Es war nicht die Brutalität der Hamas-Kämpfer, die am frühen Samstagmorgen zu Hunderten im Süden Israels eingefallen sind, die überraschte, sondern dass der Angriff überhaupt erfolgte. Ganz offensichtlich waren die israelischen Behörden unvorbereitet, sodass am Ende des jüdischen Feiertags zur Torafreude, Simchat Tora, mehr tote Israelis zu beklagen waren als jemals an einem Tag seit der Staatsgründung. Allein damit stechen die jüngsten Terrorereignisse aus dem üblichen „Gewalt im Nahen Osten“-Hintergrundrauschen hervor.
Schnell war der Begriff von „Israels 9/11“ für den Überfall gefunden, um eine Parallele zum Versagen der US-Geheimdienste vor den Terroranschlägen von 2001 zu ziehen. Und ohne Zweifel wird die israelische Gesellschaft, wird die politische Opposition Fragen nach der Verantwortung der Regierung stellen. Die Zeit hierfür kommt jedoch erst nach dem aktuellen Zusammenstehen, um die akute Gefahr abzuwehren.
Gleichwohl erlaubt der Vergleich bereits jetzt einen Blick auf die möglichen Folgen des neuerlichen Gewaltausbruchs. Das gilt für die kommende israelische Reaktion ebenso wie für etwaige regionale und weltpolitische Auswirkungen.
Die umstrittene Justizreform hat den Sicherheitsapparat vermutlich im entscheidenden Moment geschwächt
So steht die Chiffre „9/11“ heute vor allem für amerikanische Hybris und machtpolitische Überdehnung. Dass die USA sich gegen den Terrorangriff von al-Qaida verteidigen würden, war selbstverständlich.
Dabei konnten sie auf die symbolische und konkrete Unterstützung vieler Staaten weltweit zählen – sogar Erzfeind Iran half beim Kampf gegen die Taliban in Afghanistan. Doch mit dem neokonservativen Projekt des „Demokratieexports“ und dem völkerrechtswidrigen Überfall auf Irak 2003 begann der amerikanische Stern zu sinken.
Zwei Jahrzehnte später, nach Hunderttausenden Toten, vor allem Zivilisten, und Kosten von mehreren Billionen US-Dollar, sind die USA weniger machtvoll oder respektiert als vorher.
Für Israel besteht die Herausforderung darin, in seiner unmittelbaren Reaktion Augenmaß zu wahren und auf mittlere Ziele wie Sicherheit und Stabilität hinzuarbeiten. Dazu gehört die innenpolitische Dimension, gerade angesichts der Justizreform zur Abschaffung höchstrichterlicher Kontrolle, die Premierminister Benjamin Netanjahus rechtsextreme Koalition vorangetriebenen hat.
Diese hat nicht nur über Monate Hunderttausende Demonstranten auf die Straße, sondern auch den Sicherheitsapparat in Aufruhr gebracht – und vermutlich im entscheidenden Moment geschwächt.
Eine Regierung der nationalen Einheit würde daher helfen, die Israelis auch innerlich zu einen, um besser der tödlichen Gefahr von außen zu begegnen. Die Amerikaner haben sich im September 2001 hinter einem Präsidenten versammelt, der sich als „Mr. Security“ gerierende Netanjahu kann schon länger nicht mehr mit so einhelliger Unterstützung rechnen.
Israel muss einen Ausgleich mit den Ländern in der Region finden
Anders als die USA wiederum ist Israel nicht von zwei friedlichen Nachbarn samt zwei Ozeanen umgeben. Das heißt, es wird sich nicht auf sich selbst zurückziehen können, sondern muss einen Ausgleich mit den Ländern in der Region finden. „Splendid isolation“, wie gerade manche amerikanische Stimmen wieder fordern, ist für Israel keine Option. Dies führt zur zweiten Lehre aus 9/11.
Tatsächlich hatte die israelische Regierung in den letzten Jahren auf eine – vor allem wirtschaftlich geprägte – Annäherung mit arabischen Staaten gesetzt. Dabei wurde die Klärung palästinensischer Forderungen bewusst ausgeklammert.
Eine von Washington vermittelte Übereinkunft mit Saudi-Arabien, das sich als Schutzmacht der Muslime weltweit sowie der Palästinenser im Besonderen versteht, sollte diese Strategie in naher Zukunft komplettieren. Das hätte die Rechte der Palästinenser, die mehrheitlich sowohl unter der israelischen Besatzung als auch der Inkompetenz ihrer nicht gewählten Führung, ob im Westjordanland oder Gaza, leiden, dauerhaft beschnitten.
Der Konflikt hat eine weltpolitische Dimension
Der verurteilenswerte Angriff der Hamas verdeutlicht freilich, dass ohne eine direkte Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern kein dauerhafter Friede möglich ist. Iran als langjähriger Unterstützer des palästinensischen Terrorismus ist dabei mehr als bloß ein Störfaktor – wie das mögliche Eingreifen der libanesischen Hisbollah-Miliz vom Norden zeigt.
Teheran hat seinerseits jüngst wieder diplomatische Beziehungen mit seinem regionalen und religiösen Rivalen, Riad, aufgenommen, was insbesondere in Israel Sorge auslöste. Dass dieser Deal von Peking begleitet wurde, das mit seinem Verweis auf die Zwei-Staaten-Lösung als Reaktion auf den jüngsten Angriff Jerusalem zusätzlich verstörte, macht die weltpolitische Dimension des Konflikts deutlich.
Die Welt blickt auf Israel und darauf, wie es militärisch, aber auch politisch auf den Anschlag der Hamas reagieren wird. Die mit sich selbst ringende einzige Demokratie im Nahen Osten kann hierbei auf deutlich weniger Sympathie zählen als die USA bei 9/11.
Letztere haben durch Selbstüberschätzung, Alleingänge und die Missachtung des Völkerrechts viel Vertrauen verspielt. Israel sollte es besser machen.