Von den 1.070 Deutschen, die sich dem so genannten Islamischen Staat (IS) in Syrien und dem Irak angeschlossen hatten, bleiben noch etwa 30 Männer, 50 Frauen und 150 Kinder in den Lagern der nordostsyrischen Selbstverwaltung AANES. Sie bilden dort die zweitgrößte Gruppe europäischer Staatsbürger nach den Franzosen. AANES und internationale Organisationen fordern seit Jahren die Rückführung der ausländischen Kämpfer und ihrer Familien. Die Bundesregierung und andere westliche Regierungen haben das bisher abgelehnt, unter anderem mit Verweis auf mangelnden konsularischen Zugang sowie die öffentliche Sicherheit. Nachdem Kinder von IS-Angehörigen in der Vergangenheit als „tickende Zeitbomben“ bezeichnet wurden, bringt die Öffentlichkeit jetzt zunehmend Verständnis für die Rückführung der Kinder auf. Mehrere Urteile von deutschen Gerichten haben die Bundesregierung dazu verpflichtet, die Kinder zusammen mit ihren Müttern nach Deutschland zu bringen. Zwischen Oktober 2019 und Dezember 2020 hatte Deutschland trotzdem nur sieben Kinder ausgeflogen, darunter kranke und Waisenkinder sowie eine mutmaßliche IS-Anhängerin.
Erster Schritt in die richtige Richtung
Kurz vor Weihnachten 2020 hat die Bundesregierung die Rückführung von drei deutschen Frauen, deren fünf Kindern und sieben Waisenkindern organisiert. Die Aktion wurde zusammen mit den finnischen Behörden organisiert, die zwei Frauen und sechs Kinder zurückführten. Die Frauen und Kinder waren von Vertretern der kurdischen Selbstverwaltung an eine Delegation des Auswärtigen Amts übergeben und über den Irak in einem gecharterten Flugzeug nach Deutschland geflogen worden. Diese Rückführung geschah laut Außenminister Heiko Maas aus humanitären Gründen: Alle Kinder seien als besonders schutzbedürftig eingestuft worden, einige seien krank. Zwar holte auch Frankreich Mitte Januar weitere zehn „besonders schutzbedürftige“ französische Kinder aus den kurdischen Lagern in Nordsyrien zurück. Allerdings wurden die Kinder ohne ihre Mütter zurückgebracht.
Deutschland ist – neben Finnland und Italien – das einzige europäische Land, das nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Frauen zurückgeführt hat. Dabei wurde wohl in Kauf genommen, dass gegen die Frauen strafrechtlich ermittelt wird, jedoch nicht immer Haftbefehle vorlagen. Nach ihrer Ankunft in Frankfurt wurde nur die 21-jährige Leonora M. festgenommen: Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe ermittelt gegen sie wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Beihilfe zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Als 15-Jährige hatte sich M. dem IS angeschlossen und wurde in Rakka die dritte Ehefrau von Martin L., einem der wenigen Deutschen, die dem IS-Geheimdient angehörten. Das Paar soll laut Bundesanwaltschaft eine jesidische Frau und ihre Kinder als Sklaven „gekauft“ und „verkauft“ haben. Mittlerweile ist M. aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Auch gegen die Rückkehrerinnen Merve A. und Yasmin A. wird wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Da gegen beide noch keine Haftbefehle vorliegen, werden sie vorerst auf freiem Fuß bleiben . Alle drei Frauen hatten sich jedoch nicht (nur) als Mütter ihrer Kinder dem IS angeschlossen und sollten deshalb vor Gericht nicht nur in dieser Rolle beurteilt werden.
Möglich und notwendig
Maas betonte, dass die Rückführung „ein Kraftakt [gewesen war], dem Monate intensiver Vorbereitungen und Abstimmungen vorausgingen”. Die Umsetzung hatte sich durch die Corona-Pandemie und langwierige Verhandlungen mit den Kurden verzögert. Die Bundesregierung setzt damit ein wichtiges Zeichen: Sie zeigt, dass sie ihrer internationalen Verpflichtung, schutzbedürftige Kinder zurückzuführen, nachkommt. Die Aktion macht auch deutlich, dass Rückführungen aus Nordsyrien trotz allem auch praktisch möglich sind. Aus vielen anderen Gründen dürfen sie nicht länger hinausgezögert werden.
