Online Kommentar

02. Juni 2021

Holt deutsche IS-Kämpfer aus Syrien zurück!

Der Rechtsstaat trägt Verantwortung für deutsche IS-Kämpfer. Ihre Rückkehr ist aber auch aus Sicherheitsgründen sinnvoll: um weitere Radikalisierung zu verhindern.

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Abdullah H.s Opfer waren homosexuell, für diese "schwere Sünde" habe er sie bestrafen wollen, so lautet die Anklage. Im Oktober 2020 hatte der damals 20-jährige Syrer in Dresden zwei Männer mit einem Messer angegriffen und einen von beiden getötet. Nun läuft vor dem Oberlandesgericht Dresden der Prozess gegen H. Er ist angeklagt wegen Mordes, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung. 

Wie konnte es nur so weit kommen? Es waren doch alle gewarnt.

Schon 2017 war H. als islamistischer Gefährder eingestuft worden. Bis fünf Tage vor dem Messerangriff hatte er unter anderem wegen Unterstützung des sogenannten Islamischen Staats (IS) in Haft gesessen. Seit seiner Entlassung wurde er überwacht. Sachsens Verfassungsschutzobservierte H. sogar am Tattag – aber nicht rund um die Uhr. 

Also: Wie konnte es so weit kommen? Weil Islamisten in Deutschland natürlich ein Risiko bedeuten können. Selbst wenn sie, wie Abdullah H. während seiner Haft, an Deradikalisierungsprogrammen teilnehmen und mit großem Aufwand überwacht werden. Absolute Sicherheit kann es nicht geben. Sicher ist nur: An den Gedanken werden sich die Deutschen gewöhnen müssen. 

Denn noch immer sitzen etwa 230 Deutsche, die sich dem IS in Syrienund dem Irak angeschlossen hatten, nach dessen militärischer Niederlage in notdürftigen Lagern der kurdischen Autonomieregierung in Nordsyrien fest. Bis auf Einzelfälle weigert Deutschland sich, sie zurückzuholen – und setzt sich damit selbst ins Unrecht. Spätestens nach dem Ende des generellen Stopps der Abschiebung von Gefährdern nach Syrien stellt sich umso hartnäckiger die Frage, warum Deutschland bei syrischen und deutschen Gefährdern mit zweierlei Maß messen möchte: Die einen sollen in ihr Heimatland zurückkehren, die anderen nicht.

Und doch erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) Anfang 2019, er "möchte keine gefährlichen Leute aufnehmen, wenn wir nicht die Sicherheit gewährleisten können, dass wir sie hier zum Beispiel wieder in Haft nehmen können, weil sie mit einem Haftbefehl gesucht werden". In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen im Juli 2020 heißt es zwar, man arbeite "daran, deutschen Staatsangehörigen, insbesondere Waisen und kranken Kindern aus Lagern im Nordosten Syriens (...), die Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen. Die hierfür nötige Lokalisierung und Identifizierung deutscher Staatsangehöriger gestaltet sich jedoch im Einzelfall schwierig." Konkret heißt das, dass eine Rückführung ohne Haftbefehl nicht in Betracht kommt. Und dass die Rückführung von Kindern im Einzelfall geprüft wird. 

Dadurch nimmt die Regierung Jahr für Jahr unhaltbare Zustände in den Lagern, die Verletzung von Menschenrechten und die weitere Ideologisierung von Kindern in Kauf. Obwohl eine Rückführung ehemaliger IS-Kämpfer auch langfristig das Wiedererstarken der Terrorgruppe verhindern könnte, zieht sich auch das Außenministerium unter Heiko Maas (SPD) nach wie vor mit Verweis auf logistische Schwierigkeiten und die mögliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus der Affäre. Aber je länger die Rückholung hinausgezögert wird, desto schwerwiegender sind die möglichen Folgen – nicht nur für die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik als Verteidigerin internationaler Menschenrechte, sondern auch für die effektive Bekämpfung von islamistischem Terrorismus.

Vier Jahre nach dem militärischen Sieg über den IS befinden sich von den 1070 Deutschen, die sich dem IS angeschlossen hatten, noch mehr als 70 Erwachsene und etwa 150 Kinder in den Lagern der kurdischen Selbstverwaltung. Nach den Franzosen sind sie dort die zweitgrößte Gruppe von Europäern. Bisher hat Deutschland keine Rückführungsstrategie und verweist auf die fehlende konsularische Vertretung in Syrien. Andere europäische Länder verhalten sich ähnlich: Frankreich und Großbritannien argumentieren, dass ihre Staatsbürger dort verurteilt werden sollten, wo sie Straftaten begangen hätten. Auch auf Komplikationen wegen der Corona-Pandemie wird verwiesen. 

Kurz vor Weihnachten 2020 hatte die Bundesregierung allerdings drei deutsche Frauen, deren fünf Kinder sowie sieben Waisen zurückgeholt. Laut Außenminister Maas war der Grund vor allem die besondere Schutzbedürftigkeit der Kinder. Die bisherige Argumentation wirkt dadurch wenig glaubhaft. Die Verweigerung der Rückführung ist aber auch aus anderen Gründen problematisch. Die katastrophalen Zustände in den Lagern sind mittlerweile gut dokumentiert. Kinder wachsen dort in Kälte, Schmutz und Hunger auf. Auch UN-Menschenrechtsexperten haben "ernsthafte Bedenken angesichts der sich verschlechternden Sicherheits- und humanitären Lage" geäußert und unter anderem Deutschland zur Rückführung aufgefordert. Außerdem werden in den Lagern deutsche Staatsangehörige ohne formelle Anklage oder Rechtsbeistand festgehalten. 

