Die jüngsten Wirtschaftsprognosen der EU-Kommission zeichnen für Frankreich ein düsteres Bild. Wie ist die Stimmung im Land?
Nach der Stagnation des Bruttoinlandsprodukts im letzten Jahr hat sich die wirtschaftliche Lage in den vergangenen Monaten weiter verschlechtert. Die Wachstumsprognosen für 2013 und 2014 sind besorgniserregend. Die Arbeitslosenquote nähert sich mittlerweile der Elf-Prozent-Marke und ist damit doppelt so hoch wie in Deutschland. Vor allem unter Jugendlichen nimmt die Arbeitslosigkeit dramatische Ausmaße an: Ein Viertel der jungen Franzosen ist erwerbslos. Die wachsenden sozialen Probleme gefährden den Zusammenhalt der Gesellschaft.
Wie schlecht es um die französische Wirtschaft und die industrielle Substanz des Landes bestellt ist, haben die Schließung der Autofabrik von Peugeot in Aulnay und des Stahlwerks von Mittal in Florange gezeigt. Dabei hatte François Hollande die Wiederbelebung des Wirtschaftsstandortes Frankreich zu einem Schwerpunkt seines Wahlkampfes gemacht. Um den linken Flügel seiner Sozialistischen Partei (Parti Socialiste, PS) zufriedenzustellen wurde sogar ein „Ministerium für die Belebung der Produktion“ geschaffen, das von dem Globalisierungsgegner Arnaud Montebourg geführt wird. Doch zwischen Diskurs und Realität in der französischen Industriepolitik klafft eine riesige Lücke – für ein Land, das viel stärker auf staatliche Interventionen setzt als Deutschland, eine besonders schmerzhafte Erfahrung.
Die Stimmung der Franzosen schwankt entsprechend zwischen Resignation und Wut. Die Bevölkerung zweifelt an der Fähigkeit des Landes, die Krise zu überwinden. Das Vertrauen in die Politik und vor allem in die Regierung ist erschüttert. Noch nie war ein Präsident nach so kurzer Zeit so unpopulär. François Hollande wird als schwach und zögerlich kritisiert.
Dass der rechtsextreme Front National und der linksradikale Front de Gauche in Umfragen Spitzenwerte erzielen, zeigt den wachsenden Unmut in der Bevölkerung. In einer Zeit der Steuererhöhungen und Kürzungen sozialer Leistungen wirkt sich zudem der Steuerbetrugsskandal um den ehemaligen Finanzminister Jérôme Cahuzac verheerend auf das Ansehen der Politik aus. Premierminister Jean-Marc Ayrault bemüht sich nun um ein „Gesetz zur Moralisierung des politischen Lebens“, das unter anderem die Vermögensverhältnisse der Parlamentarier offenlegen soll. Um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, wird dieser Schritt aber wohl nicht ausreichen.
Frankreich steht vor immensen wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen, die Reformpolitik François Hollandes wirkt aber bestenfalls zögerlich. Warum?
Der Präsident und seine Regierung wollen die Bevölkerung nicht mit einem zu hohen Reformtempo verschrecken. Wird die Unzufriedenheit zu groß, könnte dies schnell zu einem Generalstreik führen – wie 2010 bei der Rentenreform unter Nicolas Sarkozy. Auf diese Weise wurden in der Vergangenheit regelmäßig Reformen verhindert. Gesellschaftliche Konflikte werden in Frankreich oft viel konfrontativer ausgetragen als in Deutschland. Im Gegensatz zur Kultur der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland besitzen Arbeitnehmer in Frankreich ein individuelles, in der Verfassung verankertes Streikrecht. Damit der Ärger der Bürger nicht erneut zum Blockadefaktor wird, versuchen Präsident Hollande und Premierminister Ayrault, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in „sozialen Gesprächsrunden“ in die Arbeit der Regierung einzubinden – für Frankreich ein neuer und ungewöhnlicher Weg.
Noch scheint diese Strategie aufzugehen: Streiks, die schon bei der Ankündigung einer Reform das öffentliche Leben im Land lahm legen, sind der Regierung bisher erspart geblieben. Vor allem aber konnten sich Arbeitgeberverbände und drei der fünf Gewerkschaften nach mehrmonatigen Verhandlungen auf eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes verständigen. Ein entsprechendes Gesetz soll im Mai verabschiedet werden. Damit könnten Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten längere Arbeitszeiten und Lohnkürzungen durchsetzen, Kündigungen würden erleichtert.
Wegen der Spaltung seiner Partei muss Präsident Hollande zudem Kompromisse mit dem linken und dem sozialdemokratischen Flügel der PS suchen. So ist er auf die Forderung der Linkssozialisten eingegangen, staatlich subventionierte Stellen zu schaffen und eine Vermögenssteuer einzuführen. Gleichzeitig hat die Regierung einige Ziele der konservativen Vorgängerregierung übernommen: Die Sanierung des Staatshaushalts wird fortgesetzt, Unternehmen sollen steuerlich und arbeitsrechtlich weiter entlastet werden.