Dass europäische Staatsbürger ohne formelle Anklage und rechtlichen Beistand in den Lagern und Gefängnissen festgehalten werden, verstößt beispielsweise gegen humanitäres Völkerrecht und internationales Menschenrecht. Immer wieder werden außerdem Ausbruchsversuche organisiert und einzelne Personen (darunter mindestens zwei deutsche Frauen und ihre Kinder) entkommen aus den Lagern, die entweder unerkannt nach Europa zurückkehren oder sich den verbleibenden Kräften des IS anschließen könnten. Dieses Risiko ist angesichts eines Wiedererstarken des IS in der Region besorgniserregend. Zudem gelten die Lager als „fruchtbarer Nährboden für die dschihadistische Sozialisation von Kindern“ bzw. „Rekrutierungspool für (spätere) IS-Terroristen“. Dazu kommen die vor allem für Kinder unzumutbaren sanitären Zustände und Versorgungsdefizite in den Lagern. Diese Situation wird durch Covid-19 verschärft. Auch die Idee eines internationalen Tribunals für die Strafverfolgung vor Ort ist keine praktikable Lösung, vor allem aus zeitlichen und Kostengründen. Und schließlich verdienen die Opfer des IS eine rechtsstaatliche Strafverfolgung und Aufarbeitung der Verbrechen.
Was jetzt passieren muss
Konkret sollte die Bundesregierung deshalb schnellstmöglich alle verbliebenden 150 deutschen Kinder zurück nach Deutschland holen und andere europäische Regierungen bei ähnlichen Bemühungen unterstützen. Die Rückführung sollte, wenn möglich, zusammen mit mindestens einer Bezugsperson organisiert werden. Andernfalls ist eine (weitere) Traumatisierung der Kinder zu befürchten, die auch einer Reintegration in die deutsche Gesellschaft entgegenwirkt. Die in mehreren deutschen Bundesländern existierenden Rückkehrkoordinatorinnen und -koordinatoren müssen über die Rückholaktionen informiert sein, um ein gesamtheitliches Fallmanagement zusammen mit zuständigen Stellen in Justiz, Jugend- und Sozialamt, Schule bzw. Kindergarten, der psychosozialen Grundversorgung und Beratungsstellen für Extremismusprävention zu ermöglichen. Wichtig ist auch, dass die Mediatisierung und mögliche Stigmatisierung der Kinder in Schule und Kindergarten verhindert werden, um ihre Reintegration nicht zu erschweren.
Zweitens dürfen die rückkehrenden Frauen nicht nur als Mütter dieser Kinder betrachtet werden. Genau wie männliche IS-Anhänger müssen die deutschen Behörden zu ihrer Rolle beim IS unabhängig von ihrer Rolle als Mutter ermitteln und wenn möglich Anklage erheben. Bisher wurden zehn Rückkehrerinnen von deutschen Gerichten verurteilt, fast alle für die Unterstützung oder Mitgliedschaft einer ausländischen terroristischen Vereinigung.
Drittens darf sich Deutschland nicht nur um die Rückführung dieser „einfachen Fälle“ von Minderjährigen kümmern. Vielmehr muss die Bundesregierung die kontrollierte Rückführung, Strafverfolgung und Reintegration aller verbleibenden deutschen Staatsbürger organisieren.
Nicht alle Rückkehrenden werden Haftstrafen erhalten und es wird nicht eindeutig festzustellen sein, ob sich Rückkehrende wirklich von der Ideologie des IS distanziert haben. In einigen Fällen wird deshalb eine personell aufwendige Überwachung notwendig sein. Im schlimmsten Fall könnte es auch zu einem Angriff eines IS-Anhängers kommen – Rückkehrer oder nicht –, wie zuletzt der Messerangriff eines entlassenen syrischen Straftäters in Dresden gezeigt hat. Diese Bedenken müssen ernst genommen und das Risiko durch eine enge Zusammenarbeit aller Akteure minimiert werden. Sie sind jedoch kein Argument gegen die Rückführung deutscher Staatsbürger.
Vor kurzem antwortete der finnische Botschafter in Deutschland, Jussi Tanner, auf die Frage, ob eine Rückführung aus den Lagern möglich sei: "Ich denke, man kann mit Sicherheit sagen, dass es nicht unmöglich ist." Die Rückführung europäischer Staatsbürger ist somit keine rechtliche oder logistische Frage, sondern eine Frage des politischen Willens. Deutschland muss, so schwer das ist, die Verantwortung für seine Staatsbürger übernehmen. Nur durch eine Rückführung kann die Bundesregierung vermeiden, dass unschuldige Kinder für die Entscheidungen ihrer Eltern büßen müssen. Die meisten der betroffenen Kinder sind jünger als fünf Jahre und haben somit trotz ihrer bisherigen, oft traumatisierenden Erfahrungen eine gute Chance, sich erfolgreich sozial zu integrieren. Nur durch die Rückführung können Sicherheitsbehörden außerdem das tatsächliche Sicherheitsrisiko von mutmaßlichen IS-Anhängern einschätzen und die Strafverfolgung aktiv vorantreiben, wie in bisherigen Fällen bereits erfolgreich getan. Und schließlich haben europäische Länder möglicherweise nie wieder eine so gute Chance auf ihre Distanzierung und Deradikalisierung.