Region im Umbruch: DGAP-Reise durch den Westbalkan

Unter dem Motto "bezugspunkt:EU" bereisten Mitglieder der DGAP Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina

Datum
13 - 18 Mai 2013
Uhrzeit
-
Ort der Veranstaltung
DGAP, Deutschland
Einladungstyp
Nur für Mitglieder

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In Budapest, auf EU-Gebiet, begann die Bahnreise; sie führte die 30-köpfige Gruppe zunächst nach Kroatien, das am 1. Juli als 28. Mitgliedstaat der Union beitreten wird. Auf der Zugfahrt nach Zagreb erläuterte Theresia Töglhofer, Expertin für Südosteuropa in der DGAP, warum die Westbalkan-Staaten für den Beitrittsprozess unterschiedlich viel Zeit benötigen. In einem weiteren Salongespräch stellte Roska Vrgova von der bosnischen NGO „Zašto Ne?“ („Warum nicht?“) eine Kampagne verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen vor, deren Ziel es ist, eine bürgerliche Identität zu schaffen. So soll die Diskriminierung der „Anderen“ bekämpft werden – jener Bürger also, die sich nicht den drei konstituierenden Gruppen der Kroaten, Serben und Bosniaken zugehörig fühlen und in Bosnien-Herzegowina rechtlich benachteiligt werden.

Kroatien

13. Mai

Frühmorgens traf die Gruppe Professor Dejan Jović, Chefanalyst des kroatischen Präsidenten und Associate Professor für internationale Beziehungen. Dazu ging es hinaus in das hügelige Umland Zagrebs, zum Präsidialamt Kroatiens. Die EU-Mitgliedschaft, sagte Jović, eröffne Kroatien die Möglichkeit, endlich ein „normaler“ Staat zu werden. Zusätzlich zu der doppelten Transformation, die die Staaten Mittel- und Osteuropas in den neunziger Jahren durchlaufen hätten, habe Kroatien eine dritte Transformation zu bewältigen – jene vom Krieg zum Frieden: „Wir treten der EU bei, weil sie ein Friedensprojekt ist“. Die Diskussionsteilnehmer stellten fest, dass dies stark an die Motive der Gründung der EU anknüpfe und den Bürgern Europas in Erinnerung gerufen werden sollte.

In einem weiteren Gespräch berichtete Dragan Novosel, ehemaliger Militärankläger und nun Erster Stellvertretender Generalstaatsanwalt, vom Stand der Korruptionsbekämpfung in Kroatien. Als er 2000 sein Amt in der neu gegründeten Antikorruptionsbehörde USKOK antrat, sei er hoch motiviert gewesen, allerdings habe er das Ausmaß des Problems unterschätzt. Mittlerweile könne seine Behörde sowohl bei der Bekämpfung der Bagatell-Korruption als auch im Kampf gegen die komplexe Korruption auf höchster Ebene Erfolge vorweisen. Die drängendste Aufgabe sei nun, die Korruption auf lokaler Ebene einzudämmen, von der Bürger und Unternehmer am direktesten betroffen seien. Auf Nachfrage der Teilnehmer bestätigte Novosel, dass die Politik von Anfang an hinter seiner Arbeit gestanden habe. Der EU-Beitrittsprozess habe den Handlungsdruck noch verstärkt.

Ein etwas anderes Bild zeichneten Duje Prkut von der NGO GONG und Nemanja Reljić von der NGO zum Schutz von Menschenrechten. Ihrer Einschätzung nach sind viele der Reformen in Kroatien eher kosmetischer Natur, mit dem einzigen Zweck, die Liste der Reformforderungen aus Brüssel zu erfüllen („ticking-the-box-policy“). Mit einer Reihe anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen schlossen sie sich unter dem Namen „Plattform 112“ zusammen, um parallel zu den Fortschrittsberichten der Europäischen Kommission „Schattenberichte“ zu erstellen. 112 konkrete Nachbesserungsforderungen trugen sie so zusammen, etwa beim Schutz von Minderheiten. Anders als das EU-Monitoring, das nach dem 1. Juli 2013 endet, will Plattform 112 die Fortschritte des Reformprozesses auch weiterhin überwachen.

