Putin steht vor dem Dilemma, die Geister, die er rief, ohne Gesichtsverlust kaum noch loswerden zu können. Umso weiter die ukrainische Armee im Donbas an Boden gewinnt, umso mehr wächst der Druck aus dem nationalistischen Lager auf den russischen Präsidenten, den Verbündeten und eigenen Leuten in der Ostukraine zu helfen. Dabei wäre eine militärische Intervention ökonomisch, militärisch und politisch ein Desaster, und kann nicht Ziel der russischen Führung sein. Andererseits kommt Putin aus dieser verfahrenen Situation nicht heraus, ohne auf die EU und die ukrainische Führung zuzugehen.
Deshalb tut die russische Führung das, was sie bisher immer wieder in diesem Konflikt getan hat, um Handlungsfähigkeit zu zeigen: Sie versucht den Gegner durch überraschende Aktionen zu verunsichern und punktet kurzfristig bei den eigenen Wählern. Letzter Überraschungscoup war ein Konvoi von Hilfsgütern für die umkämpfte Region, ein weiterer ist angekündigt. Während der russische Präsident zu Hause diese Handlung als Akt „humanitärer Hilfe“ verkaufen konnte, erreichte er in der Ukraine und der EU Verwirrung. Ist das eine Aktion, die vom Einfließen von Waffen und Kämpfern ablenken soll oder handelt es sich gar um eine verstecke Invasion? Ähnlich wie bei den Übungen und den Truppenaufmärschen an der Grenze zur Ostukraine zuvor diente sie dazu, die ukrainische Führung zu verunsichern und zu unüberlegten Aktionen provozieren, als auch die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Damit bringt Russland die ukrainische Führung in Zugzwang und lenkt die EU davon ab, stärker die Versorgung der Separatisten aus Russland in den Fokus zu nehmen. All das ist Taktik, aber keine Strategie.
Problematisch mit Blick auf die Vorgehensweise von Petro Poroschenko und Wladimir Putin ist, dass beide von unterschiedlichen Prämissen für die Lösung des Konfliktes ausgehen. Während Kiew ohne einen Waffenstillstand nicht bereit ist, über andere Fragen zu sprechen, ist für Moskau gerade die Voraussetzung für Verhandlungen über einen Waffenstillstand, dass andere grundlegende Fragen wie der Status der Ukraine als neutraler Staat, die Begrenzung der wirtschaftlichen Integration mit der EU, Fragen einer „Föderalisierung“ der Ukraine und der Zahlung von Gasschulden geklärt werden. Für Moskau kann es nur eine Paketlösung geben, bevor es sein wichtigstes Instrument – die „Separatisten“ – aus der Hand geben wird. Die Fortsetzung der Kampfhandlungen dient in diesem Zusammenhang der russischen Führung dazu, die eigene Verhandlungsposition zu stärken und den Druck auf Kiew aufrecht zu erhalten. Umgedreht hat Poroschenko bei seiner Wahl als Präsident versprochen, dem Land Frieden zurückzubringen und einen Zerfall zu verhindern. Für die ukrainische Führung geht es um die territoriale Integrität und damit die Zukunft des Staates, alle anderen Fragen erscheinen aus diesem Blickwinkel zweitrangig.
Erst wenn zwischen Moskau und Kiew Kompromisse in den genannten Fragen erreicht worden sind, wird Moskau dazu bereit sein, über die Schließung der Grenze und den Abbau der Unterstützung für die Separatisten zu sprechen. All das ist sehr sensibel für Putin; trägt er tatsächlich zur Lösung oder zumindest Begrenzung des Konfliktes bei, verliert er eine zentrale Ressource zur Unterstützung seiner Politik. Nationalismus und Patriotismus könnten sich gegen ihn wenden. Je mehr die Separatisten in der Ostukraine in Bedrängnis geraten, umso lauter werden die Rufe in Russland, diese direkt militärisch zu unterstützen. Dabei ist es höchst fraglich, ob der russische Präsident tatsächlich in der Lage ist, die Situation in der Ostukraine zu kontrollieren oder gar zu beenden. Auch ukrainische Akteure und selbstständige Gruppen aus Russland agieren in diesem Krieg.
Je länger dieser Krieg dauert und je mehr Tote es gibt, umso schwerer wird es, ihn zu beenden. Für die ukrainische Führung liegt das Trauma dieses Konfliktes nicht nur darin begründet, dass sie die Kontrolle über Landesteile verloren hat und ihre militärische Schwäche von Russland vorgeführt bekommt. Viel schwerer wiegt, dass die über 20 Jahre herbeigeredete aber nie wirklich relevante Spaltung des Landes nun Realität werden könnte. Während für einen Teil der Ukrainer, vor allem im Westen und im Zentrum, der „Kampf gegen Russland“ identitätsstiftend wird, können sich viele Menschen in der Ost- und Südukraine nicht mit diesem wachsenden ukrainischen und anti-russischen Nationalismus identifizieren. Der Pluralismus und die Flexibilität als Land zwischen Russland und Europa, die immer prägend für die postsowjetische Ukraine waren, gehen so verloren. Zurück bleibt ein gespaltenes Land, das nach Beendigung des Krieges nicht nur vor einer enormen humanitären Aufgabe steht, sondern vor allem vor einer riesigen Versöhnungsherausforderung. Wer kann wem im Donbas eigentlich noch trauen?
