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22. März 2012

Mittelmeer und arabischer Raum: Primat der Innenpolitik

Präsidentschaftswahlkampf 2012 in Frankreich

Außenpolitik hat es schwer in Zeiten der Krise. Wie andernorts gilt dies auch für den französischen Präsidentschaftswahlkampf, der ins vierte Jahr der Wirtschaftskrise fällt. Und es gilt – dies mag verwundern – sogar für eines der wichtigsten außenpolitischen Themen des vergangenen Jahres, das für Frankreich traditionell von besonderer Bedeutung ist: die Mittelmeerpolitik und die Beziehungen zum arabischen Raum.

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Im Jahr 2007 hatte das Thema noch ganz oben auf der Agenda des Wahlkämpfers Nicolas Sarkozy gestanden. Mit seiner Initiative einer Union der Mittelmeeranrainerstaaten wollte sich Sarkozy als Außenpolitiker profilieren und den traditionellen Führungsanspruch Frankreichs im Mittelmeerraum unterstreichen. Dass das Thema trotz der Angreifbarkeit des amtierenden Präsidenten angesichts der schwachen Bilanz seiner Mittelmeerunion und der viel kritisierten Passivität Frankreichs während der Umbrüche in Tunesien bislang nicht zum Wahlkampfsthema avancierte, hat unterschiedliche Gründe: Neben der außenpolitischen Unerfahrenheit der meisten Konkurrenten Sarkozys, die ihren Wahlkampf auf wirtschafts- und sozialpolitische Themen ausrichten, spielen vor allem der parteiübergreifende Konsens über Frankreichs Rolle in der Region und die parteiinternen Differenzen über einzelne Aspekte der Mittelmeerpolitik eine Rolle. Dennoch trügt der Eindruck, dass das Thema Mittelmeerpolitik eine Leerstelle im Präsidentschaftswahlkampf 2012 darstellt: Es gewinnt immer dort an Bedeutung, wo es wahlkampfrelevante innenpolitische Themen wie Migration und Identität, aber auch die Agrar- oder Industriepolitik berührt.

Die Parteien meiden das Thema

Wenn die Rolle Frankreichs in der Mittelmeerregion in Reden und Programmen der Kandidaten Erwähnung findet, herrscht weitgehende Einigkeit: Das besondere französische Engagement in der südlichen Nachbarschaft müsse „weiterentwickelt“ werden (PS), Frankreich „Hauptakteur“ der internationalen Kooperation auf dem Weg zum Frieden in der Region bleiben (Europe-Écologie Les Verts). Vom Jahr der „Neugründung der Union für das Mittelmeer“ spricht gar Nicolas Sarkozy mit Bezug auf das Wahljahr 2012. Und auch die militärische Intervention in Libyen dient kaum als Gegenstand wahlkämpferischer Auseinandersetzungen, hatten doch – mit Ausnahme der extremen Rechten und Linken – alle Parteien den bewaffneten Einsatz gegen das Gaddafi-Regime unterstützt. Die Gelegenheit, zwar nicht das „ob“, doch aber das „wie“ des französischen Einsatzes in Frage zu stellen, hat insbesondere die Sozialistische Partei bereits in der Parlamentsdebatte im Juli 2011 verpasst. Erst im Wahlkampf vorgebrachte Kritik am Vorpreschen Frankreichs jenseits der Bündnisse von NATO und EU würde daher wenig glaubwürdig erscheinen.

Hinzu kommt, dass zumindest die beiden größten Parteien in ihrer Position zu einzelnen Aspekten der Mittelmeer- und Nahostpolitik intern gespalten sind. Ein Beispiel hierfür ist die Haltung zum Nahostkonflikt, der alle Entwicklungen im arabischen Raum beeinflusst und über die Wirksamkeit jeglicher Mittelmeerinitiative mitentscheidet. Zwar sprechen sich Sozialisten wie Konservative grundsätzlich für die Gründung eines Palästinenserstaates aus, doch herrschen über die Ausgestaltung des Prozesses parteiinterne Differenzen. Sowohl die UMP, in der pro-arabische Kräfte in der Tradition De Gaulles ebenso vertreten sind wie transatlantische, israelfreundliche Strömungen, als auch die Sozialisten, unter denen eine traditionell linke Unterstützung für Palästina einer Nähe zu Israel in der Tradition Mitterrands gegenübersteht, ziehen es vor, das Thema im Wahlkampf zu meiden. Ähnliches gilt für die brisante Frage der französischen Haltung gegenüber einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Hier schwankt der PS zwischen einer grundsätzlichen Befürwortung einer kulturell und religiös pluralistischen EU und einer zurückhaltenden Position angesichts der Handhabung der Menschen- und Minderheitenrechte in der türkischen Gesellschaft, insbesondere in der Armenier-Frage. Im Wahlprogramm François Hollandes findet sich daher kein Hinweis auf die Türkei-Frage. Die ablehnende Haltung der UMP gegenüber einem türkischen EU-Beitritt ist innerparteilich wenig umstritten und Teil des Wahlprogramms, doch zeugt die offene Kritik von Außenminister Juppé an dem UMP-getragenen Armeniergesetz von Differenzen in der Türkeifrage auch in der konservativen Regierungspartei.

