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21. Aug. 2023

Deutschland muss sich neu erfinden

Brüssel, Summit of Leaders of the EU on Russia s war of aggressionn

In der Außen- und Sicherheitspolitik wird viel wahre Kritik an Berlin geübt. Aber es gibt auch viel unfaires Bashing. Das liegt daran, dass Deutschland kein klares Bild von seiner Rolle hat. Höchste Zeit, das zu ändern!

 

 

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Wenn es um Außen- und Sicherheitspolitik geht, ist derzeit das Deutschland-Bashing nicht weit. Obwohl Deutschland mittlerweile

in absoluten Zahlen der zweitwichtigste militärische Unterstützer der Ukraine nach den USA ist, reißt die Kritik an Berlin nicht ab.

Doch woher kommt das? Schließlich gibt es kein ähnliches Frankreich-, Großbritannien-, oder Polen-Bashing. Diese Länder vertreten selbstbewusst historisch gewachsene Stereotypen, die sich mit ihnen verbinden: Begriffe wie »groß«, »global« und »benachteiligt«. Und sie sind

dennoch keiner so heftigen Kritik ausgesetzt wie Deutschland. 

Zweifellos gibt es berechtigte Kritik an Deutschland, die nicht als unfair abgetan werden sollte. Die Zögerlichkeit etwa, mit der die Bundesregierung in Sachen Zusagen für eine künftige Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, beim Ausbau der eigenen Verteidigungsfähigkeit oder beim Umgang mit der Bedrohung durch China agiert – und das bei einem ohnehin niedrigen Ausgangsniveau, – ist problematisch. Klar ist aber auch: Deutschland hat im Vergleich zu allen anderen westlichen Ländern seit Februar 2022 die größten Fortschritte bei der Anpassung seiner Politik gemacht und wird dennoch am härtesten kritisiert. Das liegt daran, dass es bei Deutschlands verändertem Kurs in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur inhaltliche Probleme gibt, etwa bei der Geschwindigkeit, sondern auch ein Problem mit der Form. Weil sich die Politik und Haltung der Bundesregierung dauernd verändert, wissen die Verbündeten nicht, was sie von der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erwarten sollen.

Gleichzeitig fehlt Deutschland ein traditionelles Selbstbild, ein Stereotyp, auf das es zurückgreifen könnte. Frankreich zum Beispiel wird gern mit »großdenkend« oder »visionär« assoziiert. Aber für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und die ihr verwandten Themen gibt es so etwas

nicht. Und so werfen Deutschlands Partner mit ihren Etiketten um sich, und legitime Kritik kippt schnell in Bashing. Darin aber liegt eine große Chance für die aktuellen politischen Entscheidungsträger in Berlin: Sie können dieses neue Bild, das neue »Deutschland-Stereotyp«, selbst festlegen. Sie müssten dazu eine Reihe praktikabler und glaubwürdiger Annahmen über die außenpolitische Identität des Landes treffen, mithilfe derer Deutschland sich selbst, aber auch gegenüber seinen Partnern verortet.

Ein Deutschland, das sich mehr zutraut, wäre ein Gewinn für alle

Dieses Selbstbild müsste sicherlich über den Verweis auf Deutschland als zuverlässigen Partner hinausgehen, den Olaf Scholz immer wieder bemüht. Der Kanzler betrachtet sein Zögern immer noch zuvorderst als Tugend. Das allerdings wird untergraben durch das Tempo, das etwa Verteidigungsminister Boris Pistorius oder auch manche Koalitionspartner vorlegen. Das verwundert auch die internationalen Partner des Kanzlers. Deutschland kann seine Identität nur neu erfinden, wenn es Irritationen dieser Art vermeidet. Für viele von Deutschlands Verbündeten haben dieses nachdenkliche Abwägen und die vorsichtige Justierung von Maßnahmen einen Preis: Dieser Kurs kostet Menschenleben in der Ukraine und schwächt die europäische Abschreckung. Zudem glauben Polen, Briten oder Franzosen, das Vorgehen des deutschen Regierungschefs gehe auch auf ihre Kosten: Olaf Scholz versucht dadurch, ihr Handeln als überstürzt oder gar unzuverlässig darzustellen.

Trotz ihrer scharfen Reaktionen möchten Deutschlands Verbündete keineswegs, dass es scheitert

Trotz ihrer scharfen Reaktionen möchten seine Verbündeten keineswegs, dass Deutschland scheitert. In ihrer vehementen Kritik verbirgt sich eigentlich ein verstecktes Kompliment, denn sie wissen, was für ein Gewinn ein vollständig auf die Gemeinschaft ausgerichtetes Deutschland wäre, das im gleichen Tempo voranschreitet. Sie wünschen sich ein Deutschland, das größer denkt.

Und Deutschland hat schon einmal bewiesen, dass es das kann. In den Siebzigerjahren, nach dem Wirtschaftswunder und dem Wiederaufbau, orientierte sich Westdeutschland nach außen. Auch die sogenannte Westbindung bedeutete damals einen tiefgreifenden Wandel deutscher Identität. 