Während eines Abendessens im Restaurant Muzej diskutierten die Teilnehmer mit Dr. Caroline Hornstein Tomić (Ivo Pilar Institut, Zagreb) über die Stimmungslage in der kroatischen Gesellschaft. Der EU-Beitritt – ebenso wie Globalisierung und Modernisierung im Allgemeinen – würden in Kroatien mit viel Skepsis gesehen; die Menschen wüssten wenig über die EU, auch wenn der Beitritt unmittelbar bevorstehe. Die damit einhergehende gesellschaftliche Öffnung sei jedoch wichtig für Kroatien, um die Provinzialisierung zu stoppen, die Bürger mobiler zu machen und ihnen mehr als „lijepa naša“ („unsere schöne Heimat“) zu bieten. Als zweiten Tischgast begrüßte die Gruppe Boris Kardum von der kroatischen Handwerkskammer. Von Kroatiens EU-Beitritt erhofft sich Kardum eine Diversifizierung der Wirtschaft, die nicht mehr so stark vom Tourismus abhängig sein dürfe. Besonders für die „grünen“ Wirtschaftszweige gebe es großes Potenzial. Damit es tatsächlich zu einem Wirtschaftsaufschwung komme, sei aber auch ein Mentalitätswechsel notwendig. Kroatien sei ein Land, das mit Veränderungen schwer zurecht komme, vor allem dann nicht, wenn starke Identifikationsfiguren wie Tito oder Franjo Tudjman fehlten. Einen Wandel beobachtet Kardum in der Einstellung der Bürger zur Korruption. Kampagnen wie „Korruption lohnt sich nicht“ und andere Initiativen der Korruptionsbekämpfung zeigten allmählich Wirkung.

Serbien

14. Mai

Auf der Zugfahrt von Zagreb nach Belgrad erläuterte Heiko Flottau, ehemaliger Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Belgrad, wie und warum es zum Zerfall Jugoslawiens kam. Als er in den siebziger Jahren in Jugoslawien lebte, hätte man die spätere Krise schon vorausahnen können – anhand der Lebensmittel- und Energieknappheit sowie der Unterdrückung von Dissidenten wie Milovan Djilas. Die Funktionäre versicherten damals, „auch nach Tito wird Tito sein“ – das System werde immer fortbestehen. Die Parole „Bratstvo i Jedinstvo“ (Brüderlichkeit und Einheit) sei jedoch nur von oben verordnet gewesen, ohne dass es eine echte Zusammenführung der Völker gegeben habe. Deren Verhältnis untereinander war durch die nicht aufgearbeitete Geschichte belastet. Den Menschen seien die Erfahrung des gescheiterten ersten Jugoslawiens, das 1918 gegründete Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, sowie die Gräueltaten der Ustascha und Tschetniks im zweiten Weltkrieg noch sehr präsent gewesen, doch unter Tito durften diese Erfahrungen nicht thematisiert werden. An der Wirtschaftskrise der achtziger Jahre entzündeten sich schließlich die unbearbeiteten Konflikte, führten zu Separationsbestrebungen und zum Ausbruch der Gewalt.

Im Anschluss diskutierte Dr. Vedran Džihić vom Österreichischen Institut für Internationale Politik mit den Teilnehmern die Rolle der EU bei der Lösung des Kosovo-Konflikts. Mit der neuen konservativ-nationalistischen Regierung in Serbien, so Džihićs Einschätzung, seien Kompromisse möglich. Die Regierung habe öffentlich erklärt, Serbien könne nicht gleichzeitig der EU beitreten und das Kosovo behalten, sondern müsse einen pragmatischen Weg wählen. Nun komme es darauf an, wie konsequent die EU sei. Als Alternative zum Beitritt werde in Serbien immer wieder auch eine stärkere Annäherung an Russland diskutiert. Dies aber sei eine Scheindebatte.

