In einer Zeit, in der internationale Kooperation zunehmend infrage gestellt wird und isolationistische Tendenzen erstarken, steht Europa vor einer entscheidenden Herausforderung: Es muss seine Position in der Weltpolitik neu definieren und seine eigene Stärke festigen. Die transatlantische Partnerschaft, einst ein verlässlicher Pfeiler europäischer Sicherheit und wirtschaftlicher Stabilität, gerät unter Druck. Europa muss eigenständige Strategien entwickeln, um wirtschaftliche Resilienz, militärische Sicherheit und politische Einheit zu gewährleisten. Seine Zukunft hängt davon ab, ob es diese Krise als Chance nutzt, seine innere Kohäsion zu stärken und als globale Gestaltungsmacht aufzutreten.
Die Europäische Union wird in einem sich profund verändernden geopolitischen und geoökonomischen Umfeld zunehmend zum schwächeren Akteur. Während die USA und Asien wirtschaftlich dynamisch wachsen, verliert die EU an Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftskraft, was ihren wichtigsten Machtfaktor schwächt. Auch die Stabilität in ihrer Nachbarschaft, auf die die EU lange bauen konnte, ist nicht mehr gegeben. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine muss die europäische Sicherheitsordnung neu definiert werden. Die europäischen Staaten sind gezwungen, mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen, insbesondere da die USA ihre außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten auf den Indopazifik und China verlagern.
Auch wenn sich Europa in einer schwierigen Lage befindet und die Herausforderungen groß sind: Die Jahre 2024 und 2025 bieten der EU eine entscheidende Gelegenheit, ihre internationale Rolle neu zu gestalten. Die neue Europäische Kommission hat ihre Arbeit aufgenommen, Mark Rutte wurde im Oktober 2024 zum NATO-Generalsekretär ernannt, und im Januar 2025 wird Donald Trump zum zweiten Mal in das Weiße Haus einziehen und als Präsident die Geschicke der mächtigsten westlichen Nation leiten. In einem geoökonomisch und geopolitisch konfliktreicheren Umfeld muss sich Europa als internationaler Akteur stärker positionieren und einen deutlich größeren Beitrag zur transatlantischen Partnerschaft leisten. All dies wird die europäischen Staaten mehr kosten und politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger sind mehr denn je gefragt zu erklären, warum ein größeres Engagement notwendig ist.
Wie Europa in diese neue Phase geht
Um die eigenen Interessen in ihrer Nachbarschaft und weltweit stärker zu vertreten und um für relevante Staaten ein verlässlicher und starker Partner zu sein, muss die EU sich deutlich weiterentwickeln. Seit etwa 15 Jahren reagiert die Union auf Krisen, die bei ihrer Gestaltung nicht antizipiert worden waren und für die sie kein ausreichendes Instrumentarium hat. In sicherheitspolitischer Hinsicht besteht in Russlands Angriff die größte Herausforderung. Bereits in den Jahren zuvor stellte allerdings US-Präsident Donald Trump die transatlantische Allianz in Form der NATO infrage, setzte Deutschland und Europa wirtschaftspolitisch unter Druck und reduzierte die Unterstützung der USA für internationale Organisationen deutlich. Mit Trumps Amtsübernahme entsteht erneut Unsicherheit, etwa ob die NATO-Beistandsklausel glaubwürdig ist und wie die Unterstützung für die Ukraine aufrechterhalten werden kann, wenn die USA ihren Beitrag deutlich reduzieren. Heute geht es zudem darum, der neuen Trump-Regierung glaubhaft zu versichern, dass Europa einen stärkeren Beitrag leistet – nicht nur zur eigenen Sicherheit auf unserem Kontinent, sondern auch in Weltregionen, wie insbesondere Asien, wo die USA ihre Interessen immer stärker unter Druck sehen.
Dabei kann Europa durchaus auf wichtige Entwicklungen der vergangenen Jahre verweisen: 2017 begann in der EU die strukturierte Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigungspolitik (PESCO), der mittlerweile 26 EU-Mitgliedstaaten angehören sowie Großbritannien, Norwegen, die USA, Kanada und die Schweiz als Drittstaaten an PESCO-Projekten mitwirken. Die PESCO zielt darauf ab, Verteidigungslücken zu schließen und Ressourcen besser zu nutzen.
Sehr rasch reagierten die EU-Staaten, als Russland am 24. Februar 2022 die Invasion der gesamten Ukraine begann: Sie vereinbarten militärische und finanzielle Unterstützung, verhängten koordiniert mit den USA und anderen Partnern umfassende Sanktionspakete gegen den Aggressor und reduzierten Schritt für Schritt die Abhängigkeit von russischen fossilen Energieimporten. Eine gemeinsame Gaseinkaufsplattform bündelt die europäische Marktmacht, wie bei der koordinierten Impfstoffbeschaffung in der Corona-Krise.
Gleichzeitig entwickelte sich dabei auch ein neuer Blick auf China. Europa schützt eigene Interessen mittlerweile besser, wenngleich es das enge wirtschaftliche Verhältnis weiter braucht. Ein Beispiel für ein neues Risikomanagement ist das Screening von ausländischen Direktinvestitionen, mit dem Vulnerabilität in kritischen Wertschöpfungsketten verhindert werden soll, ein anderes ist der Ausbau von Rohstoffpartnerschaften, um einseitige Abhängigkeiten von China zu reduzieren. Auch im Bereich der Gesundheit überprüft Europa Verflechtungen viel kritischer. Die EU hat also aus den vergangenen Krisen gelernt und sich im Zuge des Krisenmanagements neue Instrumente angeeignet.
