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31. Juli 2020

Deutsche EU-Präsidentschaft: Aussichten für die Ukraine

Die besonderen Beziehungen der Ukraine zu Deutschland, sowohl als Wirtschaftspartner als auch als Schlüsselakteur in den Gesprächen im Rahmen des Normandie-Formats zum Konflikt im Donbass, haben hohe Erwartungen der Ukraine an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft geweckt. Aber entsprechen sie den Prioritäten Deutschlands für die nächsten sechs Monate? In einigen Fällen tun sie das, aber nicht in vielen. Eine sehr ehrgeizige deutsche Agenda für die EU-Ratspräsidentschaft bedeutet weniger Konzentration auf die wichtigsten Herausforderungen der Ukraine - die Bekämpfung des Krieges im Donbass und die Erholung der ukrainischen Wirtschaft nach der Corona-Pandemie.

Hintergrund

Am 1. Juli hat Deutschland turnusmäßig für sechs Monate die Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union (EU) übernommen. Diese Verantwortung fällt in eine Zeit, in der die EU vor beispiellosen Herausforderungen steht, wobei die Corona-Pandemie und ihre sozioökonomischen Folgen andere Probleme klar überschattet. Auch die Erwartungen an die deutsche Präsidentschaft während der letzten Regierung unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel sind kolossal, nicht nur innerhalb der EU, sondern auch an dessen Ostgrenzen.

Deutschlands globale Prioritäten

Deutschland hat eine umfangreiche Agenda für seine EU-Ratspräsidentschaft angekündigt. Oberste Priorität hat dabei die Notwendigkeit, die Pandemie zu bekämpfen und mit ihren potenziell verheerenden Auswirkungen sowohl für die EU als auch für ihre Mitgliedstaaten wirksam umzugehen. Weitere Schlüsselprioritäten sind der Abschluss der Verhandlungen über den nächsten EU-Haushalt, der Klimaschutz, die Reform der EU-Asylpolitik, die digitale Transformation und nachhaltige Wirtschaftspolitik („green economy“).

Im Bereich der Außenpolitik will Berlin die Verbesserung der transatlantischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten mit dem Schwerpunkt Handel vorantreiben, bei der Aushandlung eines Investitionsschutzabkommens weitere Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit China sondieren, die Beziehungen zum Vereinten Königreich nach dem Brexit regeln und den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien vorbereiten.

Deutschlands Prioritäten gegenüber der Ukraine

Während der EU-Ratspräsidentschaft wird Deutschland die Ukraine weiterhin sowohl bei den Friedensverhand-

lungen im Donbass-Konflikt als auch bei der Förderung von Wirtschaftsreformen unterstützen. Diese Schwerpunkte kündigte Bundesaußenminister Heiko Maas nach Gesprächen mit dem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba am 2. Juni in Berlin an.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigte auf einer Veranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung die Notwendigkeit, die EU-Sanktionspolitik gegenüber Russland beizubehalten. Aus deutscher Sicht muss die Sanktionspolitik so lange aufrechterhalten werden, bis Fortschritte bei der Konfliktlösung im Donbass zu verzeichnen sind. Zugleich signalisierte die Bundeskanzlerin Interesse an neuen Impulsen für den Dialog zwischen der EU und Russland. Bislang ist unklar, in welcher Form diese zum Tragen kommen und welche Auswirkungen sie auf die Ukraine haben werden.

Deutschland ist auch bereit, während seiner EU-Ratspräsidentschaft ein weiteres Gipfeltreffen im Normandie-Format auszurichten. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Treffen stattfinden wird, hängt jedoch von der Erfüllung der Vereinbarungen ab, die zwischen der Ukraine und Russland während des letzten Gipfels in Paris im Dezember 2019 getroffen wurden. 

Im Zusammenhang mit den Reformen in der Ukraine sind für Deutschland Dezentralisierung, Wirtschaft, Energie, Justiz und der Aufbau von Institutionen die wichtigsten Bereiche, bei denen Fortschritte erwartet werden. Diese scheinen auch der Hauptschwerpunkt der deutschen Unterstützung für die Ukraine zu sein, so eine aktuelle Umfrage. Darüber hinaus hat die deutsche Botschafterin in der Ukraine, Anka Feldhusen, kürzlich die Dezentralisierungs- und die Justizreform als die beiden wichtigsten Prioritäten für Berlin genannt.