Bundeskanzlerin Angela Merkels Besuch in Kiew am 23. August hat gezeigt, dass ein Merkel-Plan, wie ihn der ukrainische Außenminister Pavlo Klimkin kurz zuvor beschworen hatte, nicht existiert. Am Ende war ihre Reise eher ein Akt der Solidarität mit Kiew als die erhoffte neue Initiative. Positiv ist, dass Merkel mit ihrer Reise und dem ausdauernden Engagement ihres Außenministers diesen fundamentalen Konflikt für die europäische Sicherheit zur Priorität deutscher Krisendiplomatie gemacht hat. Praktisch alle Initiativen des Außenministers zur Beilegung dieser Krise seit Februar 2014 sind bisher an der Kompromisslosigkeit der Konfliktparteien und dem Zynismus der kriminellen Akteure in der Ostukraine gescheitert. Es gilt schon als Erfolg, wenn sich Poroschenko und Putin überhaupt treffen. Es ist gut, dass Merkel in die Ukraine gereist ist, um mögliche Kompromisse auszuloten. Ebenso notwendig wäre es, danach nach Moskau zu reisen, um Putin persönlich zu Kompromissen zu drängen.
Hierbei bedarf es einer Doppelstrategie: Einerseits die Kooperationsbereitschaft mit Russland verdeutlichen, andererseits der russischen Führung die Kosten einer weiteren Eskalation noch deutlicher vor Augen führen. Deutschland und die Europäische Union müssen Lösungen für konkrete Probleme anbieten: Die Suche nach einer Kompatibilität der Eurasischen Wirtschaftsunion mit EU-Freihandelsabkommen sollte weiterhin eine Priorität sein, auch wenn die russischen Sanktionen die Zukunft der Eurasischen Wirtschaftsintegration noch fraglicher erscheinen lassen. Ebenso muss Kiew baldmöglichst seine Energieschulden an Moskau zurückzahlen und einen fairen europäischen aber keinen russischen-politischen Preis für russisches Gas akzeptieren. Der nächste Winter kommt in wenigen Monaten und europäische Politiker scheinen im täglichen Krisenmanagement manchmal zu vergessen, dass die Ukraine und Europa in eine neue Gaskrise schlittern. Die Ukraine kann im Moment nicht zahlen, Europa könnte. Gleichzeitig müssen Strukturreformen in der ukrainischen Energiewirtschaft jetzt begonnen werden, trotz und wegen der schwierigen Lage des Landes. Während der Status der Krim und deren Zukunft erst einmal ausgeklammert werden müssen, da niemand im Moment den Willen hat, ernsthafte Schritte gegen die russische Annexion zu unternehmen, wäre es möglich, die Neutralität der Ukraine zu garantieren. Gleichzeitig muss Moskau noch deutlicher dazu gedrängt werden, seine Grenze zur Ukraine dicht zu machen und zu kooperieren, wenn europäische Beobachter mit einem robusten Mandat die russisch-ukrainische Grenze sichern. Das alles ergibt aber nur Sinn, wenn der ukrainische Staat baldmöglichst dazu in die Lage versetzt wird, seine Grenzen dauerhaft selbst zu sichern und für Sicherheit auf dem Territorium sorgen zu können.
Bei allen Überlegungen im Umgang mit Russland ist die innenpolitische Dimension dieser Krise für das System Putin zentral. Die schwache Wirtschaftspolitik der russischen Führung und das Fehlen einer funktionsfähigen Modernisierungsstrategie werden mit der Ukraine-Krise durch Patriotismus kompensiert. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin vor den anstehenden Gouverneurswahlen in 30 Föderationssubjekten am 18. September grundlegende Kompromisse mit der Ukraine eingehen wird, wenn er seine Kandidaten ohne große Manipulation durchsetzen möchte. Mit Blick auf die anstehenden ökonomischen und sozialen Spannungen der kommenden Jahre braucht er loyale Vertreter in den Regionen. Noch scheut Putin das Risiko, das Kompromisse mit der EU und der Ukraine um die Ostukraine innenpolitisch mit sich bringen könnten. Gleichzeitig zeigt eine Diskussion mit Duma-Abgeordneten auf der Krim am 14. August, wie der Präsident versucht die aufgeheizte Stimmung abzukühlen und selbst einer Kooperation mit den USA in Afghanistan etwas Positives abgewinnen kann. Putin möchte eigentlich diese Isolation verlassen; er ist jedoch immer mehr zum Getriebenen seiner eigenen Politik geworden, die er selbst immer weniger kontrolliert. Wann und wodurch dieser Kreislauf durchbrochen werden kann, ist eine Frage des Zeitpunkts, der personellen Konstellation und der Möglichkeiten, über Interessensausgleich und Lösungen zu sprechen. Dafür ein Format und Gelegenheiten zu bieten, sollte Ziel deutscher Außenpolitik sein.