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21. März 2012

Industriepolitik: Tour de France durch die Fabrikhallen

Präsidentschaftswahlkampf 2012 in Frankreich

Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass die Herkunftsbezeichnung „Made in France“ zu einem der wichtigsten Themen des nächsten Wahlkampfs avanciert? Zur Präsidentschaftswahl 2007 war die Kaufkraft der Franzosen noch das bestimmende Wahlkampfthema.

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Wer hätte vor fünf Jahren gedacht, dass die Herkunftsbezeichnung „Made in France“ zu einem der wichtigsten Themen des nächsten Wahlkampfs avanciert? Zur Präsidentschaftswahl 2007 war die Kaufkraft der Franzosen noch das bestimmende Wahlkampfthema. Indem der Kandidat Nicolas Sarkozy damals Maßnahmen wie eine Steuerbefreiung von Überstunden, Steuererleichterungen oder die Aufwertung von geringen Renteneinkommen verteidigte, beabsichtigte er, die Kaufkraft der Konsumenten zu steigern. Die politische Linke hingegen setzte sich damals dafür ein, den monatlichen Mindestlohn auf 1500 Euro anzuheben. Fünf Jahre und zwei Finanzkrisen nach diesen Vorschlägen hat sich die Tonlage in Frankreich deutlich verändert. Mittlerweile beschäftigt die Frage der Sicherung von Arbeitsplätzen die Menschen stärker als eine mögliche Kaufkraftsteigerung. Die Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie hat die Angst vor einem Verlust der Kaufkraft verdrängt.

Nicolas Sarkozy (UMP) beim Skihersteller Rossignol, François Hollande (PS) in Florange, wo Arcelor Mittal vorübergehend zwei Hochöfen geschlossen hat, Marine Le Pen (FN) in Sochaux bei Arbeitern von Peugeot, Jean-Luc Mélenchon (Front de Gauche) in einer Produktionsstätte von Alstom in Belfort – der Präsidentschaftswahlkampf 2012 kommt einer „Tour de France“ durch die Fabrikhallen gleich, bei der sich die Kandidaten um das gelbe Trikot – den Erhalt von Industriearbeitsplätzen – streiten. Kaum eine Woche vergeht, in der sich nicht einer der Kandidaten in einer Produktionsstätte zeigt, um Unterstützung für Arbeiter zu leisten, denen die Entlassung droht, oder eine neue Maßnahme zu verkündigen, mit der die schleichende Deindustrialisierung des Landes aufgehalten werden soll.

Der Staat als Retter

Das Thema „Made in France“, das bisher extremistischen Parteien als exklusives Wahlkampfthema vorbehalten war, findet mittlerweile in den Wahlkampfreden aller Kandidaten einen zentralen Platz. Auf den Wahlkampfspruch „französisch einkaufen“ von François Bayrou und Marine Le Pen antwortet Nicolas Sarkozy mit seinem Slogan „französisch produzieren“. Unter dem Hinweis, dass Protektionismus die schlechteste aller Lösungen sei, fügt er hinzu: „An wen verkaufen wir, wenn alle Länder dies (den Vorschlag Bayrous) sagen würden?“. Allen Kandidaten ist dabei die Schließung der belgischen Renault-Fabrik in Vilvoord im Jahr 1997 und die das ungeschickte Agieren des sozialistischen Premierministers Lionel Jospin als abschreckendes Beispiel in Erinnerung. Dieser hatte damals geäußert: „Der Staat kann nicht alles leisten“. Um jeglichen Bezug zur Schließung in Vilvoord zu vermeiden, plädiert François Hollande für einen „industriellen Patriotismus“ und bekräftigt seinen Willen, die „staatlichen Interventionen zu stärken“.