Schließlich will Deutschland auch die Politik der Östlichen Partnerschaft der EU fördern, insbesondere in Bezug auf die Ukraine. Dazu gehört vor allem die Unterstützung bei der Überwindung der Auswirkungen der Pandemie. 

Die Erwartungen der Ukraine

Für die Ukraine ist Deutschland nach der EU und den USA der drittgrößte internationale Geber, außerdem neben den Vereinigten Staaten und Polen einer der drei wichtigsten Partner. Zum ersten Mal seit fünf Jahren hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im Dezember 2019 den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko überholt, wenn es um die Beliebtheitsrangliste ausländischer Politiker in der Ukraine geht. Damit sind die Erwartungen der Ukraine an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sehr hoch.

Eine der wichtigsten Prioritäten für die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine in diesem Jahr ist die Unterzeichnung des Abkommens über die Konformitätsbewertung

Konformitätsbewertung und Anerkennung industrieller Zertifizierung („ACAA-Abkommen“). Die Ukrainer erwarten in dieser Hinsicht einen Durchbruch, nämlich die Unterzeichnung des Abkommens im Assoziationsrat während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft. Dies ist eine Schlüsselpriorität von Präsident Volodymyr Zelenskyi, der sich eine aktivere Präsenz ausländischer Investoren in der Ukraine wünscht. Im ersten Jahr seiner Präsidentschaft hat sich der Schwerpunkt der ukrainischen Außenpolitik gegenüber Deutschland von der „Suche nach Verbündeten“ zur Unterstützung im Donbass-Konflikt - einer Schlüsselpriorität unter Ex-Präsident Petro Poroschenko - auf die „Suche nach Investoren“ verlagert.

Doch trotz dieses wirtschaftlichen Schwerpunkts konzentriert sich der Dialog mit Deutschland auf hoher politischer Ebene größtenteils auf Fragen im Rahmen des Konflikts im Donbass. Die ukrainischen Behörden haben in Bezug auf eine Lösung des Konflikts besonders hohe Erwartungen an Deutschland. Diese Erwartungen beziehen sich hauptsächlich auf die Unterstützung mehrerer Schlüsselpositionen der Ukraine im Verhandlungsprozess mit Russland. Kiew hofft, dass Berlin dazu beitragen wird, (i) die Position bezüglich der Flexibilität des Minsker Formats zu verteidigen, wobei ein Kernpunkt für die Ukraine darin besteht, die Grenzkontrolle zusammen mit ausländischen Partnern vor den Wahlen zu sichern; (ii) humanitären Organisationen (Rotes Kreuz) Zugang zu den besetzten Gebieten zu gewähren; eine Vereinbarung, die auf dem Gipfel des Normandie-Formats in Paris getroffen, aber nie umgesetzt wurde; und (iii) Druck auf Moskau auszuüben, um den Austausch von Gefangenen zu erleichtern.

Kiew hofft auch, dass Deutschland während seiner EU-Ratspräsidentschaft ein klares Signal für die europäische Zukunft der Ukraine geben wird. Es ist wahrscheinlicher, dass der Höhepunkt des Gipfels die Unterzeichnung eines Abkommens über einen gemeinsamen Luftverkehrsraum wäre, dass zuvor wegen des Konflikts zwischen dem Vereinigten Königreich und Spanien über den Status des Flughafens von Gibraltar blockiert war.

Aufgrund der beispiellosen Herausforderungen, vor denen Europa steht, schaffen es die Sorgen der Ukraine nicht auf die Liste der obersten Prioritäten. Deutschland ist zwar bereit, die Unterstützung Europas für die Sanktionen gegen Russland aufrechtzuerhalten und ein weiteres Gipfeltreffen im Normandie-Format auszurichten, falls Fortschritte bei früheren Zusagen verzeichnet werden, ist aber auch daran interessiert, mehr Möglichkeiten für ein selektives Engagement mit Russland zu finden. Dies könnte die gemeinsame Sprache der EU gegenüber Russland aufweichen, was den Interessen und der Verhandlungsmacht der Ukraine bei künftigen Verhandlungen über die Beilegung des Donbass-Konflikts zuwiderlaufen würde.



 

Bibliografische Angaben

Gherasimov, Cristina. “Deutsche EU-Präsidentschaft: Aussichten für die Ukraine.” German Council on Foreign Relations. July 2020.

Dieser Text wurde zuerst im Juli 2020 von German Economic Team (Newsletter No 141) veröffentlicht.

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