01. Nov. 2024

Sicherheit in Europa? Nicht ohne Amerika und Deutschland

Zitat_KK_Stelzenmüller

Amerika bleibt die „unverzichtbare Macht“ (indispensable power) in Europa, aber Amerika braucht auch Europa: Darin liegt die Grundlage für eine neue transatlantische Übereinkunft. Aber nur, wenn Deutschland wieder eine tragende Rolle spielt.

Manche Prophezeiungen treten gleich ein; andere zelebrieren einen etwas ausgedehnteren Spannungsbogen. Letzteres gilt auch für die Vorhersage des großen Amerika-Kenners Karl Kaiser, dass Amerika seine Rolle in der Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts reduzieren werde. Im Jahr 1992 war das kontraintuitiv, um nicht zu sagen contrarian: ein Einspruch gegen den etablierten Hoffnungskonsens. Denn nur drei Jahre zuvor hatte der liberale Historiker Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ ausgerufen; im selben Jahr kündigte der konservative Kommentator Charles Krauthammer Amerikas „unipolaren Moment“ an. Tatsächlich gründete die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik der nächsten Jahrzehnte auf diesen beiden Annahmen: dass nach dem Fall der Mauer und dem Verschwinden von Warschauer Pakt und Sowjetunion auch der Rest der Welt sich dem Siegeszug der marktwirtschaftlichen Demokratie anschließen würde – und dass Amerika nun für alle Zukunft die einzige Supermacht auf dem Globus sein würde.

Der reality check ließ nicht auf sich warten. Die Anschläge vom 11. September 2001, der Afghanistan-Einsatz, der Irakkrieg, die globale Finanzkrise, ein zunehmend aggressiv auftrumpfendes Russland und der raumgreifende Aufstieg Chinas führten zu einem außenpolitischen Paradigmenwechsel: In der Feststellung der Nationalen Sicherheitsstrategie der Regierung Biden von 2022, dass sich die USA in einem globalen strategischen Wettbewerb (strategic competition) um die Ausrichtung der internationalen Ordnung befinden, wird die Einsicht in die Unhaltbarkeit des Hegemonialstatus stillschweigend vollzogen. Umso größer wird dagegen die Bedeutung von demokratischen Verbündeten als Wertepartner und Kräfteverstärker Amerikas – erst recht in einer Welt, in der sich die autoritären Rivalen und Gegner der westlichen Demokratien zunehmend im Schulterschluss üben. Man könnte es idealistischen Realismus nennen.

Wie sorgfältig und klug Biden und seine Regierungsmannschaft Amerikas Bündnisse erneuert und erweitert haben, zeigte sich nach Russlands Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 in der engen Zusammenarbeit mit den Europäern (einschließlich der von der Vorgängerregierung verteufelten EU) und in der besonderen Umarmung Deutschlands. Gleichzeitig wurde vielen Europäern schlagartig bewusst, wie wenig sie ohne Amerika an ihrer Seite der russischen Aggression hätten entgegensetzen können. Nicht auszudenken, wie es ohne das gemeinsame Engagement heute um die Ukraine stünde.

Für Europa und Deutschland steht viel auf dem Spiel

Zwei Jahre später sind aber auch die Grenzen dieser neuen Rollenbestimmung deutlich sichtbar. Die Abkehr vom neoliberalen Freihandelskonsens ist transatlantisch weitgehend anschlussfähig; doch Washingtons Industrieprotektionismus und Exportkontrollen belasten die Allianz. Der Nahostkonflikt droht zu entgleisen; Russland ist von einer militärischen oder moralischen Niederlage weit entfernt; China entzieht sich der Einhegung. Die Auflösungserscheinungen der internationalen Ordnung sind offensichtlich.

Am 5. November hat sich Amerika unmissverständlich gegen eine Fortsetzung des Biden-Kurses mit der spät eingewechselten Kandidatin Kamala Harris entschieden – und für den diktatorenaffinen Wirtschaftsnationalismus von Donald Trump. Europa wird nun sehr viel mehr für die eigene Sicherheit tun müssen.

Es steht viel auf dem Spiel. Eine Nachbarschaft in Flammen, eine Welt in Unordnung, die Globalisierung unter Beschuss, eine unberechenbare Supermacht und autoritäre Großmächte, die nicht nur an den Rändern des Kontinents zündeln, sondern immer dreister in Europa und auch in seinen Mitgliedstaaten eingreifen: Da kommt es auf politischen Zusammenhalt und Handlungsfähigkeit an.