Nachdem die Gruppe am Dienstagabend in der serbischen Hauptstadt angekommen war, wurden die Teilnehmer von Vesna Vučinić und weiteren Architekten von „360ºBEOGRAD“ durch die Innenstadt geführt. Belgrads Stadtlandschaft, an der strategisch wichtigen Donau-Save-Mündung gelegen und seit jeher ein Kreuzungspunkt der Kulturen, ist von verschiedensten Einflüssen geprägt, die in Architektur und Stadtplanung ihre Spuren hinterlassen haben. Bei einem Stadtrundgang zeichneten die Architekten die wechselvolle Geschichte Serbiens und seiner im Laufe der Jahrhunderte 40 Mal zerstörten und wieder aufgebauten Hauptstadt nach und zeigten, wie sich verschiedene politische und kulturelle Einflüsse von der Römerzeit bis zum Sozialismus in der Architektur widerspiegeln. Überrascht wurden die Teilnehmer insbesondere von der Vitalität der Stadt, die heute zu einer der Partymetropolen Europas zählt.

Bei einer anschließenden Bootsfahrt über die Save und die Donau gesellte sich Botschafter Heinz Wilhelm zu der Reisegruppe. Serbien habe in Deutschland zu Unrecht ein schlechtes Image, sagte er. Als 2012 frühere Milošević-Anhänger an die Macht kamen, fürchtete man Rückschritte im EU-Integrationsprozess, eingetreten sei jedoch das Gegenteil: Gerade weil die neue Regierung national-konservativ sei, habe sie mehr Spielraum für die Lösung heikler nationaler Fragen wie die nach der Unabhängigkeit des Kosovo. Das im April zwischen Belgrad und Pristina erzielte Abkommen sei ein Erfolg, nun gelte es, die Implementierung abzuwarten. Problematisch sei die Umsetzung nicht für die Serben in Belgrad, sondern für die Serben im Nord-Kosovo. In vielen anderen Bereichen sei Serbien bereits heute weiter als Rumänien oder Bulgarien. Wichtig sei es, diesen Weg beizubehalten. Würde man etwa wegen des Asyl-Missbrauchs Einzelner die Visapflicht für ganz Serbien wieder einführen, wäre dies ein enormer Rückschritt.

15. Mai

Vladimir Ateljević, der die Vizepremierministerin und EU-Integrationsbeauftragte Suzana Grubješić vertrat, sprach mit den Teilnehmern über den Stand des EU-Beitrittsprozesses und die daran geknüpften Erwartungen. Serbien stünde Kroatiens Beitritt ausgesprochen positiv gegenüber. Die EU zeige damit, dass sie das Erweiterungsversprechen tatsächlich ernst meine. Zudem trete mit Kroatien ein Land bei, das Serbien ähnlich sei und von dem man lernen könne. Ateljević räumte ein, dass in den vergangenen Jahren die Zustimmung zur EU in der serbischen Bevölkerung gesunken sei. Dennoch wüssten die Menschen mehr darüber, was ein Beitritt für sie bedeuten würde, dass die EU für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wohlstand stehe und dass Serbien seine Hausaufgaben machen müsse, um dazuzugehören. Gerade die europäische Schuldenkrise habe den Bürgern Serbiens vor Augen geführt, dass die EU kein Geldautomat sei. Die Beitrittsperspektive sei entscheidend dafür, dass auch schwierige Kompromisse wie das Brüsseler Abkommen zwischen Belgrad und Pristina möglich seien. Wichtig sei nicht, dass der Beitritt schnell komme, sondern dass es Erfolge auf dem Weg dorthin gebe, wie der Beginn von Beitrittsverhandlungen, die Öffnung bzw. Schließung einzelner Verhandlungskapitel und spürbare Unterstützung durch die der EU.