Einige Völkerrechtsexperten betonen, dass Staaten rechtlich zur Rückführung verpflichtet seien, und weisen auf die Verstöße gegen humanitäres Völkerrecht, internationales Menschenrecht und die Kinderrechtskonvention hin. Gleichzeitig zweifeln manche Länder diese Einschätzung an.

Tatsächlich sprechen aber auch Sicherheitsbedenken für eine schnelle Rückführung deutscher Staatsbürger. Immer wieder konnten Personen aus den Lagern entkommen. Frauen, die versuchen, sich vom IS zu distanzieren, werden angegriffen. Die Zustände in den Lagern sind auch ein fruchtbarer Nährboden für die dschihadistische Sozialisierung von Kindern. Sie gelten somit als "Rekrutierungspool für IS-Terroristen", so eine Analyse der Stiftung für Wissenschaft und Politik. Durch ihre Untätigkeit spielt die Bundesregierung der IS-Propaganda in die Hände. Radikalisierungsprozesse sind komplex, aber um zu verhindern, dass diese Kinder sich im Stich gelassen fühlen und einige zur nächsten Generation von Terroristen werden, muss die Regierung handeln. Die vom IS geplanten und verübten internationalen Anschläge zeigen, dass Deutschland nicht egal sein kann, was in Syrien passiert.

Natürlich sind die Sicherheitsbedenken in Bezug auf Erwachsene durchaus berechtigt. Nur in wenigen Fällen gibt es genug Beweise für einen Haftbefehl, die Mehrheit der Rückgeführten bliebe also erst einmal auf freiem Fuß. Stand Februar 2021 gibt es fast 600 islamistische Gefährder in Deutschland: Personen, denen Sicherheitsbehörden quasi jederzeit einen Anschlag zutrauen. Auch einige der Rückkehrenden würden sicherlich in diese Kategorie fallen – für Polizei und Verfassungsschutz hieße dies hohe Kosten und viel Aufwand. Für die Dauerüberwachung können in manchen Fällen 30 Beamte notwendig sein.

Auch Programme, die Menschen bei ihrem Ausstieg aus extremistischen Gruppen unterstützen, kosten Geld, können jedoch keinen Erfolg garantieren – das hat der Fall Abdullah H. in Dresden gezeigt. Aber sollen wir dieses Risiko den Kurden überlassen, die schon genug unter dem IS gelitten haben? Letztlich muss Deutschland seine rechtsstaatliche Verantwortung übernehmen, so wie es auch von anderen Ländern eine Rücknahme ihrer Gefährder verlangt. 

Die Bundesrepublik ist trotz aller vorgeschützten Gegenargumente in der Lage, ihre Staatsangehörigen aus Nordsyrien zurückzuholen. Sie sollte daher jetzt deren Rückführung organisieren, angefangen mit allen Minderjährigen. Das haben Ende März auch die Grünen im Bundestag gefordert. 

Das zweite Ziel müssen ordentliche Gerichtsverfahren sein. Die Opfer des IS verdienen Gerechtigkeit und eine Aufarbeitung der Verbrechen. Bisherige Erfahrungen haben gezeigt, dass deutsche Gerichte durchaus in der Lage sind, Zurückgekehrte zu verurteilen, auch wenn die Beweisführung schwierig ist. Deutschland sollte noch stärker auf internationale Zusammenarbeit und Institutionen wie Unitad bauen, ein Investigativteam der UN, das die Verbrechen des IS untersucht, um die entsprechenden Personen verantwortlich machen zu können. 

Das dritte Ziel: Rehabilitation und Reintegration. Deutschland kann auf eine vielfältige und lokal verankerte Präventionslandschaft zurückgreifen. Langfristig muss Rückkehrenden geholfen werden, eine neue Perspektive in unserer Gesellschaft zu finden.

Natürlich sind einige Fragen offen, zum Beispiel wie viele der Rückkehrenden sich von der Ideologie des IS losgesagt haben und wie viele in Deutschland den Ausstieg schaffen. Aber es ist nun mal die Aufgabe unserer Sicherheitsbehörden, das Risiko durch einen radikalisierten Rückkehrer oder eine Rückkehrerin richtig einzuschätzen und Anschläge zu verhindern.

Die Bundesregierung sollte auch das positive politische Signal nicht unterschätzen, das sie durch die Rückführung aller deutschen Staatsangehörigen aus Nordsyrien setzen würde: Sie würde damit zeigen, dass sie glaubwürdig für internationales Recht eintritt, sicherheitspolitisch Verantwortung für ihre Staatsbürger übernimmt und islamistischen Extremismus und Terrorismus nachhaltig bekämpft.

Bibliografische Angaben

Koller, Sofia. “Holt deutsche IS-Kämpfer aus Syrien zurück!.” June 2021.

Dieser Text wurde zuerst am 05. Mai 2021 von Zeit veröffentlicht. 

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