Auf der Weltrangliste besetzen die französischen Streitkräfte den 13. Platz, weit hinter China oder den USA. Mit 580.767 Mann verfügt Frankreich jedoch über die größte Armee in der Europäischen Union und konnte 2011 13.000 Soldaten weltweit in den Einsatz schicken. Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats hat Frankreich außerdem einen bedeutenden Einfluss auf der internationalen Bühne. Dabei spielt der höchste Staatsvertreter insofern eine zentrale Rolle, als er gemäß Art. 15 der Verfassung der V. Republik der „Chef des armées“ ist. Daher ist zunächst verwunderlich, dass die künftige Ausrichtung der französischen Verteidigungspolitik bislang kaum, um nicht zu sagen keineswegs, Gegenstand der öffentlichen Debatte im Präsidentschaftswahlkampf ist.
Allgemeines Desinteresse
Spiegelt dies das Desinteresse der Wahlkampfkandidaten oder vielmehr der französischen Wähler wider? In den zahlreichen Fernseh- oder Rundfunksendungen, in denen die Präsidentschaftskandidaten wöchentlich auftreten, gehört diese Thematik bislang nicht zum Fragenkatalog der Journalisten. Für Verteidigungsfragen im weitesten Sinne interessieren sich die meisten Franzosen meist nur insofern als französische Soldaten Opfer von Kampfhandlungen wurden, etwa in Afghanistan. Nach einer im November 2011 durchgeführten Umfrage unterstützten 65 Prozent der Franzosen die Senkung der Verteidigungsausgaben. In der aktuellen Krise, in der Unternehmensverlagerungen, die Griechenland-Problematik und die eigene Staatsverschuldung die Schlagzeilen beherrschen, erwarten die Wähler verständlicher Weise eher wirtschafts- und finanzpolitische Lösungen als ein neues Verteidigungskonzept für Europa oder eine Neuorientierung der französischen Verteidigungspolitik.
De facto illustrieren Inhalt und Umfang der bisherigen Stellungnahmen der Kandidaten zur französischen Verteidigungspolitik unbestreitbar die Realität des Wahlkampfes, welcher von Polarisierung und einer Konzentration auf innenpolitische Themen gekennzeichnet ist. Symbolisch für das geringe Interesse der Kandidaten für Verteidigungsfragen steht die Haltung des Zentristen François Bayrou, dessen Besuch in Brest Ende Januar 2012 unter dem Zeichen der „défense nationale“ stehen sollte. Doch lenkte der Kandidat des Mouvement Démocratique (MoDem) auch diese Debatte letztendlich auf Wirtschafts- und Beschäftigungsfragen.
Ein klares Verteidigungsprojekt hat bisher nur François Hollande in seiner Rede vom 11.3.2012 formuliert. Wenig überraschend ist die Rhetorik des amtierenden Präsidenten und Kandidaten der konservativen Regierungspartei (UMP) Nicolas Sarkozy. Diese beinhaltet nicht die Formulierung weiterer Zielsetzungen, sondern versteht sich allein auf die Bilanzierung seiner bisherigen Amtszeit im verteidigungspolitischen Bereich. Da das Thema Verteidigung eng mit europapolitischen Fragen verknüpft ist, dürfte Sarkozy nach seiner stark europazentrierten Rede am 11.3.2012 in Villepinte in den kommenden Wochen verstärkt sicherheits- und verteidigungspolitische Themen zur Sprache bringen.
Welche Verteidigungspolitik können wir uns (noch) leisten?
In Zeiten der Schuldenkrise spielt die finanzielle Dimension der Verteidigungspolitik eine zentrale Rolle in der Diskussion. Das Jahresbudget des Verteidigungsministeriums belief sich 2011 auf ca. 31 Mrd. Euro, davon wurde etwa die Hälfte für Rüstungsmodernisierung ausgegeben. Allerdings ist das Ministerium immer häufiger mit Finanz- und Personalkürzungen konfrontiert. Im Zeitraum 2009-2015 sollen ca. 54.000 Stellen abgebaut werden, davon 2012 allein 8.550 Stellen. Nicolas Sarkozy räumt aber ein, dass das Verteidigungsbudget seit 2007 um 7,5 Prozent gestiegen sei, insbesondere auf dem Gebiet der Nachrichtendienste, deren Haushalt seit 2009 um 23 Prozent aufgestockt wurde. Die im April 2008 beschlossene und 2009 eingeleitete Kasernenneuverteilung, welche die Schaffung von 90 Verteidigungsstandorten als Ersatz für die bisherigen 471 Kasernen vorsieht, soll die Reform des nationalen Verteidigungskonzepts sowie die Finanzierung der Infrastrukturmodernisierung unterstützen.
Budgetkürzungen schließt der sozialistische Kandidat François Hollande nicht aus, doch dürften diese die Glaubwürdigkeit der „défense nationale“ nicht kompromittieren. Er betont, dass der Verteidigungshaushalt nicht das „Steuerungselement“ der Verteidigungspolitik werden dürfe. In seiner programmatischen Rede vom 11. März 2012 kündigte er ein neues Weißbuch an, das zu einer Neubewertung der gegenwärtigen Sicherheitsbedrohungen sowie der Anpassung der militärischen Instrumente führen soll.