Zu konsensuell im Hinblick auf das französische Selbstverständnis gegenüber der Mittelmeerregion, zugleich in einzelnen Punkten parteiintern umstritten – die Mittelmeerpolitik eignet sich im Gegensatz zum Jahr 2007 nicht als eigenständiges Thema des Präsidentschaftswahlkampfs 2012. Jenseits bekannter Floskeln finden sich in den Wahlprogrammen keine Vorschläge für eine Neuausrichtung der Mittelmeerpolitik nach dem Arabischen Frühling, kein strategischer Ansatz im Nahostkonflikt und keine Lösung für die von Frankreich mitverschuldete Blockade des türkischen EU-Beitrittsprozesses. Dennoch darf nicht verkannt werden, dass das Thema eine wichtige Folie für die Auseinandersetzung um vermeintlich rein innenpolitische Themen bildet. 

Innenpolitische Relevanz

Die kontroversen Wahlkampfdebatten um das Thema Immigration stehen insbesondere dann in einem unmittelbaren Zusammenhang zu Fragen der Mittelmeerpolitik, wenn es um den Umgang mit illegalen Einwanderern, die Frage der Familienzusammenführung oder das Bleiberecht von ausländischen Studenten geht. Die neue Dynamik in der Debatte um die Rückführung illegaler Einwanderer stellt ebenso wie die Ankündigung Nicolas Sarkozys einer möglichen Aussetzung des Schengen-Vertrags durch Frankreich eine Reaktion auf die Polemik um die Einreise illegaler Flüchtlinge aus Nordafrika über Italien nach Frankreich dar. Wie die ungelöste Frage des Umgangs mit illegalen Einwanderern verweisen auch die Debatten um Familienzusammenführung und Bleiberecht für Studenten, die insbesondere Migranten aus Frankreichs ehemaligen nordafrikanischen Kolonien betreffen, auf das Fehlen einer kohärenten langfristigen Mobilitätsstrategie zwischen Frankreich und dem französischsprachigen Maghreb.

Eng verknüpft mit dem Thema Immigration ist eine zweite, vermeintlich innenpolitische Debatte, in der dennoch die Frage des französischen Verhältnisses zu den Ländern Nordafrikas insbesondere nach dem Arabischen Frühling anklingt: der Umgang mit dem Islam in der französischen Gesellschaft. Die von den Parteien des rechten Lagers wiederholt vorgetragene Sorge eines wachsenden Einflusses muslimischer Einwanderer auf das gesellschaftliche Leben Frankreichs prägte die Wahlkampfdebatte um das Kommunalwahlrecht von Ausländern und kulminierte in einer Polemik um Halal-Fleisch in Schulkantinen. Genährt wurde die Debatte durch die Hypothese einer reaktionären Orientierung muslimischer Einwanderer in Frankreich, die insbesondere angesichts der politischen Neugestaltung im Maghreb zum Ausdruck komme: Alarmiert reagierten Vertreter des rechten Spektrums und konservative Medien auf den Erfolg der islamischen Partei Ennahda unter tunesischen Einwanderern in Frankreich und leiteten daraus die Gefahr einer schleichenden Islamisierung muslimisch geprägter französischer Gemeinden ab. Der traditionell wahlkampfrelevante Diskurs um das Thema Laizität steht daher im Jahr 2012 mehr denn je im Zeichen einer notwendigen Grundsatzdiskussion um die Frage des Umgangs der französischen Politik mit dem Islam im innen- wie außenpolitischen Kontext. Eine adäquate Antwort jenseits der Warnungen vor „Kommunitarismus“ und „Islamisierung“ in Frankreich wie in Nordafrika, wie sie UMP und FN im Wahlkampf regelmäßig wiederholen, bleiben jedoch alle Kandidaten bislang schuldig.