Während ein deutscher Minister durch die Erklärung, dass die Rettung von Opel durch staatliche Hilfen eher unvernünftig sei, öffentliche Zustimmung gewinnen kann, ist in Frankreich das Gegenteil der Fall. Die Wählerschaft, besonders unter den Arbeitern und in der Mittelschicht, träumt von einem Staat, der als Retter auftritt und sich gegen die liberale Logik des Marktes stellt, um die Arbeitnehmer vor den Auswirkungen der Globalisierung zu schützen. Häufig hört man in Industrieunternehmen, die sich in Schwierigkeiten befinden, den Satz: „Und was macht der Staat?“. Die Präsidentschaftskandidaten nutzen diese Ängste, um bei der Wählerschaft angesichts der Wirtschaftskrise zu punkten. Statt sich darüber zu freuen, dass ein französisches Unternehmen internationale Marktanteile gewinnt, wenn Renault eine Fertigungsstätte im marokkanischen Tanger eröffnet, gehört es zum guten Ton unter Politikern, Renault des „Sozialdumpings“ und des „unmoralischen Verhaltens“ zu bezichtigen. Aber auch unter wohlhabenden Franzosen findet das Thema „Made in France“ Anklang. Diese sind sich bewusst, dass die Wirtschaft des Landes nicht lediglich auf dem Konsum beruhen kann. Insbesondere wenn dieser zusätzlich durch öffentliche Subventionen angekurbelt wird, führt ihrer Meinung nach ein solches Wirtschaftsmodel zwangsläufig zu einem Anstieg der Staatsverschuldung.

Vorbild Deutschland?

Die Finanz- und Staatsschuldenkrise hatten einen Schockeffekt auf die öffentliche Meinung in Frankreich. Entlassungspläne, stark mediatisierte Restrukturierungsmaßnahmen (Molex, Continental, Fonderie de Poitou und die Raffinerie Petroplus) und Standortverlagerungen in der Automobilindustrie haben die Gemüter bewegt. Mit der Krise wurde den Franzosen der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie ebenso bewusst wie die Geschwindigkeit, mit der die Schwellenländer ihren Rückstand aufholen. Alle neuen Statistiken, die diesen Niedergang bestätigen, werden mit großer Sorgfalt beobachtet: ein Außenhandelsbilanzdefizit von 70 Mrd. Euro in 2011 (im Gegensatz zu 52 Mrd. in 2010), der Verlust von ungefähr 750.000 industriellen Arbeitsplätzen in den vergangenen zehn Jahren, ein sinkender Anteil der Industrie am BIP, während der Anteil in Deutschland stabil bleibt. In noch nicht dagewesener Form haben die konservativen politischen Kräfte in Frankreich ihre beinahe grenzenlose Begeisterung für das „deutsche Modell“ zum Ausdruck gebracht. Dabei zeigen sie sich vor allem von der dynamischen Exportentwicklung und der Kapazität zur Reduzierung des Staatsdefizits in Deutschland beeindruckt. Obwohl das französische Industriemodel seit Jahrzehnten auf einem staatlichen Interventionismus durch große öffentliche Programme beruht (wie die Nukleartechnik oder der TGV), erklären sie es nun für wünschenswert, dass die französische Wirtschaft wie die deutsche funktioniert. Besonders erstrebenswert sei ein Mittelstand nach deutschem Vorbild, der es versteht, Exportanteile hinzuzugewinnen. Zudem sollten sich die Unternehmen auf hochwertige Produkte spezialisieren und das französische Steuersystem müsse dem deutschen angeglichen werden. Wen kümmert es dabei, dass die Unterschiede der Wirtschaftsstruktur der beiden Länder auf einer jahrhundertealten Geschichte beruhen und vom Colbertismus (Zentralisierung, Elitismus) auf der einen und der bundesstaatlichen Verfasstheit des Grundgesetzes auf der anderen Seite geprägt sind?

