelnder Solidarität und deutscher Alleingänge gelitten hatte.