Im „Aero Klub“ traf die Gruppe auf Boris Tadić, von 2004 bis 2012 Präsident Serbiens. Tadić bekannte, dass er früher naiv genug gewesen sei zu glauben, man könne in wenigen Jahren eine stabile Demokratie aufbauen. Dafür benötige man jedoch mehr Zeit als die 13 Jahre, die seit dem Sturz von Slobodan Milošević vergangen sind. Einen großen Verlust für die demokratische Entwicklung Serbiens sah Tadić in der Ermordung von Zoran Đinđić vor zehn Jahren. Auch sei der Erwartungsdruck der Bevölkerung zu groß gewesen. In seiner Regierungszeit habe man nicht genug Fortschritte bei der Schaffung einer neuen politischen Kultur und der Durchführung von Rechtsreformen erzielen können. Dennoch sei Serbien auf dem Weg zur Demokratie vorangekommen – was im Westen wegen alter Stereotype oft nicht gesehen werde. Auch die jetzige Regierung verfolge das Ziel der Demokratisierung und die Lösung territorialer Konflikte. Mit Blick auf die Kosovo-Frage meinte Tadić, der Schutz von Identität und Kulturgütern sei wichtig – werde dieser Schutz nicht gewährleistet, drohten Frustration und wieder Konflikte mit den Nachbarn. Flexible und pragmatische Lösungen müssten gefunden werden, dafür sei auch das deutsch-deutsche Modell ein interessantes Beispiel.

Im Anschluss stellte Siniša Šikman von der NGO Canvas die gewaltlosen Aktionen der Otpor-Bewegung vor, die im Jahr 2000 zum Sturz von Milošević führten. Anstatt Serbien zu verlassen, beschlossen Šikman und weitere Aktivisten der Bewegung Ende der neunziger Jahre, sich für Veränderungen im Land einzusetzen – ohne Gewalt und ohne Geld, ein Novum in Serbien. Die Gruppe startete mit kleinen, humorvollen Straßenaktionen, „denn wenn die Leute lachen, haben sie weniger Angst. Und wenn man das System ärgert, macht es mehr Fehler.“ Otpor richtete beispielsweise ein Silvesterfest aus und lockte mit Gerüchten über Auftritte von Prominenten und Stars eine große Menschenmenge an. Anstelle des angekündigten Konzerts wurden um Mitternacht die Namen von Opfern der von Serbien geführten Kriege verlesen. Die Botschaft: Serbien könne nicht stolz sein auf das, was es getan habe. Nachdem sich Otpor als politische Partei nicht etablieren konnte, wandte sich Šikman von der nationalen Politik ab, als Trainer für Strategien des gewaltlosen Widerstands ist er aber nach wie vor aktiv. 

Zum Ausklang des Nachmittages trafen sich die Teilnehmer auf einen Kaffee mit Ivan Ivanji, dem ehemaligen Dolmetscher Titos. Ivanji erzählte, wie Tito schon zu Lebzeiten stets gesagt habe, dass man die „Brüderlichkeit und Einheit“ wie einen Augapfel hüten müsse. Tito habe wohl insgeheim mehr Sorgen bezüglich des friedlichen Zusammenlebens der konstituierenden Völker Jugoslawiens gehabt, als er nach außen zeigen wollte. Sein Umfeld nahm diese Bedenken nicht ernst und hielt den jugoslawischen Zusammenhalt für selbstverständlich. Für Ivanji selbst kam der Zerfall Jugoslawiens vollkommen überraschend. Er habe zuvor keine Spannungen verspürt und keine Unterdrückung im Alltag erlebt, obwohl ihm das Schicksal von Dissidenten wie Djilas bekannt gewesen sei. „Man sagt, für politische Witze sei man ins Gefängnis gekommen. Ich habe immer politische Witze erzählt und kam nicht ins Gefängnis.“ Dass der Ohrider See, der Triglav-Berg oder die Adria-Küste nun nicht mehr zu seinem Land gehören, fühle sich an wie eine Amputation. Auf die Frage der Teilnehmer, wie es dazu kommen konnte, dass Jugoslawiens derart gewaltsam auseinanderbrach, antwortete Ivanji: „Es ist nicht zu verstehen, und es ist nicht neu“.