Hollandes Sowohl-als-auch-Methode kostet allerdings Zeit und erlaubt keinen großen Wurf. Vor allem aber vergrößert sie die Angriffsfläche für Kritik, statt die Bevölkerung zu überzeugen. Denn die Bürger können in der Politik ihres Präsidenten keinen Mittelweg erkennen, sondern lediglich einen Zickzackkurs. Hollande sitzt zwischen allen Stühlen: Die konservative Opposition verlangt eine strengere Sparpolitik, Teile des linken Lagers dagegen pochen auf eine stärkere soziale Ausgewogenheit.
Die große Ausnahme von dieser Politik des Balancierens war das Projekt der Homo-Ehe, die ohne Rücksicht auf Massenproteste eingeführt wurde. In einer Zeit der knappen sozialpolitischen Mittel soll sie im linken Lager identitätsstiftend wirken und die Durchsetzungskraft des Führungsduos aus Präsident und Premier unterstreichen. Zumindest in der eigenen Partei konnten Hollande und Ayrault damit punkten.
Wie viel politischen Handlungsspielraum hat Präsident Hollande?
Leider sehr wenig, vor allem wegen der maroden Staatsfinanzen und der europäischen Verpflichtungen Frankreichs in Bezug auf die Haushaltssanierung. Darüber hinaus muss Hollande mit ganz unterschiedlichen Forderungen innerhalb seiner Regierungskoalition umgehen.
Präsident Hollande, Premierminister Aryault sowie Wirtschafts- und Finanzminister Pierre Moscovici sind als reformbereite Sozialdemokraten einzustufen. Der Verzicht auf die Verstaatlichung des Stahlwerks in Florange zeugt vom vorläufigen Sieg des realpolitischen Denkens innerhalb der PS. Mittlerweile erkennen auch die meisten Sozialisten, dass mangelnde Wettbewerbsfähigkeit ein zentrales Problem der französischen Wirtschaft ist.
Als Reaktion darauf hat die Regierung Ende 2012 einen „Pakt für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsplätze“ beschlossen, der die Arbeitskosten durch Steuerentlastungen von 20 Milliarden Euro indirekt senkt. Ein 500-Millionen-Euro-Hilfsfonds soll außerdem Forschung und Innovation in kleineren und mittleren Unternehmen fördern.
Auf der anderen Seite tut sich ein nicht zu unterschätzender Teil der Sozialisten und der Grünen schwer damit, sich von traditionellen linken Mustern zu verabschieden. So unterstützte vor Kurzem ein Teil der sozialistischen Fraktion im Senat einen Gesetzentwurf des linksradikalen Front de Gauche, der auf eine Amnestie von Straftaten im Zusammenhang mit sozialen Konflikten zielte. Demnach hätten Gewerkschafter und Arbeitnehmer, die bei Arbeitskämpfen Produktionsmittel beschädigen oder den Arbeitgeber bedrohen, mit Straffreiheit rechnen können. Das Gesetz wurde zwar von mehreren Kabinettsmitgliedern kritisiert und letztlich abgelehnt, doch der Konflikt hat Spuren hinterlassen.
Wie die Sozialistische Partei sind auch die Gewerkschaften in zwei Lager gespalten. Dass die reformbereite CFDT und die konfrontationsfreudigen CGT und FO am 1. Mai erstmals seit fünf Jahren getrennt demonstriert haben, ist ein Zeichen dafür. Seit dem Abkommen für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, bei dem beide Lager entgegengesetzte Positionen bezogen, scheint der Graben zwischen ihnen nur noch schwer überwindbar. Die Spaltung der Gewerkschaften könnte zu ihrer Radikalisierung führen – und Präsident Hollandes Handlungsspielraum noch weiter verringern. Denn wenn der Widerstand zu groß wird, sind strukturelle Reformen nicht mehr möglich.
Wie will Frankreich die Staatsverschuldung in den Griff bekommen?
Der Stand der öffentlichen Schulden hat eine besorgniserregende Höhe erreicht. Ende 2012 betrug er 90,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 2014 wird er voraussichtlich 94,3 Prozent erreichen. Die hohe Staatsverschuldung wirkt sich negativ auf die wirtschaftliche Dynamik aus. Fehlendes Wachstum erschwert wiederum den Schuldenabbau. Die französische Wirtschaft droht in einen Teufelskreis zu geraten.
Schon im Wahlkampf hatte Hollande die Haushaltssanierung zur Priorität erklärt. Die Regierung setzte zunächst auf eine massive Steigerung der Einnahmen durch Steuererhöhungen. Inzwischen scheint sie den Schwerpunkt auf Ausgabenkürzungen zu legen. Im nächsten Jahr beabsichtigt sie, die öffentlichen Ausgaben um 14 Milliarden Euro zu senken und 6 Milliarden Euro mehr einzunehmen.
