Wer den Einschätzungen der Ölindustrie Glauben schenkt, sieht die USA in einem neuen Ölrausch: Dank neuer Bohrtechniken zur Gewinnung von Erdöl und Erdgas aus Schiefergestein, dem sogenannten Fracking, sei Amerika auf dem Weg zur Energieunabhängigkeit, wird prophezeit. Deshalb werde die Weltmacht das Interesse am Nahen Osten verlieren. Diese Einschätzung nehmen in Europa mittlerweile viele Sicherheitsexperten für bare Münze. Europäer oder Chinesen – so die atemberaubende Schlussfolgerung – müssten bald selbst für Sicherheit im Nahen Osten sorgen, sobald sich die USA dank ihrer Energieunabhängigkeit aus dieser Region zurückziehen.
Fakten und Geopolitik
Wer jedoch die Logik der Energiemärkte und die damit zusammenhängende Geopolitik der USA versteht, gewinnt ein anderes Lagebild. Amerika bleibt bis auf weiteres verwundbar durch fluktuierende und hohe Ölpreise, die es nicht allein beeinflussen kann. Selbst wenn es den USA durch Förderung eigener Ressourcen und politisch gesteuerte massive Einsparungen gelänge, den Importanteil von Öl – und das ist die Achillesferse der Wirtschaft und des Transportsektors in den USA – merklich zu reduzieren, sollte man einen zweiten Aspekt beachten: Die Ölpreise werden international von einem Oligopol namens Opec sowie von Unruhen, Förderengpässen und Nachfrageschüben in anderen Weltregionen beeinflusst. Auf absehbare Zeit bleibt Saudi-Arabien der einzige sogenannte Swing-Producer, der ausreichend Kapazitäten hat, bei Bedarf Erdöl kostengünstig, sehr schnell und in grossen Mengen zu fördern, um damit die Preise in einen niedrigeren, für westliche und asiatische Volkswirtschaften erträglichen Bereich zu drücken – was seit geraumer Zeit geschieht.
Saudi-Arabien ist der einzige Erdöllieferant, dessen Kapazitäten so hoch sind, dass er ohne längere Vorbereitungszeit zwei Millionen Barrel pro Tag zusätzlich fördern könnte, um auf Engpässe anderer Länder oder plötzlich steigende Nachfrage zu reagieren. So kann die Golfmonarchie die Interessen der USA gegen andere, weniger wohlgesinnte Opec-Staaten verteidigen.
Im Gegenzug schützt die Weltmacht USA Saudiarabien militärisch. Sicherheit für Öl lautet der Deal.Wer diese Zusammenhänge kennt, weiss auch, wie besorgt Washington wegen der Unruhen im Nahen Osten ist. Wie lange können die USA gegen den Willen der lokalen Bevölkerungen in der Region autoritäre Regime in Saudi-Arabien und Ägypten stützen, ohne ihre eigene Glaubwürdigkeit vollends zu verlieren? Unabhängig von dieser perspektivischen Frage bleiben weitere Fragen akut: Würde ein Angriff auf Iran – sei es durch Israel und/oder die USA – die Führung in Teheran dazu veranlassen, die Ölwaffe einzusetzen, sprich die Strasse von Hormuz dichtzumachen? Durch dieses Nadelöhr wird ein Grossteil der Ölversorgung westlicher und asiatischer Volkswirtschaften transportiert. Wäre Iran nach einem Angriff zur Sperrung der Wasserstrasse überhaupt noch fähig, und wenn ja, wie lange dauerte es, um die Blockade – auch wenn sie nur durch einen versenkten Tanker verursacht würde – zu durchbrechen?
Eindämmung Chinas
Ist die Zusicherung des saudischen Königshauses, das an einer Beseitigung des iranischen Regimes interessiert ist, glaubwürdig, wonach es die durch eine Blockade der Meerenge von Hormuz verknappten Öllieferungen über den Landweg durch Pipelines kompensieren könnte? Der nächste Fragenkomplex betrifft neben der unsicheren Entwicklung in Ägypten, auf die man insbesondere in Riad mit Argusaugen schaut, die Erbfolge im saudischen Königshaus. Trotz der vermeintlichen Energie-Autarkie der USA und trotz deren Hinwendung nach Asien wird der Nahe Osten für die Weltmacht Amerika weiterhin von zentraler Bedeutung bleiben. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil China seine Energie- und Wirtschaftsinteressen in der Region verfolgt, etwa durch Beziehungen zu Iran und Saudi-Arabien. Und China ist für amerikanische Strategen eine mindestens so grosse potenzielle Bedrohung.
Mittlerweile reinvestieren auch die Opec-Staaten die Petrodollars der USA und der asiatischen Länder nicht mehr im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sondern in China. Das ist umso problematischer, als die Führung in Peking, der Hauptfinancier der exorbitant anschwellenden amerikanischen Staatsschulden, peu à peu ihre Devisenreserven aus der «Dollar-Falle» befreit und durch Anlagen an anderer Stelle diversifiziert. Gleichwohl bleiben die USA und China wirtschafts- und handelspolitisch gegenseitig voneinander abhängig. Eine Schwäche des einen würde unweigerlich auch massive Probleme für den anderen bewirken. Experten, die über den Tellerrand der Sicherheitspolitik im engeren Sinne hinausblicken, hoffen, dass ein Verständnis für diese Interdependenz auch helfen könnte, die sich anbahnende militärische Rivalität zwischen Washington und Peking abzumildern.
Doch wer sich nur die kontinuierlich und massiv steigenden Militärausgaben und das martialische Auftreten Chinas im pazifischen Raum ansieht, muss befürchten, dass es im Reich der Mitte Hardliner gibt, die künftig noch stärker den Ton angeben werden. Auch in Washington können interessierte Kreise die anstehenden Haushaltskürzungen im militärischen Bereich wohl nur noch eindämmen, wenn sie die «gelbe Gefahr» überzeichnen. Es besteht also die Gefahr, dass auf beiden Seiten jeweils von Partikularinteressen motivierte Bedrohungswahrnehmungen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden. Dieses «Great Game» wird auch im Nahen Osten ausgetragen – und auch dies macht einen baldigen Rückzug der USA aus dieser Region unwahrscheinlich.