Bosnien-Herzegowina

16. Mai

Auf der Zugfahrt nach Sarajevo berichtete Dr. Hermann Freiherr von Richthofen, von 1993 bis 1998 NATO-Botschafter, wie es zur Intervention der internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina und Kosovo kam. Aufgerüttelt habe die internationale Gemeinschaft das Massaker von Srebrenica 1995, bei dem 8000 Zivilisten ermordet wurden. Dies führte zur militärischen Intervention und letztlich zu dem Treffen in Dayton, bei dem unter Ausschluss der Öffentlichkeit so lange verhandelt wurde, bis das Abkommen vor Ort unterschrieben werden konnte. Das Dayton-Abkommen bindet sowohl die Völkergemeinschaft als auch die Entitäten Bosnien-Herzegowinas; es gilt, bis es zu einer neuen Einigung unter Beteiligung aller relevanten Parteien kommt – danach sehe es derzeit aber nicht aus. Im Fall des NATO-Militäreinsatzes gegen Serbien 1999 habe der Westen ohne Beschluss des Sicherheitsrates gehandelt – „und dahinter stelle ich mich auch heute noch moralisch“, bekräftigte von Richthofen. Von Milošević seien immer wieder Zugeständnisse gemacht worden, die dann nicht eingehalten wurden. Er sei für Vernunft und friedliche Argumente nicht zugänglich gewesen.

Im zweiten Salongespräch des Tages beschrieb Dr. Andreas Ernst, Westbalkan-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, wie im ex-jugoslawischen Raum allmählich eine Art „Jugo-Sphäre“ entstehe. Grenzüberschreitende Investitionen, das Musikfestival Novi Sad, eine gemeinsame Basketball-Liga oder slowenische Party-Touristen in Belgrad zeigten, dass die durch die Kriege getrennten ex-jugoslawischen Gesellschaften in bestimmten Bereichen wieder zusammenwüchsen. Die treibende Kraft seien dabei nicht unbedingt die Jugendlichen, die den nationenübergreifenden Raum ja gar nicht mehr erlebt hätten, sondern eher die älteren Bürger Ex-Jugoslawiens: „Es ist nicht so, dass die Älteren die verbohrten Nationalisten sind und die Jungen die Weltoffenen – es ist teilweise sogar umgekehrt.“ Ernst zufolge handelt es sich bei diesem Prozess nicht um „Jugo-Nostalgie“, sondern um eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Annäherung unterhalb der offiziellen Ebene. Dies sei allerdings ein „zartes Pflänzchen“, das schnell wieder eingehen könne. Es brauche zudem den schützenden Mantel der EU-Integration. Das Tempo des EU-Annäherungsprozesses sei nicht entscheidend, glaubt Ernst, nur stagnieren dürfe er nicht. Der Journalist verglich den Prozess mit einem Fahrrad, das umkippt, wenn es stillsteht.

17. Mai

In der "Careva džamija" (Kaisermoschee) sprach der bosnische Großmufti Reis ul-Ulema Husein Kavazović über das politische und religiöse Zusammenleben innerhalb des multiethnischen Staates Bosnien-Herzegowina. Er stellte die heutigen Beziehungen zwischen dem Islam und der katholischen Kirche sowie der jüdischen Gemeinde in Bosnien-Herzegowina als ausgezeichnet dar; die Beziehungen zur orthodoxen Kirche seien jedoch erst im Aufbau. Halbherzige Entschuldigungen und zweifelhafte Deutungen der Geschichte seitens der Orthodoxie in Belgrad seien alles andere als hilfreich. Die eigene Rolle sehe er vor allem darin, sich für ein friedliches Zusammenleben und kontinuierlichen Dialog einzusetzen. Einflüssen eines extremen Islams aus Saudi-Arabien oder Iran würden Grenzen gesetzt, wenn sie mit Toleranz nicht vereinbar seien: „Wir haben auch keine Scheu zu sagen, was für uns unannehmbar ist“. Die Einflussnahme dieser Länder auf Bosnien-Herzegowina hält Kavazović jedoch für gering. Bosnien-Herzegowinas Hauptproblem bestehe darin, dass viele Probleme nur teilweise gelöst worden seien. Vor allem das im Dayton-Abkommen vorgesehene politische System verhindere, dass das Land aus eigenen Kräften auf die Beine komme. Bosnien-Herzegowina sei im Stich gelassen worden, und die internationale Gemeinschaft müsse sich wieder stärker engagieren. Besonders die Erfahrungen Deutschlands – etwa bei der Normalisierung der deutsch-französischen Beziehungen oder der Aufarbeitung beider Weltkriege – seien wichtig für die Region.