Ohne ein starkes Deutschland kommt Europa nicht voran

Womit wir, wieder einmal, bei Deutschland wären. Denn auch wenn inzwischen zwei Drittel aller NATO-Staaten mehr als zwei Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Verteidigung ausgeben; auch wenn Polen, die Balten und die Nordeuropäer mit deutlich entschiedeneren Investitionen in die Wehrhaftigkeit Europas voranschreiten; und auch wenn Ursula von der Leyen mit ihrer „geopolitischen Kommission“ nun in die zweite Runde geht: Ohne ein starkes, solidarisches Deutschland kommt Europa nicht schnell genug voran.

Karl Kaisers zweite Prognose von 1992 indes – dass Deutschland als „zögerlicher Spätankömmling“ (Helmuth Plessners „verspätete Nation“ lässt grüßen) auf eine Phase der Rollenexpansion zustrebe, im Bemühen, die Bandbreite seiner neuen Verantwortung zu definieren – verschwindet wohl gerade wieder im Rückspiegel. Bekanntlich wurde Fukuyamas These vom Ende der Geschichte in den 1990ern nirgends dankbarer aufgegriffen als in Deutschland. Und sie wurde auf besondere Weise interpretiert: als Erlösung von der eigenen Geschichte. Der „unipolare Moment“ Amerikas wurde bei uns verstanden als Einladung zur Abrüstung. Unter dem Motto „Kultur der Zurückhaltung“ hieß das unter anderem: Verkleinerung der Bundeswehr, Abwertung der Fächer Sicherheitspolitik und Osteuropakunde, Suspendierung der Wehrpflicht.

Dann aber trat doch so etwas wie ein deutscher Expansionsmoment ein. Die Berliner Republik, die ihre militärische Sicherheit an die USA, die Energiesicherheit an Russland und den Export- und Wachstumsmotor an China ausgelagert hatte und so einen massiven Zugewinn an Wohlstand, Sicherheit und internationalem Gewicht erlangt hatte, fand sich plötzlich in der Rolle des kontinentalen Hegemons wieder. 2014 versprachen der Bundespräsident, der Außenminister und die Verteidigungsministerin in abgestimmten Reden auf der Münchner Sicherheitskonferenz, Deutschland werde künftig mehr Verantwortung für Europas Sicherheit übernehmen. 

Zehn Jahre darauf ist – trotz Invasion der Ukraine und trotz Zeitenwende – das neue Selbstbewusstsein verflogen; stattdessen herrscht „Verstörung“, wie es der Journalist Jörg Lau beschreibt. Zu Recht. Denn sämtliche Grundkoordinaten der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik werden durch die aktuellen Krisen und Kriege infrage gestellt, während rechts- und linksnationale Extremisten am Gebäude der repräsentativen Demokratie sägen. Gleichzeitig betreibt Russland in Europa, und vor allem in Deutschland, eine Desinformations- und Sabotagekampagne sondergleichen; eine zweite Front in einem Krieg, der nie nur der Ukraine galt. Die Antwort einer heillos zerstrittenen Ampelkoalition, die ausgerechnet am Tag nach der US-Wahl zerbrach? Deutsche Sonderwege und europäische Entsolidarisierung.

Europa zu Amerikas „indispensable partner“ machen

Was also tun? In der Sicherheitspolitik gilt: Europa braucht auf absehbare Zeit den amerikanischen Verbündeten. Künftige US-Regierungen (ganz gleich welcher Ausrichtung) werden Europa als militärischen Bündnispartner aber nur noch ernst nehmen, wenn es noch viel mehr tut für die eigene Wehrhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit.

Im „nichtkinetischen“ Bereich des globalen strategischen Wettbewerbs wissen jedenfalls die Strategen der Demokraten, dass Europas Wirtschafts- und Normsetzungsmacht vor allem in der Auseinandersetzung mit China ein gewaltiger Kräfteverstärker ist. Und noch gibt es auch Republikaner wie Wess Mitchell (Europabeauftragter des State Department unter Präsident Trump), die Europa deswegen für einen unverzichtbaren Verbündeten halten.   

Bloß: Diese Rolle kann Europa nur dann einnehmen, wenn es mit einer Stimme spricht, und seine Werte und Interessen aktiv verteidigen kann. Hier liegt heute also Deutschlands neue Verantwortung: Europa stark machen, damit es Amerikas indispensable partner bleiben kann.
 

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ und enthält keine Fußnoten. Die vollständige Version inklusive Fußnoten können Sie oben im PDF bzw. über das E-Book aufrufen.

Bibliografische Angaben

Stelzenmüller, Constanze. “Sicherheit in Europa? Nicht ohne Amerika und Deutschland.” German Council on Foreign Relations. November 2024.

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ .

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