Aus der Sicht des FN kommen Hollandes Vorschläge einer „erneuten“ Senkung des Verteidigungshaushalts (gegenwärtig 1,6 Prozent des BIP) gleich. Zu betonen ist hierbei, dass Marine Le Pen eine Haushaltserhöhung bis 2017 auf zwei Prozent des BIP ausdrücklich befürwortet. Der verteidigungspolitische Diskurs von Le Pen entspricht im Großen und Ganzen der Logik der Renationalisierung französischer Außenpolitik außerhalb des euro-atlantischen Blocks und propagiert die Neuorientierung der Aufgaben der Streitkräfte unter dem Schlagwort „Landesverteidigung“. Bisher jedoch konnten die Vorschläge von Le Pen weder die Aufmerksamkeit der Medien noch die der Öffentlichkeit auf sich lenken. Die vom FN gewünschte Haushaltserhöhung soll der Stärkung der Streitkräfte und der Modernisierung des inländischen Verteidigungsapparates dienen. Zudem soll die Entscheidung über den Personalabbau rückgängig gemacht werden, auch wenn konkrete Zahlen diesbezüglich nicht genannt worden sind.
Festzustellen ist, dass die drei wichtigsten Kandidaten – François Hollande, Marine Le Pen und Nicolas Sarkozy – die Notwendigkeit einer Erhöhung des Verteidigungsbudgets, implizit oder explizit, anerkennen. Man kann den Vorschlägen von Le Pen und Hollande insofern Glauben schenken, als Modernisierungsprojekte, wie beispielsweise der bereits beschlossene Bau des neuen Verteidigungsministeriums im Pariser Viertel Balard ohne Personalkürzungen im Verteidigungsministerium nicht durchgeführt werden könnten.
GSVP und NATO
Zur verteidigungs- und sicherheitspolitischen Bilanz des Kandidaten Sarkozy gehört nicht nur die heute kaum noch umstrittene Rückkehr in die integrierte Kommandostruktur der NATO, sondern auch die Dynamisierung der bilateralen Zusammenarbeit mit europäischen Partnern: Zu erwähnen ist diesbezüglich einerseits der französisch-britische Vertrag von Lancaster House, der u. a. zur wachsenden Truppeninteroperabilität führen und somit dem „Europa der Verteidigung“ neuen Elan verleihen soll; andererseits der im Juli 2011 in die Wege geleitete neue strategische Dialog zwischen Paris und Berlin.
Am bisherigen Kurs der gegenwärtigen Regierung übt François Hollande keine grundlegende Kritik und setzt sich also implizit für die Fortsetzung dieser Politik ein – ohne jedoch deren genaue Konturen zu beschreiben. Für die Wahlkampftaktik kaum relevante Unterschiede lassen sich jedoch benennen: Im Gegensatz zum amtierenden Präsidenten, der den Abzug der französischen Truppen aus Afghanistan bis Ende 2014 plant, verspricht der Sozialist den vorzeitigen Abzug der Kampftruppen bereits zum Ende des Jahres 2012. Im Einsatz sollen lediglich „nicht-kämpfende Truppen“ bleiben. Damit versucht Hollande eine Annäherung an den pazifistischen Flügel der sozialistischen Partei oder die Grünen, ohne jedoch die NATO-Solidarität infrage zu stellen.
Wandel durch Kontinuität – Kontinuität durch Wandel
Grundsätzlich vertreten beide Wahlkampffavoriten, François Hollande und Nicolas Sarkozy, aufgrund einer realistischen Einschätzung der Finanzlage und einer vergleichbaren Analyse der Sicherheitslage relativ ähnliche Positionen. Beide schätzen internationalen Terrorismus und den Rüstungswettlauf als Hauptbedrohungen ein. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem iranischen Atomprogramm. Allerdings steckt der Teufel im Detail: Diskutiert werden neben dem Zeitpunkt des Truppeabzugs aus Afghanistan auch die Bedingungen der NATO-Beteiligung, deren Kosten-Nutzen-Verhältnis es nach dem sozialistischem Kandidaten zu überprüfen gilt.
Zwei Vorschläge François Hollandes, welche für die Weiterentwicklung des deutsch-französischen strategischen Dialogs bedeutsam werden könnten, sind besonders hervorzuheben. Erstens möchte Hollande die Partnerschaft mit der Afrikanischen Union intensivieren, ganz im Sinne des im Juni 2011 veröffentlichten Afrika-Konzepts der Bundesregierung. Zweitens möchte er dem Parlament eine größere Bedeutung beimessen. Im Gegensatz zur heutigen Situation soll dem Parlament die Möglichkeit gegeben werden, alle Auslandseinsätze Frankreichs zu überprüfen. Von einer systematischen Parlamentarisierung der Verteidigungspolitik ist jedoch nicht die Rede. Im gegenwärtigen Wahlkampf, welcher – so scheint es – von einer „Strategie des Überbietens“ beherrscht wird, dürften weitere Vorschläge vom amtierenden Präsidenten nicht lange auf sich warten lassen.
Im Falle eines Wahlsiegs des sozialistischen Kandidaten wird die französische Verteidigungspolitik jedoch keinen grundlegenden Wandel erfahren. Die nicht auszuschließende Wahl Le Pens hingegen brächte der Verteidigungspolitik einen ganz neuen Impuls. Mit ihren beiden Konkurrenten der bürgerlichen Parteien hat die Kandidatin der Front national nur Eines gemein: die Wahrung der nationalen Unabhängigkeit.
Julien Thorel ist Dozent an der Université Cergy-Pontoise. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsch-französischen sicherheits- und verteidigungspolitischen Beziehungen und die deutsche Außenpolitik. Kontakt: Julien.Thorel@me.com