Neben dem militärischen Beitrag zur Nato hat Deutschland es geschafft, durch die Aufarbeitung seiner Vergangenheit alte Klischees zu verwerfen. Es entstand ein Land, das von vielen bewundert wurde. Auch hier ging es darum, das Etikett quasi neu zu beschriften. Um diese Entwicklung zu schaffen, musste Deutschland die alten Bilder von sich selbst verstehen und mit Kreativität und Mut ein positives neues Abbild entwerfen. Es hat Deutschland 50 Jahre lang geprägt, doch bereits vor Februar 2022 begann es zu bröckeln.

Zugleich wirtschaftliche Großmacht und politischer Zwerg

Es ist schwer, nach den damals hart erkämpften Veränderungen in der deutschen Geschichte wieder neu zu denken. Aber es ist notwendig, wenn Deutschland seinen Partnern zeigen will, dass es bereit ist, sich gemeinsam der Bedrohung durch  autoritäre Regime zu stellen und die geoökonomische, technologische und ökologische Transformation zu bewältigen. Ein neues Stereotyp könnte also wieder helfen. Warum nutzt

Deutschland dafür nicht ein Klischee aus dem Fußball? Es sollte das Bild der »Mannschaft«, oder besser, des »Teamplayers« bedienen. Schließlich ist es eine weltweit bewunderte Fähigkeit der Deutschen, dass sie aus einer Gruppe überdurchschnittlicher internationaler Einzelspieler eine Weltklassemannschaft formen können. »Teamplay« lässt sich ohne Weiteres auf Deutschlands Bündnisse und internationale Partnerschaften übertragen. Es geht dabei um Selbst- und Fremdwahrnehmung und darum, die eigenen Stärken zu nutzen und die Schwächen des anderen auszugleichen. Manchmal gibt man beim gemeinsamen Spiel das Tempo vor, manchmal überlässt man es den anderen. Anstatt darauf zu warten, dass der Kapitän das Spielfeld betritt, ziehen Deutschlands Teamkollegen bereits an einem Strang.

Frankreich zum Beispiel mag sich nicht solch drastischen Veränderungen gegenübersehen wie Deutschland. Aber es hat dennoch erkannt, dass es an der Seite der mittel- und osteuropäischen Staaten anders agieren muss, wenn es innerhalb der Nato eine Führungsrolle übernehmen – und nicht in Konkurrenz zu ihr treten will. Die Regierenden in London wiederum haben verstanden, dass ihre Rhetorik von »Global Britain« nicht für immer über die wirtschaftlichen Probleme und die begrenzten militärischen Fähigkeiten des Landes hinwegtäuschen kann. Beide setzen nun auf Teamarbeit statt auf Sonderwege. Dasselbe gilt auch für kleinere Staaten in Europa. Estland zum Beispiel hat sich auf liberale Werte besonnen und die Verteidigungsausgaben erhöht. Und die Niederlande haben nach dem Brexit erkannt , dass sie nicht mehr »der größte unter

den kleinen EU-Staaten« sind, sondern der »kleinste unter den großen«. In Den Haag kümmert man sich nun um die gesamte Bandbreite europäischer Angelegenheiten und nicht mehr nur um einzelne Themen, man bildet produktive Koalitionen, statt zu blockieren.

Deutschland ringt noch immer mit dem politischen und wirtschaftlichen Stereotyp, das es sich nach dem Zweiten Weltkrieg selbst zugewiesen hat

Im Gegensatz dazu ringt Deutschland noch immer mit dem politischen und wirtschaftlichen Stereotyp, das es sich nach dem

Zweiten Weltkrieg selbst zugewiesen hat – und misst seine Erfolge daran, ob es bereit war, damit zu brechen. Diese selbstbezogene

Sichtweise und die daraus resultierende unbeholfene Kommunikation frustriert die Partner. Statt sich also nun der Schadenfreude über die Unzulänglichkeiten der anderen hinzugeben, sozusagen als Retourkutsche für die Kritik, fürs Bashing, sollte Deutschland, sollte Berlin vielmehr die Neuaufstellung als sensibler Teamplayer wagen – und damit als guter Kapitän. Als solcher erkennt man die Schwächen seiner

Mitspieler und greift rechtzeitig ein, bietet vielleicht auch gesichtswahrende Unterstützung an, statt sich stets bitten zu lassen.

Eine solche Neuaufstellung würde dazu führen, dass den Deutschen von Partnern und Verbündeten mehr Fairness entgegengebracht wird und man gemeinsam Wege findet, stärker und handlungsfähiger zu sein: gemeinsam als Team.

Bibliografische Angaben

Parkes, Roderick, and Benjamin Tallis. “Deutschland muss sich neu erfinden.” August 2023.

Dieser Artikel ist erstmalig am 17. August 2023 im Spiegel erschienen. 

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