Am 30. Juni steht die erste Runde der Neuwahl der französischen Nationalversammlung an. Die hatte Präsident Emmanuel Macron noch am Abend der Europawahl aufgelöst, als Reaktion auf das desaströse Ergebnis seiner Partei und ihrer Verbündeten, die von den Rechtsaußen des Rassemblement National (RN) mit Abstand auf den zweiten Platz verwiesen worden waren. Es folgte eine Woche hektischer Verhandlungen, geprägt von Intrigen und Wendungen, die eines Polit-Thrillers würdig waren.
Macron hat dieses Chaos vorhergesehen, wahrscheinlich hat er es sogar einkalkuliert. Seine Entscheidung am Wahlabend war alles andere als impulsiv. Er wusste, dass in kürzester Zeit Kandidatenlisten eingereicht und Bündnisse geschmiedet sein mussten. Er setzte auf die Zerstrittenheit der französischen Politik, die traditionellen Parteien links und rechts sind Schatten ihrer selbst.
Sozialisten und Republikaner sind zunehmend von Extremen unterwandert, rechts vom RN, links von La France Insoumise (LFI). Macron hat diese Entwicklung gefördert, sie hat ihm 2017 und erneut 2022 den Wahlsieg gesichert. Nun soll sie ihn ein weiteres Mal retten: Er verkörpert die Mitte, und den Franzosen bleibt die Wahl zwischen ihm und dem Chaos. Doch alles deutet darauf hin, dass sich Macron verkalkuliert hat.
Die Chuzpe, die ihn an die Macht brachte und seither durch zahlreiche Krisen, sie wirkt plötzlich vermessen. Enge Verbündete, sein Premier Gabriel Attal etwa, versuchten bis zuletzt, ihn von seinen Plänen abzubringen. Vergeblich: Obwohl Macron bereits im Europawahlkampf deutlich zur Belastung für seine Partei wurde, scheint er überzeugt, das Glück ein letztes Mal zu seinen Gunsten wenden zu können. Er erinnert an Bonaparte, der in Waterloo noch einmal die Entscheidung suchte, seine Soldaten sinnlos opferte.
Macron erliegt gleich einer doppelten Illusion. Mit Blick auf die politischen Gegner, die die Aussicht auf Revanche schneller geeint hat als gedacht. Vor allem aber mit Blick auf seine Mitbürger. In der aktuellen Situation Frankreichs und der EU war es für Macron und seine Berater offenbar unvorstellbar, dass die Wähler den Rechts- oder Linkspopulisten zur Mehrheit verhelfen könnten. Dafür ist die Lage in der Ukraine zu ernst, ökonomische Kennzahlen Frankreichs zu instabil. Doch sie täuschen sich.
Staatsbesuch wirkte wie ein Abschied
Seit dem RN-Wahlsieg von Sonntag ist spürbar ein Damm gebrochen. Abend für Abend erklären Franzosen in den Nachrichten, warum der RN diesmal eine Option ist. Dass Berlin von dem Szenario eines RN-Regierungschefs überrumpelt wird, überrascht. Umfragen kündigten seit Jahresbeginn eine Niederlage Macrons an, deren Ausmaß auch innenpolitische Folgen vermuten ließ.
Zugegeben, die Ankündigung der Neuwahl sahen die Wenigsten voraus. Doch sie beschleunigt lediglich einen Trend, der sich bereits seit Längerem abzeichnet. Bereits im vergangenen Jahr hatte Macron ein Misstrauensvotum nur knapp überstanden. Entsprechend düster klangen seine Reden zuletzt – im April zum Beispiel, als er in der Pariser Sorbonne-Universität die Zukunft Europas skizzierte. Sein Staatsbesuch, Ende Mai, wirkte teils schon wie ein Abschied.
Dass Berlin überrascht ist, wirft Fragen auf. Denn während die Folgen einer möglichen Rückkehr Donald Trumps seit Monaten diskutiert werden, scheint die prekäre Lage des engsten EU-Partners aus dem Blick geraten zu sein. Dabei gibt es gute Gründe für die Annahme, dass eine RN-Präsidentschaft ab 2027 dramatischere Folgen für Deutschland und die EU hätte als die Rückkehr Trumps.
Trotzdem wirkt die Bundesregierung auf eine mögliche RN-Regierungsbeteiligung genauso wenig vorbereitet wie 2016 auf den Brexit oder den ersten Sieg Trumps. Das hat zwei Gründe. Politische Debatten in Deutschland und Frankreich unterscheiden sich grundsätzlich, der Umgang mit den Rändern des Parteienspektrums ist vollkommen anders.
Während in Deutschland die Trennung in „demokratische Parteien“ einerseits und die AfD andererseits in Kommentierungen zum guten Ton gehört, ist es in Frankreich undenkbar, dem RN demokratische Legitimität abzusprechen. Eine Entsprechung zur Brandmauer gibt es zwar, in Frankreich ist es der „cordon sanitaire“. Die Trennlinie verläuft aber thematisch, nicht demokratietheoretisch.
Ein zweiter Grund für die Überraschung ist die Tabuisierung von Positionen, die eigenen Überzeugungen widersprechen. Die betrifft bei Weitem nicht nur die französische Politik. In Berlin ist es schwierig, ernsthaft Szenarien zu diskutieren, in denen sich die EU radikal verändert und Nationalstaaten an Gewicht gewinnen. Diese Dogmatik macht die nüchterne Analyse von Parteien schwierig, die diese Positionen vertreten. Und sie verhindert damit die Vorbereitung auf Szenarien, in denen sie triumphieren.