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04. Okt. 2024

Barnier ist ein Regierungschef auf Abruf

Französischer Premierminister Barnier im Parlament

Zu Wochenbeginn stellte sich Frankreichs neuer Premier Michel Barnier dem Parlament. Seine Regierungserklärung und die Reaktionen der Oppositionsparteien zeigten deutlich, dass er eine Randfigur bleiben wird.

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Erste Schritte in der neuen Welt

Der älteste Regierungschef der Geschichte der Fünften Republik machte am Montag mit dem neuen Ton im französischen Parlament Bekanntschaft. Während seiner Rede war Barnier den vielen Zwischenrufen noch mit demonstrativer Gelassenheit begegnet. Doch dann gab er zu, an Mathilde Panot, Fraktionsvorsitzende der „unbeugsamen“ Linksaußen gewandt, wie sehr er von dem aggressiven Stil überrascht sei, den Panot wie viele jüngere Parlamentarier pflegt. Je aggressiver sie auftrete, desto respektvoller werde er, Barnier, reagieren.

Die elegante Replik wurde von den Medien dankbar aufgegriffen. Schließlich ist es genau diese Qualität, die Barnier überhaupt erst ins Amt gebracht hat: Sein seriöses Auftreten und die Hoffnung, dass er die zutiefst zerstrittenen Blöcke der französischen Politik zum Wohle seines Landes wenigstens kurzzeitig versöhnen kann. Dem neuen Regierungschef bleibt dabei keine andere Wahl: Ohne eine eigene Mehrheit ist seine beruhigende, fast großväterliche Art seine politische Lebensversicherung.

Übergang in eine neue Epoche

Vorerst also Punktsieg für Barnier, der Panot in den Augen der französischen Öffentlichkeit wie eine schlecht erzogene Schülerin dastehen ließ. Doch dem Premier, der seit seiner Ernennung gerne als „Gentleman“ beschrieben wird, war die Verunsicherung teilweise ins Gesicht geschrieben. Bereits vor seinem Amtsantritt hatten enge Vertraute Barniers gewarnt, der ehemalige Abgeordnete werde von dem neuen Stil französischer Politik überrascht sein. Der hat sich, seit Barnier 1993 die Nationalversammlung verließ, radikal verändert. Persönliche Angriffe sind zum Alltag geworden und im Parlament sitzen auch verurteilte Straftäter.

Die Regierungserklärung und die Reaktionen der Fraktionsvorsitzenden zeigten deutlich, dass hier zwei Epochen französischer Politik aufeinandertrafen. Das breit mediatisierte Duell zwischen Barnier und Panot bestätigte zudem eindrücklich, wer von den instabilen Mehrheitsverhältnissen in dieser Übergangszeit der französischen Politik am meisten profitieren dürfte: Marine Le Pen und ihre Rechtsaußen-Partei Rassemblement National (RN). Während sich die Kameras und Kommentatoren nämlich dem Zweikampf zwischen alter und neuer Welt, den schrillen Vorwürfen Panots und den bedächtigen Entgegnungen Barniers widmeten, war Le Pen die lachende Dritte: Sie kam der Verbürgerlichung des RN am Montag erneut ein großes Stück näher.

Die Wandlung Le Pens

Denn Barnier war durchaus nicht der einzige Politiker, der durch Gelassenheit punktete. Als Marine Le Pen das Rednerpult nach ihrer Entgegnung auf seine Regierungserklärung verließ, drängten sich zwei entscheidende Beobachtungen auf: Der RN-Fraktionsvorsitz ist eine Schlüsselposition der französischen Politik geworden, Le Pen sprach als erste Parlamentarierin, begleitet vom Applaus der Abgeordneten der größten Einzelfraktion der Nationalversammlung. Und: Der Wahlerfolg der Neuwahl im Juli hat ihr Auftreten deutlich verändert, auch wenn es weder für eine absolute noch für eine relative Mehrheit reichte. 

Le Pen hielt eine staatsmännische, eine großzügige Rede. Wenig erinnerte an den Stil, den viele Wähler bisher mit der ewigen Zweiten der französischen Politik verbanden. Das war nicht mehr die laute, die aggressive und verbitterte Stimme der Fundamentalopposition, ganz im Gegenteil. Le Pen sicherte Barnier die Unterstützung und den gutem Willen ihrer Partei zu, im Interesse Frankreichs, natürlich. Sie wolle dem Premier eine Chance geben, der für das „Kartenhaus“ hafte, das Emmanuel Macron in den vergangenen sieben Jahren seiner Präsidentschaft errichtet habe. Sie lobte Barnier sogar, begrüßte seinen Willen, mit allen Seiten in den Dialog zu treten – eine Qualität, die „selten geworden“ sei.

Vergiftete Komplimente

Das Kompliment war vergiftet. Le Pen ist sich ihrer neuen Macht bewusst und wird sie in den nächsten Monaten gnadenlos nutzen. Als sich vor kurzem der neue Finanzminister Frankreichs, Antoine Armand, weigerte, das RN zu parteiübergreifenden Gesprächen zu empfangen, wurde er umgehend von Barnier zurechtgewiesen, der sich anschließend telefonisch bei Le Pen entschuldigte. Doch während Le Pen ihren Einfluss früher triumphierend dem Plenum entgegengeschleudert hätte, begnügt sie sich jetzt mit ironischen Anspielungen. Das ist die neue Gelassenheit einer Fraktionsvorsitzenden und ihrer Partei, die weiß, dass die Zeit für sie spielt, das war unübersehbar. 

Die Unterschiede zu Deutschland und zum Umgang mit der Alternative für Deutschland (AfD) sind frappierend. Die Wahlerfolge in den Landtagswahlen haben keine Gelassenheit gebracht. Der Streit um die Geschäftsordnung im Thüringer Landtag steht stellvertretend für eine Politik, die mit sich selbst beschäftigt ist, statt die immer drängenderen Probleme anzugehen. Und während die AfD mit allen Mitteln versucht, gegen den Widerstand der von ihr so bezeichneten „Altparteien“ in die Mitte der deutschen Politik vorzustoßen, ist das RN in Frankreich längst dort etabliert. Das wurde in der Nationalversammlung zu Beginn der Woche erneut sehr deutlich. 

Bibliografische Angaben

Ross, Jacob. “Barnier ist ein Regierungschef auf Abruf .” German Council on Foreign Relations. October 2024.

Dieser Artikel ist ist in leicht redigierter Fassung erstmals am 3. Oktober 2024 auf Tagesspiegel.de erschienen.

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