Zum gemeinsamen Mittagessen begrüßte die Reisegruppe Professor Christian Schwarz-Schilling; der ehemalige Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina der Vereinten Nationen blickt mit einigem Pessimismus auf die Situation im Westbalkan. Bedenklich sei, dass Deutschland sich nun verstärkt in andere Weltregionen umorientiere. Die Probleme seien weiterhin ungelöst, ein Großteil der Versprechungen sei nicht eingehalten worden. Auch hinsichtlich des Brüsseler Abkommens zu den Beziehungen zwischen dem Kosovo und Serbien zeigte sich Schwarz-Schilling skeptisch. Er forderte, die internationale Präsenz in Bosnien-Herzegowina zu erhalten, auch wenn die Institution des Hohen Repräsentanten über Jahre hinweg marginalisiert worden sei – vor allem von internationaler Seite.

Im Außenministerium von Bosnien-Herzegowina sprach Amer Kapetanović mit den Teilnehmern über den EU-Beitrittsprozess des Landes und die Bedeutung regionaler Kooperation. Kapetanović wünschte sich für das Jahr 2014 einen Paradigmenwechsel in der Zusammenarbeit mit den Nachbarn. Nachdem 20 Jahre lang alle Bestrebungen auf Trennung hinausgelaufen seien, ob durch Grenzziehung oder in der Sprachenpolitik, müsse man sich nun auf die verbindenden Elemente konzentrieren. Motor einer solchen Annäherung sei vor allem die Privatwirtschaft. Erst durch den Beitritt Kroatiens werde Bosnien-Herzegowina wirklich erfahren, was es bedeutet, mit der EU eine 1000 Kilometer lange Grenze zu teilen. Nach und nach werde Bosnien-Herzegowinas Bereitschaft steigen, europäische Standards zu übernehmen – „nicht wegen der EU, sondern zum Nutzen unserer eigenen Bürger“. Die Bürger seien noch nicht reif für die Erkenntnis, dass nicht ein schneller Beitritt, sondern Reformen das eigentliche Ziel seien. Den jungen Bürgern des Landes müsse man die Möglichkeit geben, über Grenzen hinweg die Nachbarn und die EU besser kennenzulernen.

Im Anschluss an diesen Termin führten die Politikwissenschaftler Sead Turčalo und Muhamed Jugo die Teilnehmer durch das politische und religiöse Sarajevo. Dabei wiesen sie auf einige Gebäude hin, in denen die politischen Institutionen des hochkomplexen Dayton-Systems untergebracht sind. Das Problem sei aber, erklärte Turčalo, dass die wirklich wichtigen Entscheidungen nicht in diesen Gebäuden gefällt werden, sondern in außerinstitutionellen Treffen unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Am Abend trafen die DGAP-Mitglieder General a.D. Jovan Divjak, der der Gruppe einen Eindruck vom Leben im belagerten Sarajevo vermittelte. Divjak erzählte, wie er als Serbe gefragt wurde: „Überleg Dir in diesem historischen Moment, ob Du mitmachen möchtest: Wir verteidigen jetzt das multi-ethnische Bosnien-Herzegowina.“ Divjak entschied sich, auf der militärisch klar unterlegenen Seite der Verteidiger Sarajevos zu stehen. Unter den Freiwilligen habe zeitweise nur jeder Dritte ein Gewehr besessen, und diese Gewehre stammten teilweise noch aus den zwanziger Jahren. Nach dem Vortrag führte er die Teilnehmer zu den Orten in Sarajevo, an denen während des Kriegs von serbischen Angreifern Massaker verübt wurden, wie den Marktplatz, wo zahlreiche Zivilisten von einer Granate getötet wurden. Wegen seines damaligen Einsatzes wird Divjak von vielen Bosniern als "Held der Verteidigung Sarajevos" verehrt. Der abendliche Spaziergang mit ihm durch die Innenstadt Sarajevos wurde vielfach unterbrochen von Schulterklopfen und Händeschütteln. Divjak engagiert sich heute in einem Projekt, das sich um benachteiligte Kinder in Sarajevo kümmert.