Allerdings plädiert Paris mittlerweile für ein langsameres Tempo beim Schuldenabbau. Das ehrgeizige Ziel von drei Prozent Defizit für den Haushalt 2013 wurde aufgegeben. Dass die EU-Kommission Frankreich nun zwei Jahre mehr Zeit zur Haushaltskonsolidierung zugesteht, wirkt wie eine Bestätigung dieses Kurses.
Kürzungen der staatlichen Sozialleistungen sind bei einem solchen Sparprogramm unvermeidbar. In der Familienpolitik will Paris eine Milliarde Euro einsparen. Voraussichtlich werden etwa 15 Prozent der Haushalte betroffen sein. Auch die Finanzierung des Rentensystems stellt zur Zeit eine Expertenkommission auf den Prüfstand. Im Sommer will sie Reformvorschläge präsentieren. Es ist zu erwarten, dass sich die Sozialpartner auf eine Begrenzung der Rentenaufwertung, die somit langsamer als die Inflation steigen würde, und auf eine Beitragserhöhung einigen. Eine Anhebung des Renteneintrittsalters wird sich mittelfristig zwar nicht vermeiden lassen, ist aber in naher Zukunft unwahrscheinlich. Aus deutscher Perspektive mag diese Politik der kleinen Schritte der Krisensituation unangemessen erscheinen – im französischen Kontext allerdings gleicht sie einem Kraftakt.
Der richtige Weg aus der Krise ist zwischen Paris und Berlin zum Streitpunkt geworden. Was bedeutet das für das deutsch-französische Verhältnis und die Europapolitik?
Hinter den beleidigenden Angriffen gegen die Bundeskanzlerin und der harschen Kritik an Deutschland durch einen Teil der PS verbirgt sich ein breiteres Unverständnis gegenüber der deutschen Position in der Schuldenkrise. Nicht nur bei den Sozialisten, sondern auch in politischen und wirtschaftlichen Kreisen darüber hinaus werden eine Lockerung der Sparpolitik, ein langsameres Tempo beim Schuldenabbau, die Einführung von EU-Wachstumsprogrammen und eine schnelle Umsetzung der Bankenunion verlangt – alles Forderungen, die Deutschland bis jetzt ablehnt.
Jenseits des Rheins löst die derzeitige Situation doppelten Frust aus. Erstens schneidet Frankreich wirtschaftlich in fast allen Bereichen schlechter ab als Deutschland, dessen Wirtschaftskraft im öffentlichen Diskurs ständig als Maßstab herangezogen wird. Ob beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, bei der Wahrung der Haushaltsdisziplin oder der Erzielung von Handelbilanzüberschüssen: Berlin macht es besser. Zweitens ist der Einfluss Frankreichs in der EU in den letzten Jahren erodiert – und das ausgerechnet zugunsten Deutschlands. Wegen der wirtschaftlichen Probleme fällt es Paris immer schwerer, sich in Deutschland und in der gesamten EU Gehör zu verschaffen, geschweige denn eine Führungsrolle zu übernehmen.
Um wieder mehr politisches Gewicht auf die Waage zu bringen, versucht Paris seit einiger Zeit, die Zusammenarbeit mit Italien und Spanien zu intensivieren. Sollte diese Umorientierung dauerhaft sein, würde sie sich zum Nachteil der deutsch-französischen Partnerschaft auswirken – und ihrer traditionellen Funktion, Kompromisse für die EU insgesamt zu schmieden. Damit würde der Gegensatz zwischen Süd- und Nordländern in der EU wachsen.
Um die deutsch-französische Partnerschaft zu früherer Effizienz zurückzuführen, müsste Frankreich seine wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen. Von deutscher Seite wären aber auch eine größere Diskussions- und Kompromissbereitschaft hilfreich, um im Nachbarland das Gefühl der Alternativlosigkeit zum deutschen Sparkurs zu vermeiden. Bisher hat sich die Bundesregierung mit öffentlicher Kritik an der französischen Politik zurückgehalten. Denn die Schwäche des Partners und der daraus resultierende europapolitische Stillstand liegt weder im deutschen noch im europäischen Interesse. Im Gegenteil: Berlin ist auf einen starken Partner angewiesen, um die Eurozone zu stabilisieren.
Frankreich und Deutschland müssten außerdem die bilaterale Zusammenarbeit stärker auf Felder jenseits der Wirtschaftspolitik ausdehnen, in denen Paris eine Führungsrolle beanspruchen kann. Auch wenn die Lösung der Eurokrise oberste Priorität hat, schließt das eine engere Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht aus. Das macht gerade in Zeiten knapper Kassen Sinn.