Die Bewunderung, die Deutschland besonders innerhalb der UMP und unter den Arbeitgebern auslöst, gilt vor allem der Art und Weise, wie Deutschland in den vergangenen zehn Jahren die Lohnkosten gezügelt hat. So stiegen im Vergleich im Verlauf der vergangenen zehn Jahre die Arbeitskosten in Frankreich deutlich an. Frankreich verfügt darüber hinaus durch die Indexierung des Mindestlohnes nicht über dieselbe Flexibilität in der Lohnpolitik wie Deutschland, wo die Lohnsteigerungen in den verschiedenen Branchen ausgehandelt werden.

TVA sociale

Die sogenannte „TVA sociale“, eine Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um 1,6 Prozentpunkte bei gleichzeitiger Absenkung der Sozialabgaben für die Arbeitgeber, ist die Maßnahme, die am meisten vom „deutschen Model“ beeinflusst scheint. Obwohl sich Nicolas Sarkozy während seiner fünfjährigen Amtszeit stets gegen eine solche Maßnahme ausgesprochen hatte, kam es nur wenige Monate vor den Präsidentschaftswahlen zu einem plötzlichen Stimmungswandel in dieser Frage. Die „TVA sociale“ wurde von der französischen Nationalversammlung in einer Dringlichkeitssitzung noch Anfang 2012 verabschiedet, so dass sie zum 1. Oktober 2012 in Kraft treten kann. Allerdings kündigten die Sozialisten umgehend an, die Maßnahme rückgängig zu machen, wenn sie im Mai an die Macht kämen. Der UMP-Spitzenkandidat hat die Idee zur Schaffung eines „Pakts zur Wettbewerbsfähigkeit und für Beschäftigung“, der es Unternehmen ermöglichen soll, die Arbeitszeit zu erhöhen oder die Löhne zu senken, ebenfalls aus Deutschland übernommen. Anders als in Deutschland kommt es in Frankreich bislang sehr selten vor, dass Unternehmen, die sich in Schwierigkeiten befinden, eine Erhöhung der Arbeitszeit ohne gleichzeitige Lohnsteigerung verhandeln.

François Hollande, der die „TVA sociale“ unter dem Hinweis ablehnt, dass diese ärmere Bevölkerungsschichten benachteilige, sieht zum einen vor, die Arbeitskosten zu steigern, zum anderen eine Hilfe von fünf Mrd. Euro für mittelständische und exportorientierte Unternehmen zu schaffen. Der sozialistische Kandidat möchte dabei die Finanzierung der Industrie durch ein „Industriesparbuch“ unterstützen, das auf dem Model aufbaut, das bereits für die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus benutzt wird. Er setzt darauf, eine differenzierte Steuerquote für kleinere und größere Unternehmen einzuführen. Schließlich möchte François Hollande ein Gesetz verabschieden, das Firmen, die eine Fertigungsstätte schließen möchten, zum Verkauf dieser Fabriken zwingen soll, sodass sie weiter in Betrieb gehalten werden können.

Im Hinblick auf diese Debatte versuchen auch die Kandidaten der kleineren Parteien, ihren Platz zu finden. So verteidigt etwa François Bayrou (Modem), um seinen Slogan „französisch einkaufen“ zu unterstützen, die Einführung eines französischen Warenzeichens, das Produkte kennzeichnen soll, die mindestens zur Hälfte in Frankreich produziert wurden. Der Front National und die Linkspartei schlagen die Wiedereinführung von Zöllen und die Bevorzugung mittelständischer französischer Unternehmen bei Ausschreibungen vor. Die Bedeutung des Themas Deindustrialisierung im französischen Wahlkampf zeigt, dass die Kandidaten das Ausmaß des Problems erkannt haben. Allerdings muss das neue französische Industriemodel jenseits von Wahlkampfmaßnahmen erst noch neu erfunden werden.

Ingrid François-Feuerstein ist Journalistin bei der Wirtschaftszeitung „Les Echos“ und Teilnehmerin des Deutsch-französischen Zukunftsdialogs 2010.

Übersetzung aus dem Französischen: Richard Probst.

Bibliografische Angaben

François-Feuerstein, Ingrid. “Industriepolitik: Tour de France durch die Fabrikhallen .” March 2012.

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