Innere Herausforderungen und institutionelle Hemmnisse
Diese Fortschritte sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU sich auch intern deutlich stärken muss. Eine ihrer zentralen Entscheidungsschwächen ist die Einstimmigkeitsregel in der Außen- und Sicherheitspolitik, die oft schnelle Entscheidungen verhindert. Zwar hat die Union bei der Unterstützung der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland Einigkeit gezeigt, aber bei anderen außenpolitischen Themen, wie dem Nahostkonflikt oder den Beziehungen zu China, herrscht Uneinigkeit unter den Mitgliedstaaten.
Es ist unwahrscheinlich, dass das Mehrheitsprinzip in diesen Fragen bald eingeführt wird, da viele Staaten ihr Vetorecht behalten wollen. Wahrscheinlicher ist, dass kleinere Gruppen von EU-Staaten vorangehen werden. Zudem muss das neue EU-Führungstrio – Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Ratspräsident António Costa und die Hohe Vertreterin Kaja Kallas – besser koordiniert auftreten, um die internationale Wirkkraft der EU zu stärken.
Das internationale Gewicht der EU hängt zudem stark von ihrer Wirtschaftskraft ab. Der Krieg in der Ukraine und seine Folgen, insbesondere steigende Energiepreise, haben die wirtschaftlichen Schwächen der EU verschärft und die Attraktivität Europas für energieintensive Industrien beeinträchtigt. Gleichzeitig sind durch die Pandemie und den Krieg unterbrochene Lieferketten weiterhin ein Problem, das die Produktion vieler europäischer Unternehmen hemmt.
Europas Abhängigkeit von Energie- und Rohstoffimporten aus Russland und China birgt wirtschaftliche Risiken. Diese Abhängigkeiten, in Verbindung mit den industriestrategischen Maßnahmen Chinas und der USA, verschärfen die Lage. Der Inflation Reduction Act (IRA) der USA und chinesische Subventionen für Schlüsseltechnologien wie erneuerbare Energien verzerren den Wettbewerb und belasten Europa zusätzlich. Mit Trumps absehbarer Rückkehr in das Weiße Haus droht Europa nun ein neues Kapitel handelspolitischer Spannungen: Seine Regierung könnte flächendeckende Zölle von 10 Prozent auf alle Einfuhren sowie Zölle von 60 Prozent auf Importe aus China erheben. Auch im Bereich der Halbleiterproduktion bleibt Europa hinter den USA und Asien zurück, trotz des European Chips Act von 2022. Europa benötigt eine neue wirtschafts- und technologiepolitische Agenda, um wettbewerbsfähig zu bleiben und seine globale Position zu behaupten.
Rechtsstaatlichkeit als schützenswertes Gut
Ein weiteres ernstes Problem für die EU ist die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedstaaten wie Ungarn und Polen. Die politischen Eingriffe in Justizinstitutionen und Einschränkungen der Pressefreiheit bedrohen den Zusammenhalt der EU und ihre Glaubwürdigkeit nach außen. Der Regierungswechsel in Polen, wo Donald Tusk im Oktober 2023 nach achtjähriger Amtszeit der rechtspopulistischen PiS-Regierung wieder an die Macht kam, gibt Hoffnung auf eine Verbesserung. Aber der Weg zurück zu einer funktionierenden Demokratie ist schwierig.
Die Erosion der Rechtsstaatlichkeit beeinflusst auch den EU-Erweiterungsprozess und die internationale Strahlkraft der Union. Es wird zunehmend schwerer, Beitrittskandidaten hohe rechtsstaatliche Standards abzuverlangen, während bestehende Mitglieder diese selbst untergraben. Um die Rechtsstaatlichkeit zu schützen, sollte die Haushaltskonditionalität auf den EU-Haushalt ausgeweitet werden, und im Falle einer Vertragsreform sollte Artikel 7 EUV geändert werden, um den Aktivierungsmechanismus zu vereinfachen. Zudem sollten automatisierte Reaktionen auf schwerwiegende Verstöße gegen die Grundwerte der Union eingeführt werden.
Ausblick: Resilienz und Rückhalt
Karl Kaisers Analyse bleibt aktuell: „Die EU wird nur begrenzt als weltpolitischer Akteur wahrgenommen“, obwohl die Aufgaben, die die EU international zu bewältigen hat, deutlich gestiegen sind. Wenn sie international neue Partnerschaften entwickeln, ihre Sicherheit auch gegenüber übergriffigen Autokratien verteidigen und das globale Ordnungssystem weiterentwickeln will, muss die Union ihre Resilienz in demokratischer, institutioneller, wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht stärken. Auch eine gemeinsame Stärkung der Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der NATO gehört dazu. Nur so kann die EU den wachsenden Druck von außen, auch aus den USA, bewältigen und sich als internationaler Akteur behaupten.
Das wird allerdings nur funktionieren, wenn der gesellschaftliche Rückhalt hergestellt wird, was erfordert, dass die vielfältigen inneren und äußeren Herausforderungen ehrlich benannt und adäquate, sprich auch anspruchsvolle Antworten entwickelt werden. Es ist wichtig, dass der Bevölkerung ganz im Sinne Karl Kaisers vermittelt wird, wie wichtig Investitionen in eine nach innen wie außen starke Europäische Union sind.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buch „Wege in die Zukunft: Perspektiven für die Außenpolitik: Zum 90. Geburtstag von Karl Kaiser“ . Die vollständige Version können Sie oben im PDF bzw. über das E-Book aufrufen.