18. Mai

Auf einer Exkursion nach Višegrad wurde die Gruppe von dem ehemaligen bosnischen Diplomaten Professor Slobodan Šoja begleitet. Šoja berichtete anschaulich, wie nationalistische Politiker in den achtziger Jahren gezielt Ängste zwischen den ethnischen Gruppen schürten, wie der Nationalismus erstarkte und der Zerfall Jugoslawiens seinen Anfang nahm. Die heutige Unterteilung Bosnien-Herzegowinas in zwei Entitäten wurde in Višegrad schon durch die dort gehissten Flaggen deutlich. Die Flagge der Republika Srpska unterscheidet sich nur auf den zweiten Blick (durch ein fehlendes Wappen) von der serbischen Nationalflagge.

In Višegrad selbst stand „die Brücke über die Drina“ im Zentrum des Interesses der DGAP-Mitglieder. Der Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić war nicht nur Autor des gleichnamigen Meisterwerkes, sondern in seiner Funktion als Gesandter des Königreichs Jugoslawien von 1939 bis 1941 auch erster Hausherr des Gebäudes in der Berliner Rauchstraße 17/18, dem heutigen Sitz der DGAP. Nachdem die Gesellschaft bereits in Berlin mit einer Veranstaltung zum fünfzigjährigen Jubiläum der Nobelpreisverleihung an den Diplomaten und Schriftsteller erinnert hatte, kam es auf der weltberühmten Brücke mit einer Lesung durch den jetzigen Hausherrn der DGAP, Paul Freiherr von Maltzahn, zu einer weiteren Hommage an Andrić.

Während eines Abschlussdinners standen den Teilnehmern noch einmal fachkundige Gesprächspartner zur Verfügung: Darko Brkan stellte die Aktivitäten der NGOs Zašto Ne („Warum nicht?“) und Dosta! („Genug!“) vor, die den Mangel an Transparenz bekämpfen. Sie überwachen unter anderem die Einhaltung der zahllosen Wahlversprechen der Regierungskoalition, „damit es endlich Preisschilder für Fehler gibt, die in diesem Land begangen werden“. Zu den Fehlern gehören aus Sicht Jan Masaks, Geschäftsführer von VW Sarajevo, auch die Nichteinhaltung der zollfreien Wirtschaftszone und der Mangel an gut ausgebildeten Facharbeitern. Sie seien der Grund dafür, dass das Engagement von Volkswagen in Bosnien-Herzegowina stark zurückgegangen sei. Während vor dem Krieg noch über 1200 Mitarbeiter dort beschäftigt waren, sind es heute nur noch knapp über 300. Dass die EU trotz ausbleibender Reformen weiterhin großzügig Gelder an Bosnien-Herzegowina auszahle, ermögliche es den Politikern des Landes, weiter zu machen wie bisher. Tija Memišević, Direktorin des European Research Center Sarajevo, forderte die internationale Gemeinschaft deshalb eindringlich auf, solche Verfehlungen nicht mehr hinzunehmen. Der Westen könne sich der Verantwortung nicht entziehen, indem er diese allein den gewählten Politiker in Bosnien-Herzegowina zuschiebe, die von der wirtschaftlichen Abhängigkeit ihrer Bürger oftmals profitierten. Geld sollte es nicht ohne klare Konditionen geben, forderte Memišević, alles andere befördere nur den Klientelismus und schade den Bürgern.

 

Die Länderreise 2013 „bezugspunkt:EU“ wurde organisiert und durchgeführt von der DGAP Consulting GmbH.

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