Doch nicht nur auf dem Feld der Gesellschaftspolitik bildet das Thema Mittelmeer eine Folie für andere Wahlkampfdebatten. Auch in Kontroversen zur Wirtschafts- und Industriepolitik schwingt die Thematik mit, beispielsweise wenn es um die Frage des Schutzes französischer Agrarproduzenten vor ausländischer Konkurrenz und den Abbau von Exportsubventionen für Agrargüter geht. Ähnlich wie Jean-Luc Mélenchon verspricht François Hollande einen Schutz der französischen Bauern vor „illoyaler Konkurrenz“ aus dem Ausland, während Nicolas Sarkozy die Forderung der Grünen nach einem Abbau von Exportsubventionen für Agrarprodukte kritisiert und darauf dringt, den französischen Agrarsektor nicht „der Ideologie zu opfern“. Gleichzeitig kündigt die EU-Kommission in ihrer neuen Strategie gegenüber dem Mittelmeerraum eine Agrarpartnerschaft der EU mit den südlichen Mittelmeerländern an, die weitgehende Liberalisierungen umfasst. Spätestens hier wird deutlich, dass die Widersprüche zwischen den Ankündigungen der Kandidaten zur Agrarpolitik und einer künftigen Mittelmeerpolitik zur Unterstützung und Stabilisierung der südlichen Nachbarschaft reichlich Sprengstoff bergen. Ähnlich gelagert zeigt sich der Fall einer Wahlkampfpolemik um die Eröffnung eines Renault-Werks im marokkanischen Tanger. Obwohl der Aufbau des Produktionsstandorts der von Hollande proklamierte Strategie eines „Kampfs gegen die Arbeitslosigkeit“ in den nordafrikanischen Staaten ebenso entspricht wie den Ankündigungen anderer Kandidaten der politischen Mitte zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung der Maghreb-Länder, siegt erneut der kurzfristige innenpolitische Nutzen in Form von Wählerstimmen über den Anspruch einer langfristigen Strategie in der Mittelmeerpolitik.

Neue Dynamik vor dem zweiten Wahlgang

Zwar beeinflusst das Thema Mittelmeerpolitik also die Debatten in unterschiedlichen Bereichen des Wahlkampfs, doch spielt es darin bislang keine eigenständige Rolle. Es ist jedoch möglich, dass das Thema vor dem zweiten Wahlgang an Präsenz gewinnt. Zu diesem Zeitpunkt haben die beiden Vertreter von PS und UMP als wahrscheinliche Kandidaten der Stichwahl ihre Mitbewerber der kleineren Parteien distanziert, die ihren Wahlkampf in erster Linie auf innenpolitische Themen fokussiert haben und diese damit ins Zentrum des ersten Wahlgangs rückten. Zudem war die erste Amtszeit Nicolas Sarkozys stark außenpolitischen geprägt. Seine größten Erfolge kann er auf internationalem Parkett nachweisen, darunter die Aushandlung eines Friedensplans in Georgien und der Libyen-Einsatz, der zum Ende des Gaddafi-Regimes beitrug. In der direkten Konfrontation mit seinem außenpolitisch unerfahrenen, sozialistischen Herausforderer wird Sarkozy daher versuchen, den Trumpf seiner außenpolitischen Kompetenz auszuspielen.

Und auch, wenn konkrete außenpolitische Themen angesichts der Wirtschaftslage nicht zu den Prioritäten der französischen Wählerschaft zählen, ist die Außenpolitik in Frankreich dank des Prinzips der „domaine réservé“ traditionell ein wichtiges Zeichen der Präsidiabilität eines Kandidaten: Nur wer Frankreichs Anspruch als globaler Akteur auf der internationalen Bühne und insbesondere im traditionell so wichtigen Mittelmeerraum glaubwürdig zu vertreten weiß, gilt vielen Franzosen als geeigneter Kandidat für das höchste Staatsamt.

Katrin Sold ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Programms Frankreich / deutsch-französische Beziehungen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). 

Bibliografische Angaben

Sold, Katrin. “Mittelmeer und arabischer Raum: Primat der Innenpolitik .” March 2012.

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